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Schweizer Beiträge zur Kulturgeschichte und Archäologie des Mittelalters Herausgegeben vom Schweizerischen Burgenverein Band 36 Buch SKAM 36.indd 1 14.11.2009 14:53:44 Uhr Buch SKAM 36.indd 2 14.11.2009 14:53:44 Uhr Die mittelalterliche Stadt erforschen – Archäologie und Geschichte im Dialog Beiträge der Tagung «Geschichte und Archäologie: Disziplinäre Interferenzen» vom 7. bis 9. Februar 2008 in Zürich Herausgegeben von Armand Baeriswyl, Georges Descœudres, Martina Stercken und Dölf Wild Buch SKAM 36.indd 3 14.11.2009 14:53:44 Uhr Der vorliegende Band wurde publiziert mit Unterstützung durch: – Archäologie Baselland – Archäologische Bodenforschung des Kantons Basel-Stadt – Archäologischer Dienst des Kantons Bern – Archäologischer Dienst des Kantons Freiburg – Hochschulstiftung der Universität Zürich – Kantonsarchäologie Zug – Schweizerischer Arbeitskreis für Stadtgeschichte – Stadtarchäologie Zürich Redaktion Armand Baeriswyl Barbara Seidel Lektorat Elisabeth Anliker, Barbara Seidel Grafische Gestaltung und Satz Katina Anliker, Bern Umschlaggestaltung Katina Anliker, Armand Baeriswyl Druck Stämpfli AG, Bern Alle Rechte vorbehalten © Schweizerischer Burgerverein, Basel 2009 ISBN: 978-3-908182-20-7 ISSN: 1661-4550 Umschlag: Bern, Gerechtigkeitsgasse, der erste Stadtbach der Zeit um 1200 (vgl. Beitrag Baeriswyl und Gerber, Abb. 9), kombiniert mit einigen Zeilen aus der Cronica de Berno (ältester erhaltener Text zur Geschichte Berns, entstanden zwischen 1325 und 1344; Burgerbibliothek Mss.h.h. I.37, 202f.) Buch SKAM 36.indd 4 14.11.2009 14:53:44 Uhr Inhalt Armand Baeriswyl Vorwort 7 Martina Stercken und Georges Descœudres Einführung 8 Armand Baeriswyl und Roland Gerber Unterschiedliche Quellen, ein Ziel Das Projekt einer interdisziplinären Häuserdatenbank der Stadt Bern als Beispiel für eine engere Zusammenarbeit zwischen Archäologie und Geschichte 11 Adriano Boschetti-Maradi Archäologie und Bauforschung in der Kleinstadt Methodische Möglichkeiten und Grenzen 21 Gilles Bourgarel L’image de Fribourg en 1200: entre vue de l’esprit et réalité 35 Geoff Carver History and archaeology, the history of archaeology, and the archaeology of archaeology 43 Georges Descœudres Archäologie und Geschichte Unterschiedliche Überlieferung – unterschiedliche Wirklichkeit? 53 Sören Frommer Die Realität im Blick Objektorientierung in den Geschichtswissenschaften 61 François Guex Villam que vocatur Friburg 71 Karsten Igel Die Entdeckung des Platzes Die Entstehung und Gestaltung kommunaler Plätze – Methoden ihrer Erforschung 79 Michaela Jansen Gegründet & geplant Hochmittelalterliche Stadtgründungen – die vielseitigen Facetten eines Begriffpaares 89 Bertram Jenisch Archäologischer Stadtkataster Offenburg Synthese topographischer Befunde aus Archäologie, Schriftquellen und historischen Karten Buch SKAM 36.indd 5 99 14.11.2009 14:53:45 Uhr Gerson H. Jeute Interferenzen bei der Erforschung städtischer Handwerks- und Sozialtopographien am Beispiel der Doppelstadt Brandenburg an der Havel 111 Clemens Joos und Frank Löbbecke Form und Funktion Historische und bauarchäologische Untersuchungen zum Münsterchor in Freiburg im Breisgau 127 Ulrich Klein Unterschiedliche Geschichte? Zur Forschungsgeschichte eines andauernden Phänomens 139 Christoph Philipp Matt Welche Stadtmauer und wenn ja – wo? Irrungen und Wirrungen im Basler Stadtmauerwesen 151 Darja Miheli Das Zusammentreffen von Geschichte und Archäologie Methodologische Überlegungen zum Verhältnis Geschichte – Archäologie 165 Isabelle Schürch Der Berner Münsterbau Das St. Vinzenzen-Schuldbuch von 1448 bietet Einblicke in den finanziellen, wirtschaftlichen und konkret materiellen Alltag des Münsterbaus 173 Martina Stercken und Lotti Frascoli Hülle als Konzept Konstruktion und Rekonstruktion von Stadtbildern 181 Katalin Szende Geschichte und Archäologie bei der Erforschung der mittelalterlichen Stadtentwicklung in Ungarn Die Ebenen der Zusammenarbeit am Beispiel von Budapest 193 Jürg Tauber Liestal – Annäherung an die Entstehung einer Kleinstadt 203 Kathrin Utz Tremp Die bernischen Dominikaner und die totgeborenen Kinder von Oberbüren Beispiele für gelungene Zusammenarbeit zwischen Geschichte und Archäologie 215 Autorenverzeichnis 225 Buch SKAM 36.indd 6 14.11.2009 14:53:45 Uhr Vorwort 7 Vorwort Die Erforschung von mittelalterlichen Städten war lange Zeit Domäne von Historikern und Kunsthistorikern. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg setzten, zuerst nur zögernd, entsprechende Forschungen mit archäologischen Methoden ein. In der Schweiz begann der eigentliche Aufschwung einer Archäologie des Mittelalters in den Städten in den 1970er Jahren. Obwohl schnell klar wurde, dass die Archäologie nicht nur neue Quellen zur Beantwortung historischer Fragen liefern kann, sondern darüber hinaus völlig neue Aspekte der Vergangenheit erschliesst, die in der schriftlichen Überlieferung weitgehend fehlen und so zur Erweiterung unseres Wissens um die Vergangenheit beiträgt, ist das Verhältnis zwischen Historikern und Archäologen bis heute nicht konfliktfrei, die interdisziplinäre Zusammenarbeit nicht selbstverständlich. Dieser Zusammenarbeit – der vorhandenen wie der fehlenden – ist der vorliegende Band gewidmet. Es handelt sich um die Beiträge einer internationalen Fachtagung, die vom 7. bis 9. Februar 2008 unter dem Titel «Geschichte und Archäologie: Disziplinäre Interferenzen» auf dem Zürcher Lindenhof stattfand. Die Idee einer interdisziplinären und internationalen Tagung, auf der Archäologen, Bauforscher, Historiker und Kunstgeschichtler über das Verhältnis von Geschichte und Archäologie diskutieren und debattieren können, wurde im Vorstand des Schweizerischen Arbeitskreises für Stadtgeschichte (SAfS) geboren. Geplant und durchgeführt wurde die Tagung dann vom SAfS in Zusammenarbeit mit dem Lehrstuhl für Archäologie und Kunstgeschichte des Mittelalters am Kunsthistorischen Institut der Universität Zürich sowie mit der Stadtarchäologie Zürich. Federführend waren vonseiten des SAfS dessen Präsidentin PD Dr. Martina Stercken und das Vorstandsmitglied Dr. Armand Baeriswyl, vonseiten der Universität Zürich der Lehrstuhlinhaber Prof. Dr. Georges Descœudres und vonseiten der Stadtarchäologie Dr. Dölf Wild. An der Tagung, die Buch SKAM 36.indd 7 im stilechten Versammlungssaal der Zürcher Freimaurer auf dem geschichtsträchtigen Lindenhof stattfand, versammelten sich rund 50 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus acht Nationen, darunter glücklicherweise sehr viele Nachwuchskräfte. Die fruchtbaren und teilweise sehr engagierten Diskussionen erstreckten sich bis tief in die Nachtstunden hinein. Von Anfang an war vorgesehen, die Beiträge zu publizieren. Erfreulicherweise erklärte sich der Schweizerische Burgenverein dazu bereit, die Ergebnisse dieser Tagung in seine Reihe «Schweizer Beiträge zur Kulturgeschichte und Archäologe des Mittelalters» aufzunehmen. Der Schweizerische Burgenverein gehörte zu den Vorreitern einer interdisziplinär angelegten Mittelalterarchäologie, als er 1974 diese Jahrbuchreihe begründete. In inzwischen über 30 Bänden stellten Historiker und Archäologen Ergebnisse ihrer Forschungen in Burgen, Städten, Dörfern und sogar in Seen vor und bewiesen so den Nutzen, ja die Notwendigkeit interdisziplinärer Zusammenarbeit. Allen, die am Zustandekommen des Bandes beteiligt waren, möchten wir unseren herzlichen Dank aussprechen: Zuerst sei hier der Vorstand des Schweizerischen Burgenvereins genannt. In den Händen von Barbara Seidel lag die redaktionelle Betreuung; sie zeichnet zusammen mit Katina Anliker auch für die Gestaltung. Herzlichen Dank auch ihnen! Zum Erscheinen des Bandes hat nicht zuletzt die grosszügige finanzielle Unterstützung der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften, der Hochschulstiftung der Universität Zürich, des Schweizerischen Arbeitskreises für Stadtgeschichte, der Kantonsarchäologien Baselland, Basel-Stadt, Bern, Freiburg und Zug sowie der Stadtarchäologie Zürich beigetragen; ihnen gilt unser besonderer Dank. Für die Herausgeber: Armand Baeriswyl 14.11.2009 14:53:45 Uhr 8 Einführung Martina Stercken und Georges Descœudres Einführung Geschichte und Archäologie haben beide die wissenschaftliche Erforschung vergangener Kulturen, Strukturen, Entwicklungen, Ereignisse und Zustände zum Ziel. Obwohl sich damit auch die Archäologie – zumal die Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit, die hier im Vordergrund steht – als eine historische Wissenschaft versteht, werden die Voraussetzungen einer fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen Archäologen und Historikern nicht immer angemessen überdacht. Dies hat zum Teil mit der Entwicklung der beiden Disziplinen zu tun: Während die Geschichtswissenschaft in den vergangenen Jahrzehnten durch eine Vielfalt von turns neu orientiert wurde, die sowohl neue Fragestellungen wie auch neue Methoden im Umgang mit schriftlicher und bildlicher Überlieferung mit sich gebracht haben, ist die Mittelalterarchäologie, die zwar an Universitäten, in zuständigen Ämtern und in Gesellschaften etabliert, aber vergleichsweise jung ist, gerade dabei, ihre spezifische Methodik zu diskutieren, die zwischen technischer Bedingtheit und historischen Fragestellungen oszilliert. Hinzu kommt, dass – ungeachtet gelungener gemeinsamer Projekte – der Dialog und damit auch der wissenschaftliche Erkenntnisfortschritt immer wieder von gegenseitigen Irritationen beeinträchtigt ist: Wird den Historikern üblicherweise eine Fixierung auf Schriftquellen und die Vernachlässigung von archäologischen Funden und Befunden als Teil historischer Argumentation angekreidet, so werden Archäologen vielfach eines methodisches Defizits im Umgang mit den auch für sie relevanten Schriftquellen wie auch einer für Aussenstehende oftmals schwer verständlichen Form der Präsentation ihrer Ergebnisse bezichtigt. Um über Möglichkeiten und methodische Prämissen der Zusammenarbeit zwischen den beiden historischen Disziplinen erneut nachzudenken, hat der Schweizerische Arbeitskreis für Stadtgeschichte (SAfS) in Zusammenarbeit mit dem Lehrstuhl für Archäologie und Kunstgeschichte des Mittelalters am Kunsthistorischen Institut der Universität Zürich sowie mit der Stadtarchäologie Zürich – und dankenswerterweise finanziell unterstützt durch die Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften, die Hochschulstiftung an der Universität Zürich und den SAfS – eine Tagung veranstaltet, die vom 7. bis 9. Februar 2008 auf dem Zür- Buch SKAM 36.indd 8 cher Lindenhof stattfand. Unter dem Titel «Geschichte und Archäologie: disziplinäre Interferenzen» haben sich eine Vielzahl von Archäologen und Historikern aus acht Nationen mit dem Ziel zusammengefunden, um ins Gespräch zu kommen: über die unterschiedlichen Formen und Techniken der Erschliessung von Schrift- und Bildquellen sowie des Bodens und aufgehenden Mauerwerks, über die Abhängigkeiten der Interpretation von politischen Vorgaben und fachlichen Konzepten, über Zirkelschlüsse, die von überholten Erkenntnissen der jeweils anderen Disziplin ausgehen und sich zu perpetuieren scheinen, über die Historiker und ihren Hang zu diskursiven Äusserungen und die Archäologen, die eingängige Bilder historischer Situationen produzieren, deren Herstellung notwendig eine Zerstörung der (zuvor dokumentierten) örtlichen Verhältnisse bedeutet. Ausgangspunkt für die gemeinsame Arbeit waren die Wechselbeziehungen zwischen Geschichtsforschung und Archäologie und das Ineinandergreifen historischer und archäologischer Methoden im Umgang mit der mittelalterlichen Stadt, für die beide Disziplinen immer wieder unterschiedlich geartete Raumbilder entwerfen. Gerade dort anzusetzen, erschien vor allem vor dem Hintergrund der neuerlichen Diskussionen um die mittelalterliche Stadtplanung in den vergangenen Jahren vielversprechend. Denn in der Auseinandersetzung mit technizistischen Vorstellungen von komplexen historischen Prozessen wurde allen, die in der Siedlungsforschung engagiert sind, einmal mehr vor Augen geführt, wie notwendig es ist, über die Grenzen des eigenen Fachs hinauszublicken und die Vielfalt an Ergebnissen, Befunden und methodischen Prämissen in Betracht zu ziehen, die von den beiden Disziplinen vorgelegt worden sind. Die Beiträge der Zürcher Tagung, die in der vorliegenden Aufsatzsammlung vereinigt sind, befassen sich mit Grundproblemen interdisziplinärer Zusammenarbeit, indem sie zum einen Bauuntersuchungen in kleinräumigen Kontexten, kleinstädtische Verhältnisse und schliesslich auch das heute wieder aktuelle Thema der Gründungsstädte in den Blick nehmen und zum anderen den Versuch unternehmen, die vielfältigen heterogenen Einzelbefunde zu synthetisieren und methodisch-theoretische Grundlagen für eine fruchtbare Zusammenarbeit 14.11.2009 14:53:45 Uhr Einführung zu umreissen. Eingeleitet werden die Beiträge mit Überlegungen von Archäologen und Historikern zu einigen wesentlichen, an der Tagung und in einzelnen Beiträgen aufgezeigten Aspekten der disziplinären Interferenzen von Geschichte und Archäologie, die – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – ein Spektrum von Möglichkeiten und Chancen aufzuzeigen versuchen, wo sich Geschichte und Archäologie ertragbringend ergänzen könnten. Diese Einführungen umreissen einige Grundprobleme im interdisziplinären Umgang mit der Stadt: Sie weisen darauf hin, wie sehr die Interpretation von Befunden wie auch die Rekonstruktion bestimmter Sachverhalte an fachliche Traditionen und Umfelder der Forschung von Geschichtswissenschaft und Archäologie gebunden sind. Der unterschiedliche Fokus manifestiert sich allein schon im Umgang mit dem Begriff der Stadt, die in den Geschichtswissenschaften als vielgestaltiges, durch unterschiedliche Eigenschaften charakterisiertes Phänomen, in der Archäologie indes vor allem als Artefakt, bauliches Gebilde und räumliche Einheit betrachtet wird. Er wird aber auch dann fassbar, wenn es um die Einordnung von Beobachtungen und Funden geht, die in den Geschichtswissenschaften von tradierten funktionalen und zeitlichen Angaben ausgehen kann, in der Archäologie aber auf Stratigraphien, also zeitlich gestuften Ablagerungen beruht. Grundsätzlichere Überlegungen gelten auch dem jeweils spezifischen disziplinären Umgang mit den verschiedenartigen Quellen zur Stadtgeschichte, die in Sammlungen dokumentiert, in Archiven aufbewahrt oder im Boden und als bestehende Bauwerke erhalten sind. Nicht nur ist eine Zusammenarbeit unabdingbar, wenn es darum geht, Fragen um Funktionen, Datierungen und Bedeutungen zu klären, die auf der Grundlage der gewohnten fachlichen Quellenbasis allein nicht angemes- Buch SKAM 36.indd 9 9 sen beantwortet werden können. Denn die Voraussetzungen für die Arbeit von Historikern und Archäologen und ihr jeweiliger Umgang sowohl mit der historischen Überlieferung wie auch mit deren Interpretation sind unterschiedlicher Natur. Zwar bedarf es immer angemessener Übersetzungsvorgänge, um historische Überlieferung für spezifische Fragestellungen fruchtbar zu machen. Anders als in der historischen Auseinandersetzung verlangen die vielfach wenig elaborierten, nicht unmittelbar lesbaren Sachquellen der Archäologen notwendig besondere Erklärungskontexte, die zudem verschiedene mediale Formen der Präsentation, nämlich Texte, Bilder und Pläne, erfordern. Gerade in diesem Zusammenhang erweist sich die archäologische Forschung in stärkerem Ausmass abhängig von der jeweiligen dokumentarischen Aufbereitung lokaler Untersuchungen. Ebenso wesentlich erscheint es, intensiver ins Gespräch zu kommen über die methodischen Entwicklungen innerhalb der einzelnen Disziplinen und deren Konsequenzen im Umgang mit Schrift-, Bild- und Sachgut. Dies gilt im Hinblick auf die neuen Herangehensweisen der Geschichtswissenschaften an die schriftliche und bildliche Überlieferung, die nicht mehr allein auf den Informationsgehalt, sondern auch auf Materialität, Herstellungs- und Gebrauchskontexte ausgerichtet sind. Dies gilt aber auch hinsichtlich der neueren methodischen Ansätze in der Mittelalterarchäologie, die nicht nur immer differenziertere Untersuchungsmethoden und Rekonstruktionsversuche entwickeln, sondern auch die Aussagekraft ihrer Sachquellen zunehmend reflektieren. Gerade diese Annäherung der Disziplinen in der Auseinandersetzung mit dem medialen Charakter historischer Tradition könnte einen neuen interdiziplinären Dialog über stadtgeschichtliche Phänomene und Entwicklungen stimulieren. 14.11.2009 14:53:45 Uhr Buch SKAM 36.indd 10 14.11.2009 14:53:45 Uhr Unterschiedliche Quellen, ein Ziel 11 Armand Baeriswyl und Roland Gerber Unterschiedliche Quellen, ein Ziel Das Projekt einer interdisziplinären Häuserdatenbank der Stadt Bern als Beispiel für eine engere Zusammenarbeit zwischen Archäologie und Geschichte 1. Einleitung «Die Geschichtswissenschaft arbeitet daran, eine gesicherte Wissensbasis über die Vergangenheit herzustellen … Sie ermittelt aus den Zeugnissen der Vergangenheit politische Ereignisse, gesellschaftliche, wirtschaftliche und religiöse Zustände in einer bestimmten Region und für einen bestimmten Zeitraum.»1 Definieren diese Sätze nur die Arbeit der Historiker oder nicht auch diejenige der Archäologen? Die Antwort ist klar: Aber natürlich! Die Archäologie wie die klassische Geschichtsforschung sind historische Wissenschaften. Beide versuchen, die Vergangenheit zu rekonstruieren, und sie stützen sich beide dabei auf Zeugnissen der Vergangenheit – auf die Quellen.2 Was sich aber unterscheidet, sind erstens die Materialität, Erscheinungsformen und Zeichenhaftigkeit von Schrift- und Sachquellen sowie zweitens die Überlieferungssituation, Aussagekraft und Gebrauchszusammenhänge von Schrifttum und Sachgut. In einem entscheidenden Punkt treffen sie die beiden Disziplinen aber wieder: Nämlich im grundlegend identischen Umgang mit den Quellen, mit der Anwendung der Quellenkritik.3 Quellenkritik heisst, die Möglichkeiten und die Grenzen der jeweiligen Quellen zu kennen – und zwar nicht nur derjenigen der eigenen Disziplin. Eine erfolgreiche Zusammenarbeit von Historikern und Archäologen setzt voraus, dass man sich der Unterschiede wie der Gemeinsamkeiten bewusst ist. Im Folgenden soll an einem Beispiel eines – bisher nur angedachten – gemeinsamen Projektes gezeigt werden, was mit diesen unterschiedlichen Quellen und mit der notwendigen Quellenkritik gemeint ist und wie unter Berücksichtigung dieser Punkte eine fruchtbare interdisziplinäre Zusammenarbeit möglich wäre. Wir wollen Ihnen das Projekt einer historischen Häuserdatenbank der Stadt Bern vorstellen. Sein Ziel soll sein, Bildquellen, hausgeschichtliche Informationen aus handschriftlichen Quellen sowie archäologische Sach- und Baureste unter wie über dem Boden auf der Basis von einzelnen, topografisch fixierten Hausplätzen von der Gegenwart bis ins 14. Jahrhundert zurück zu verknüpfen. Diese Häuserdatenbank soll dabei Buch SKAM 36.indd 11 die neuen digitalen Medien nutzen, und zwar nicht nur in Bezug auf die Eingabe; sondern es soll darüber hinaus im Sinne des Schlagwortes vom «Visual Turn» der freie Zugang zu den gesammelten Daten auf dem Internet sichergestellt werden. 2. Die Sicht des Historikers Bereits im Jahre 1875 äusserte Karl Howald den Wunsch, aufgrund des in den städtischen Archiven überlieferten Schriftquellenmaterials eine topografische Geschichte der Stadt Bern zu verfassen. Im achten Band der Archivreihe des historischen Vereins schreibt er dazu: «Eine nach vorhandenen urkundlichen Quellen bearbeitete topographische Geschichte der Stadt Bern und ihrer Umgebungen, wie sie Zürich, Basel, Genf und viele andere Schweizerstädte längst besitzen, vermögen wir Berner nicht aufzuweisen. Es ist daher gewiss berechtigt, wenn der historische Verein schon zu wiederholten Malen den Wunsch ausgesprochen hat, es möchte sich doch Jemand die Topographie des alten Berns zur Aufgabe stellen. Über das Zweckmässige und Lohnende eines solchen literarischen Unternehmens, welches den Leser anhand zuverlässiger Quellen und Nachrichten mit dem alten Bern auf vertrauten Fuss zu setzen hätte, ihn gleichsam veranlassend mit vollkommener Kenntnis des Terrains einen Gang durch die alte Stadt zu wagen, herrscht kein Zweifel».4 Als urkundliche Hauptquellen einer topografischen Geschichte Berns nennt Howald folgende Schrift- und Bildquellen: – Das älteste Udelbuch, welches beinahe ein Jahrhundert lang – ungefähr von 1389 bis 1466 – Veränderungen in Bezug auf udelpflichtigen Grundbesitz in der Stadt notiert;5 1 2 3 4 5 Borowsky/Vogel/Wunder 1980, 12. Borowsky/Vogel/Wunder 1980, 120–176; Theuerkauf 1991; Eggert 2005. Eggert 2006, 100–121. Howald 1872–75, 150f. In der spätmittelalterlichen Stadt Bern musste jeder neue Bürger ein so genanntes Udel, das heisst, einen rechtsverbindlichen Besitzanteil an einer städtischen Liegenschaft erwerben. Mit diesem Anteil hafteten die Bürger gegenüber dem Rat für die Erfüllung der geschworenen Bürgerpflichten wie der Steuer- und Wehrpflicht. Gerber 2001, 33–37. 14.11.2009 14:53:45 Uhr 12 Abb. 1 Ausschnitt aus dem Berner Udelbuch von 1389: Schowlantsgasse (heutige Schauplatzgasse) mit topografischer Auflistung verschiedener «Häuserkonten», beginnend mit dem Eckhaus (domus) des Hensli von Zollikofen. – das zweite mit prächtigen Initialen ausgeschmückte Udelbuch von 1466; – die Tellbücher von 1389, 1448, 1458, 1494 und 1556; – die Jahrzeitbücher, Urbarien, Stiftungs- und Vergabungsdokumente namentlich der geistlichen Korporationen und Spitäler; – die Rats- und Vennermanuale, Bauamtsbücher und dergleichen; – die Stadtchroniken; – Plandokumente wie Zehntpläne, Fortifikationsprojekte, Bau- und Umbaupläne aller Art und ähnliches; – Stadtansichten, vor allem die Planvedute des Gregorius Sickinger, entstanden zwischen 1603 und 1607; – die topografischen Beschreibungen der Stadt Bern von Johann Rudolf Gruner, erschienen 1732,6 und von Karl Jakob Durheim, gedruckt 1859.7 Unterschiedliche Quellen, ein Ziel dung 1191 bis 1390 in den Fontes Rerum Bernensium8 ediert, und sämtliche Urkunden des Berner Staatsarchivs können als Regesten übers Internet abgerufen werden.9 Ausserdem fanden Topografie, Stadtgestalt und Einzelbauten in der Reihe der Schweizerischen Kunstdenkmäler – die Stadtberner Bände erschienen zwischen 1947 und 1969 – reiche Erläuterungen. Diese widerspiegeln jedoch in keiner Weise den aktuellen Forschungsstand und sind auch nicht vollständig.10 Seit 1978 beschäftigen sich vor allem die städtische Denkmalpflege und seit 1974 bzw. 1984 der archäologische Dienst von Amtes wegen mit dem baulichen Bestand der Altstadt. Beide Dienststellen führen entsprechende Hinweisinventare und Datensammlungen unterschiedlicher Qualität über Gebäude, in denen sie in irgendeiner Form tätig waren. Eine systematische Zusammenstellung historischer Informationen zu einzelnen Altstadtgebäuden, wie sie der Stadtgeschichtsforschung anderswo seit langem zur Verfügung steht, sucht man in Bern hingegen nach wie vor vergeblich. Was unterscheidet Bern nun von anderen Städten wie Basel und Zürich, in denen bereits im 19. Jahrhundert umfangreiche Dokumentationen zu einzelnen Häusern und Gassen angelegt wurden? Das Interesse der bernischen Historiografie an solchen «Häuserdokumentationen» war ja – wie die Ausführungen Howalds beweisen – durchaus vorhanden. Zudem zeigen die Publikationen des Berner Staatsarchivars Heinrich Türler (1861–1933) über die Topografie der Kreuzgasse sowie über die obere Junkern- und Gerechtigkeitsgasse, welch detaillierte Informationen zu Bürgerhäusern und ihren Besitzern sich aus Berner Schriftquellen gewinnen lassen.11 Von einer spezifischen Quellenarmut in Bezug auf hausgeschichtliche Nachrichten kann in Bern daher ebenfalls nicht gesprochen werden. Im Gegenteil! Die urkundliche Überlieferung Berns aus der Zeit vor der Reformation ist nicht schlechter als in anderen grösseren schweizerischen Städten. Bei der Durchsicht von insgesamt 2500 Urkunden, die in den Fontes Rerum Bernensium12 ediert sind und in deren Zeugenreihen Berner Bürger genannt werden, konnten rund 300 Urkunden ermittelt werden, die – wenn auch zum Teil nur rudimentäre – Angaben über städtischen Hausbesitz enthalten. 6 Heute, 130 Jahre nach dem Erscheinen des Aufsatzes von Karl Howald bildet die von ihm geforderte bernische Topografie immer noch ein Desiderat. Zwar wurden unterdessen die wichtigsten Urkundenbestände von der Stadtgrün- Buch SKAM 36.indd 12 7 8 9 10 11 12 Gruner 1732. Durheim 1859. FRB 1883–1956. Ausserdem ist ein Online-Zugang in Planung. KDM BE 1–KDM BE 5. Türler 1892; Türler 1899; Türler 1900. FRB 1883–1956. 14.11.2009 14:53:46 Uhr Unterschiedliche Quellen, ein Ziel Das heisst, in durchschnittlich jeder zehnten Urkunde, die von Berner Bürgern im 14. Jahrhundert ausgestellt oder bezeugt wurden, finden sich Nachrichten über Lage und Besitzer von Stadthäusern. Nur vereinzelt überliefert sind jedoch private Kaufverträge oder Vergabungen von Hauszinsen und Grundstücken an geistliche Institutionen. Neben der Zerstörung einzelner klösterlicher Urkundenbestände während der Reformation dürfte vor allem das vom Berner Rat bereits im Jahr 1400 durchgesetzte Verbot, dass Klerikergemeinschaften Seelgeräte auf Stadthäusern erwerben durften, zu dieser vergleichsweise schlechten Überlieferungssituation geführt haben.13 Dafür verfügt das Berner Staatsarchiv mit den beiden Udelbüchern von 1389 und 1466 über zwei ausserordentliche hausgeschichtliche Quellen, wie sie sonst nur selten zu finden sind (Abb. 1).14 Vor allem für das Jahr 1389 ist die Quellenlage in Bern einmalig. Der Rat liess in diesem Jahr nicht nur die in der Stadt lebenden Hausbesitzer nach Gassen und Häusern geordnet aufzeichnen, sondern legte mit dem Tellbuch von 1389 gleichzeitig auch ein ausführliches Steuerregister an.15 Darin wurden alle erwachsenen Haushaltsvorstände, die eine Vermögenssteuer an den Stadtsäckel zu entrichten hatten, nach der Lage ihrer Steuerhaushalte namentlich aufgelistet. Da die Einträge im Tellbuch wie jene im Udelbuch nach topografischen Kriterien, also nach Stadtvierteln und dem Verlauf der städtischen Gassen gegliedert sind, lassen sich die darin dokumentierten hausgeschichtlichen Informationen auf den Grundriss der heutigen Berner Altstadt übertragen. Die in den Quellen gemachten Angaben werden auf diese Weise grob lokalisierbar und können von der Forschung genutzt werden.16 Den Ausgangspunkt für eine kartografische Erfassung der im Udel- und Tellbuch überlieferten Häuserdaten bildet das heutige Gassennetz, das sich nach Ausweis der archäologischen Untersuchungen der letzten zwanzig Jahre im Gebiet der Berner Altstadt seit der Stadtgründung um 1200 nicht grundlegend verändert hat,17 sowie die älteste topografisch zuverlässige Ansicht Berns, die Planvedute Gregorius Sickingers von 1603/07 (Abb. 2).18 Der so genannte Sickingerplan zeigt die Stadt Bern von Süden in ihrem spätgotischen Baubestand Ende des 16. Jahrhunderts. Da jedes einzelne Altstadthaus ausgesprochen individuelle Züge aufweist, scheint diese Ansicht – abgesehen vielleicht von den überproportional vergrössert dargestellten Kirchen und Stadttoren sowie perspektivischen Verkürzungen und Verzeichnungen – eine Buch SKAM 36.indd 13 13 Abb. 2 Ansicht der unteren Altstadt Berns aus der Zeit um 1600 im Bereich Münsterplattform (Nr. 20), Stiftsgebäude (Nr. 21), Münster (Nr. 22), Kreuzgasse (Nr. 23), Antonierhaus und -kapelle (Nr. 24) und Rathaus (Nr. 25). Ausschnitt aus der sog. Planvedute des Gregorius Sickinger von 1603/07. Umzeichnung von Eduard von Rodt 1915. ausgesprochen realistische Sicht auf die Berner Altstadt zu vermitteln. Es lässt sich beispielsweise erkennen, wie viele Geschosse und Fenster die einzelnen Fassaden aufweisen und bei welchen Häusern es sich um Steingebäude, Holzbauten oder Fachwerkhäuser handelt. Karl Howald ging sogar soweit zu behaupten, dass der Sickingerplan zwar in den perspektivischen Verhältnissen nicht immer exakt sei, Lage und Ausdehnung der dargestellten Häuser aber genau mit den urkundlichen Nachweisen übereinstimmten.19 Vision einer interaktiven Häuserdatenbank Die von Karl Howald in seinem Aufsatz von 1875 aufgelisteten Schriftquellen bilden auch heute noch die Grundlage für die Erstellung einer topografischen Geschichte der Stadt Bern. Als zentral lassen sich vor allem die aussergewöhnlich dichten hausgeschichtlichen Informationen in den ältesten Udel- und Tellbüchern von 1389, die realistische Darstellung der Hausaufrisse in der Planvedute Gregorius Sickingers von 1603/07 sowie die Gassenverläufe und Parzellierungen im aktuellen Stadtgrundriss 13 14 15 16 17 18 19 Gerber 2001, 94f. Staatsarchiv Bern, B XIII 28 und B XIII 29. Staatsarchiv Bern, B VII 2469. Das Tellbuch von 1389 ist vollständig ediert bei Welti 1896. Gerber 2001, 239–316. Baeriswyl 2003b, 180–183. Sickinger (Umzeichnung Rodt) 1952. Howald 1872–75, 152. 14.11.2009 14:53:47 Uhr 14 Unterschiedliche Quellen, ein Ziel Abb. 3 Bern, unterster Häuserblock an der nördlichen Kramgasse um 1600 (oben) und im Vergleich dazu moderner Kellergrundriss (unten). Weiss markiert sind das Eckhaus am Schaalgässlein (1389 im Besitz von Niklaus Schwerter), das städtische Kauf- und Zollhaus (erster Bau 1373 errichtet) und das Eckhaus an der Kreuzgasse (1389 im Besitz des Schreibers Oswald von Basel). Ausschnitt aus der Ölkopie von Johann Ludwig Aberli 1753 der sog. Planvedute des Gregorius Sickinger von 1603/07 (oben) und aus dem «Kellerplan» von Paul Hofer von 1982. (Katasterpläne) hervorheben. Diese drei Quellengruppen bilden sozusagen die Kristallisationspunkte, um die eine bernische Häuserdatenbank entstehen könnte. Aufgabe von Archäologen und Historikern wäre es, ausgehend von den genannten hausgeschichtlichen Schrift- und Bildquellen weitere Nachrichten über die Bauten und deren Besitzer zusammenzutragen. Die auf diese Weise gewonnen Informationen liessen sich dann in einer zentralen Datenbank sammeln, die nach heutigen Hausnummern strukturiert ist und in der laufend neue Daten zu den einzelnen Altstadthäusern und deren Vorgängerbauten eingetragen werden könnten. Dazu gehören urkundliche Belege ebenso wie Bildquellen und Fotografien sowie Erkenntnisse aus Bauanalysen und Bodenforschung. Die hier projektierte interaktive Häuserdatenbank liesse sich schliesslich beim Archäologischen Dienst oder im Berner Stadtarchiv ansiedeln, deren Mitarbeiter sich für die redaktionelle Betreuung der eingehenden Informationen aus den verschiedenen Forschungsbereichen wie auch für deren Publikation auf dem Internet verantwortlich zeigten. Denn nur auf diese Weise kann die heute überall geforderte Wertsteigerung digitaler Publikationen gegenüber traditionellen Quellensammlungen durch Multi- Buch SKAM 36.indd 14 medialität, freie Zugänglichkeit und interaktive Nutzung erreicht werden. 3. Die Sicht des Archäologen Ein solches Projekt wäre ein zentrales Desiderat für die Stadtarchäologie – und zwar in zweierlei Hinsicht: zum einen stünde schon vor dem Beginn einer Ausgrabung bzw. Bauuntersuchung Quellenmaterial zur Verfügung, und zum zweiten könnte man die archäologischen Ergebnisse auf diese Weise zentral sammeln, als interdisziplinäres Projekt mit den historischen Quellen abgleichen und zu neuen übergreifenden Erkenntnissen zur historischen Topografie Bern kommen. Allerdings genügt es nicht, wenn sich der Historiker auf die Schrift- und Bildquellen beschränkt, wenn sich der Archäologe nur mit seinen Sachquellen, seinen Befunden und Funden begnügt. Es braucht einen Austausch, der schon früh einsetzt, es braucht ein gegenseitiges Verständnis, damit diese Datenbank mit brauchbaren Daten gefüttert wird. Was heisst das?20 Ich wiederhole es: Die Archäologie ist eine Geschichtswissenschaft, die auf der Analyse und Interpretation von Quellen fusst. Obwohl diese Quellen anderer 14.11.2009 14:53:50 Uhr Unterschiedliche Quellen, ein Ziel Natur sind als die historischen, unterscheidet sich der Umgang mit ihnen nicht von der klassischen schriftquellenbasierten Geschichtsforschung: Im Zentrum steht auch für den Archäologien die Quellenkritik.21 Archäologische Quellen sind zwar dinglicher als schriftliche Quellen, aber sie sind deswegen nicht neutraler, weniger subjektiv oder gar wahrer! Ausserdem kämpft die Archäologie ebenso wie die Schriftquellenforschung in der uns hier interessierenden Epoche mit einem zentralen Problem: dem Mangel an Quellen. Das alles muss in die Quellenkritik fliessen, sonst sind Fehlschlüsse vorprogrammiert. Ich möchte die Quellenkritik am Beispiel des untersten Häuserblocks an der nördlichen Kramgasse erläutern (Abb. 3). Grundsätzlich zeigen archäologische Untersuchungen immer wieder, dass sich der Stadtgrundriss über die Jahrhunderte verändert. Das können grosse Veränderungen sein, Freiräume, die durch Überbauungen verschwinden oder durch Abbrüche neu entstehen, das sind oft aber auch nur minimale Verschiebungen von einzelnen Hausplätzen und Parzellengrenzen um einige Meter. Aber: Einige Meter können in einer dicht bebauten Häuserzeile schnell Konsequenzen haben: Unter Umständen gab es zu einem bestimmten Zeitpunkt zwischen zwei «Fixpunkten» ein Haus und damit einen Haushalt mehr oder weniger als heute. Das kann beim Abzählen zu Verfälschungen führen. Und auch die «Fixpunkte» sind weniger konstant als die ältere Forschung annahm – die Quellenkritik muss hier sehr genau sein. Betrachten wir das städtische Kauf- und Zollhaus an der nördlichen Kramgasse (Abb. 4). Es entstand wie erwähnt 1373 anstelle mehrerer älterer – wohl privater – Bauten. Sickinger zeigt auf seiner Vedute von 1603/07 an dieser Stelle ein Gebäude – es ist aber nicht der ursprüngliche Bau des 14. Jahrhunderts, sondern ein Neubau von 1599.22 Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass auch die Vedute von Gregorius Sickinger der Quellenkritik unterzogen werden muss: Das Original von 1608 ist nämlich verschollen; es existiert lediglich eine Kopie in Öl von Johann Ludwig Aberli von 1753 und eine 1905 entstandene Federumzeichnung von Eduard von Rodt. Das Verhältnis des Gebäudes von 1599 zum Vorgänger ist nicht bekannt; sicher ist aber, dass die im Udel- und Tellbuch von 1389 zwischen dem unteren Eckhaus an der Kramgasse und dem Eckhaus am Schaalgässlein genannten Häuser sich noch nicht auf das Kaufhaus von 1599 beziehen. Deswegen führt die Methode des Abzählens zu erheblichen Unsicherheiten. Aber es ist noch schwieriger: An die Stelle der 1947 bestehenden drei Gebäude Kram- Buch SKAM 36.indd 15 15 Abb. 4 Bern, das ehemalige Kauf- und Zollhaus heute. Fotografie 2007. Abb. 5 Gebäudegrundriss von 1946 mit Bauphasen nach Paul Hofer aus dem Kunstdenkmälerband Bern Stadt 3, erschienen 1947. gasse 20, 22 und 24 steht heute der kantonale Verwaltungskomplex Kramgasse 20 (Abb. 6).23 Die drei Gebäude, das Kaufhaus und zwei benachbarte, ursprünglich private Wohnbauten wurden 1958 vollständig ausgekernt und hinter alten bzw. auf alt getrimmten Fassaden vereinigt. Zwar gibt es Pläne des Gebäudes, wie es vor 1958 aussah, aber ob dieses noch dem Grundriss von 1599 entsprach, oder ob es nicht im Rahmen von dokumentierten wie undokumentierten Umbauten und Erneuerungen mehrfach auch im Grundriss verändert wurde, ist nicht bekannt. Nur 20 21 22 23 Zum Verhältnis von Archäologie – vor allem Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit – und Geschichte: Geschichtswissenschaft 1979; Isenberg 1993; Scholkmann 1997/98; Fehring 2000; Scholkmann 2003; Jäggi 2004; Ericsson 2005; Baeriswyl 2009. Eggert 2006, 100–121. KDM BE 3, 343–353, 481–484. KDM BE 3, 481–484. 14.11.2009 14:53:51 Uhr 16 Abb. 6 Ausschnitt aus dem Berner «Kellerplan» von 1982: Deutlich ist der moderne Keller zu erkennen, der sich unter alle drei Gebäude erstreckt. genaueste Quellenkritik würde hier einige der genannten Unsicherheiten beseitigen können, wirklich weiter käme man aber nur mit archäologischen und bauanalytischen Untersuchungen mit dem Ziel, die Baugeschichte bzw. die verschiedenen Bauzuständen zu eruieren. Aber: Im Fall des Kaufhauses gibt es diese Möglichkeit nicht mehr. Der Kaufhauskomplex ist 1958 ohne die geringsten archäologischen oder bauanalytischen Untersuchungen zerstört worden. Diese Quellen fehlen also. Die Archäologie des Mittelalters und noch mehr diejenige der Neuzeit sind jung. Sie arbeiten vielerorts erst seit wenigen Jahren, bestenfalls Jahrzehnten systematisch und mit dem notwendigen methodischen wie technischen Rüstzeug. In Bern etwa beginnt eine einigermassen systematische Stadtarchäologie im Jahr 1984. Das heisst auch: ältere Untersuchungen sind quellenkritisch genauestens zu analysieren. Im Fall des Kaufhauses: der Grundriss im Kunstdenkmälerband (Abb. 5) ist ein Phasenplan – aber wie zuverlässig ist dieser Phasenplan? Wie sieht die Quellensicherung, die Untersuchung, die Dokumentation, die Analyse aus? Für das Beispiel Stadt Bern gilt: Ich glaube inzwischen keinem Phasenplan mehr. Hier war zu oft der Wunsch Vater der Rekonstruktion! Buch SKAM 36.indd 16 Unterschiedliche Quellen, ein Ziel Für den Archäologen muss die gleiche Distanz und Vorsicht gelten wie für den Historiker die Konsultation von älteren Arbeiten und Darstellungen. Dazu kommen zwei grundsätzliche Probleme in der Arbeit mit archäologischen Quellen: Erstens kann sich die Archäologie im Gegensatz zur Schriftquellenforschung weder den Gegenstand noch den Zeitpunkt ihrer Untersuchung auswählen. Untersucht wird das, was durch Umbau, Zerstörung, Erneuerung, Unterkellerung etc. bedroht wird, und es wird in dem Moment untersucht, in dem diese Massnahmen unmittelbar bevorstehen. Kontinuierlich einer Fragestellung nachzugehen ist so nur schwer möglich. Zweitens ist im Umgang mit archäologischen Quellen immer zu berücksichtigen, dass die Archäologie durch die Ausgrabung ihren Untersuchungsgegenstand während der Untersuchung zerstört, und zwar systematisch. Die Funde, also Keramikscherben, Knochen, Glas- oder Metallreste bleiben erhalten, alle Befunde aber, Schichten, Mauern, Gruben oder Gräben werden im Laufe der Untersuchung abgetragen bzw. spätestens nach Abschluss der Ausgrabungen bei der jeweiligen Neubaumassnahme, die die archäologische Intervention überhaupt erst ausgelöst hatten, beseitigt. Wenn der der Archäologe hinterher bei der Auswertung merkt, dass er irgendein entscheidendes Detail nicht beobachtet bzw. nicht dokumentiert hat, ist dieses unwiederbringlich zerstört. Fehler macht jeder Wissenschaftler und jede Wissenschaftlerin – während der Historiker sich seine Urkunde einfach noch einmal vornimmt, hat der Archäologe meist keine Chance mehr. Das erklärt vielleicht die Zurückhaltung des Archäologen, andere als Notgrabungen vorzunehmen. Wie würden Historiker ihre Urkunden dokumentieren, wüssten sie, dass sie nach einmaligem Lesen und Exzerpieren im Reisswolf landen? Trotz all dieser Probleme: Es gibt Bauten in der Berner Altstadt, die vom Archäologischen Dienst untersucht worden sind und für die eine Baugeschichte vorliegt. Aber auch ein reicher Befund muss interpretiert werden, die Quellenkritik braucht es in diesem Fall genauso. So zeigt sich, dass etwa die Frage von Parzellengrenzen noch wesentlich komplizierter sein kann als bereits angetönt. Das soll das Beispiel Brunngasse 54–58 zeigen (Abb. 7). Erkennbar wurden dort bei der Ausgrabung und Bauuntersuchung ältere, wohl noch ins 13. und 14. Jahrhundert zu datierende Parzellen mit rückwärtigen, an die Stadtmauer angebauten Steinhäusern, nach vorne gefolgt von Höfen und gassenseitigen Holzbauten mit seitlichen 14.11.2009 14:53:51 Uhr Unterschiedliche Quellen, ein Ziel 17 Abb. 8 Bern, Sandsteinquadermauerwerk an der ostseitigen Brandmauer des Gebäudes Gerechtigkeitsgasse 71, wohl mittleres 13. Jh. Abb. 7 Bern, Brunngasse 54–58. Plan der archäologischen Untersuchungen von 2005. Schwarz: heutige Gebäude mit Lauben auf der Gassenseite, 15.–19. Jahrhundert. Dunkelgrau: Stadtmauer, wohl um 1200. Mittelgrau: an die Stadtmauer angebaute, mindestens zweigeschossige Steingebäude, mutmasslich 13. Jahrhundert. Hellgrau: Reste von Fachwerkbauten (Schwellbalkennegative, Lehmfussböden), mutmasslich ebenfalls 13. Jahrhundert. Hofeinfahrten. Damals bestanden offensichtlich noch nicht überall geschlossene Häuserzeilen, im Gegenteil. Die typischen schmalen und lang gezogenen Berner Häuser entstanden erst in einer zweiten Phase, durch Verdichtungen und Aufstockungen in mehreren Etappen im Laufe des 15. und 16. Jahrhunderts. Allerdings sind diese Prozesse im Details teilweise schwer zu fassen, denn oft bleibt unklar, wo die jeweiligen Parzellengrenzen verliefen: Lagen sie von Anfang an am heutigen Ort? Oder haben sie sich nicht, wie die Archäologen an verschiedenen Stellen feststellen mussten, verschoben?24 Um wie viel? Wann? Damit sind wir gleich beim nächsten Problem: Bei der Datierung. Die erste Aufgabe des Archäologen ist es, eine relative Chronologie aufzubauen – bei zwei Befunden fragt er schlicht nach «älter» bzw. «jünger», egal, ob wir über zehn Minuten oder hundert Jahre sprechen. In unserem Beispiel Brunngasse 54 war die relative Chronologie einfach aufzubauen. Die absolute Chronologie aber, die Frage nach dem Alter in Jahrzahlen, steht auf wackeligen Füssen. Gut datierende Funde fehlten, ebenso Buch SKAM 36.indd 17 Holzkohle, die mit der Radiokarbonmethode datiert werden kann, und auch im aufgehenden Mauerwerk ist aus der Frühzeit kein Holz mehr da, welches dendrochronologisch bestimmt werden kann. In solchen Fällen ist der Archäologe schnell am Ende mit seinem Latein. Er hat nur noch zwei Möglichkeiten: 1. der Vergleich mit andern, absolut datierten Elementen, etwa der Vergleich von Mauerwerkscharakteristika (Abb. 8). Dieses Sandsteinquadermauerwerk mit sog. Schichthöhenzeichen datiert wahrscheinlich ins 13./14. Jahrhundert.25 Aber: Es gibt vergleichbare Mauern, die aus der Zeit um 1400 stammen. 2. Eine Datierung, die sich auf aus schriftlichen Quellen gewonnenen Ereignissen und Jahrzahlen bezieht. Hier sehen wir das älteste Benutzungsniveau mitsamt Bachbett des Stadtbachs im Bereich der Hauptgasse der Gründungsstadt Bern (Abb. 9).26 Die Stadtgründung erfolgte gemäss chronikalischen Quellen im Jahr 1191, um 1208 wird ein Berner erstmals in einer Urkunde erwähnt.27 Damit ist es wahrscheinlich, dass diese untersten archäo- 24 25 26 27 Baeriswyl 2003a; vgl. Eggenberger/Stöckli 1983. Boschetti-Maradi 2003. Archäologische Untersuchung 2005. Vorbericht in: Baeriswyl/Kissling 2006. Baeriswyl 2003b, 176f. 14.11.2009 14:53:51 Uhr 18 Unterschiedliche Quellen, ein Ziel Abb. 9 Bern, Ausgrabungen an der Kram- und Gerechtigkeitsgasse 2005. Das unterste archäologische Niveau mit den Überresten eines in den gewachsenen Aareschotter eingetieften Kanals mit Holzboden und -wänden: der älteste fassbare Stadtbach. Mutmasslich frühes 13. Jh. logischen Befunde in die Zeit um 1200 zu datieren sind. Aber sicher ist das nicht, es kann ja sein, dass die älteste Phase später weggeschürft wurde und wir hier eine jüngere Phase vor uns haben, die an die Stelle älterer, ausgeräumter Befunde zu liegen kam. Hier hat der Archäologe, der transparent arbeitet, offenzulegen, wie sicher bzw. unsicher seine Erkenntnisse sind. Buch SKAM 36.indd 18 4. Ausblick Das hier präsentierte Projekt einer historischen Häuserdatenbank der Stadt könnte ein Paradebeispiel für das Zusammenwirken von Historikern und Archäologen werden. Die Fragestellung erscheint klar umrissen: Das Sammeln aller relevanten Informationen für jeden Hausplatz der Stadt mit dem Ziel, die Bau-, die Nutzungs- und die 14.11.2009 14:53:52 Uhr Unterschiedliche Quellen, ein Ziel Besitzergeschichte durch die Jahrhunderte zu erhellen. Aber es braucht eine intensive Zusammenarbeit, enge Diskussionen und vor allem fundierte Quellenkritik, denn: – Die Stadt verändert sich im Laufe der Jahrhunderte auf der Ebene der Hausplätze, der Parzellen erheblich. Dazu kommt die Verdichtung in der Form von Aufstockungen und Schliessung von Freiflächen (Zufahrt, Höfe, Hinterhäuser, Ehgräben, Hangkanten). Auch Gassenfluchten oder der genaue Verlauf von Quergässchen waren nicht sakrosankt, ebenso die Überbauung des öffentlichen Raumes mit Lauben. – Die archäologischen Quellen fehlen vielerorts, sei es, weil dort noch nicht gegraben wurde, sei es, weil spätere Umgestaltungen, vom barocken Keller bis zur Totalsanierung in den 50er Jahren des 20. Jh. die bestehende Substanz undokumentiert zerstört hat. – Viele – akademische wie nichtakademische – lokalgeschichtliche Arbeiten sind veraltet und müssen quellenkritisch überprüft werden. Das gilt genauso für archäologische und architekturhistorische Publikationen. Das Häuserbuch muss so quellennah wie möglich sein. – Kellerpläne wie der Kellerplan von Bern, die nicht befundorientiert sind, sondern eine rein planerische Momentaufnahme darstellen, dokumentieren kein Quäntchen mehr als den Bestand der Keller im Moment 19 ihrer Aufnahme. Derartige Kellerpläne sind als Quelle für mittelalterliche und frühneuzeitliche Zustände nicht brauchbar.28 – Viele archäologische Untersuchungen werfen mehr Fragen auf als sie beantworten, weil zentrale Elemente für die Interpretation, vor allem die absolute Datierung, auf wackligen Beinen stehen. – Ältere archäologische Untersuchungen entsprechen punkto Methode und Dokumentation nicht mehr dem heutigen Standard.29 Sie sind mit grosser Vorsicht zu geniessen und brauchen eine speziell intensive Quellenkritik. – Plan- und Bildquellen sind ein erstrangiges Mittel zur Erhebung von Informationen. Auch die Bildquellen sind genauso einer Quellenkritik zu unterziehen wie jede andere Sorte von Quellen. So darf man nie aus den Augen verlieren, dass die Zustände auf diesen Bildern nicht unbesehen über Jahrhunderte zurückgeschrieben werden können. Grundsätzlich sollte es das Ziel sein, schriftliche, bildliche und archäologische Quellen, Bauforschung inklusive, als eine Einheit anzusehen, die zusammen und gemeinsam auszuwerten sind. Nur so werden alle potentiellen Informationen zusammengetragen, alle Quellen ausgeschöpft.30 28 29 30 Buch SKAM 36.indd 19 Eggenberger/Stöckli 1983; Baeriswyl 2003a. Baeriswyl 1999. Andren 1998; Schreg 2007. 14.11.2009 14:53:52 Uhr 20 Bibliografie Quellen FRB 1883–1956 – Fontes Rerum Bernensium. Berns Geschichtsquellen bis 1390. 10 Bde., Bern 1883–1956. Sickinger (Umzeichnung Rodt) 1952 – Schuldirektion der Stadt Bern (Hg.), Gregorius Sickinger. Planvedute der Stadt Bern von Süden 1603–1607. Ölkopie von Johann Ludwig Aberli von 1752. Umzeichnung von Eduard von Rodt 1915, Bern 1952. Darstellungen Andrén 1998 – Anders Andrén, Between Artifacts and Texts. Historical Archaeologgy in Global Perspective (Contributions to Global Historical Archaeology), New York 1998. 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Baeriswyl, Bern 5 KDM BE 3 1947, 345 6 Hofer/Gassner/Mathez et al. 1982 7 Archäologischer Dienst des Kantons Bern (Eliane Schranz), bisher unpubliziert 8 Archäologischer Dienst des Kantons Bern (Federico Rasder) 9 Archäologischer Dienst des Kantons Bern (Christiane Kissling) 14.11.2009 14:53:52 Uhr Archäologie und Bauforschung in der Kleinstadt 21 Adriano Boschetti-Maradi Archäologie und Bauforschung in der Kleinstadt Methodische Möglichkeiten und Grenzen Die Stadtarchäologie versucht seit ihren Anfängen ein Bild der mittelalterlichen Stadt zu zeichnen.1 Von zentraler Bedeutung sind dabei Untersuchungen zur inneren Struktur und zur Organisation der einzelnen Wohn- und Wirtschaftsbauten sowie der ganzen Stadt: Welche Funktionen trugen die einzelnen Räume, in welcher Beziehung standen die Gebäude zueinander?2 Bei der archäologischen Untersuchung von Burgen und Klöstern wird solchen Fragen seit einigen Jahren grosse Aufmerksamkeit geschenkt.3 Für die Stadtarchäologie hingegen waren bis in die 1980er Jahre eher traditionelle siedlungsarchäologische Fragen, d.h. die Chronologie von präurbaner Besiedlung und Stadtgründung,4 sowie die Monumente der Stadtbefestigung und die städtischen Kirchen und Klöster von Interesse. Mit der Zeit gewannen Untersuchungen zur Bautechnik, zum mittelalterlichen Handwerk und zur städtischen Infrastruktur sowie zu Prozessen der Stadtentwicklung und Stadtplanung an Gewicht. Seit zehn bis zwanzig Jahren befasst sich die Stadtarchäologie vertiefter mit sozialund wirtschaftsgeschichtlichen Themen, z. B. mit Markt, Handel und Wohnkultur.5 Zur Methodik archäologischer Siedlungsanalysen Bei der Strukturanalyse von Siedlungen geht es sowohl um einzelne Gebäude als auch um die räumliche und funktionale Integration der einzelnen Bauten in die gesamte Siedlung. Der prähistorischen Archäologie stehen weder schriftliche Dokumente noch bestehende Bauten als Quellen zur Verfügung. Sie ist nahezu ausschliesslich auf Bodenfunde und Analogieschlüsse angewiesen. Deshalb präsentieren sich in der Ur- und Frühgeschichte gewisse methodische Probleme der archäologischen Bodenforschung deutlicher als in der Mittelalterarchäologie. In der Ur- und Frühgeschichte finden sich zwei grundsätzlich verschiedene Herangehensweisen für Siedlungsanalysen:6 1. Die Methode anhand der Verteilung mobiler Fundgegenstände auf die Lokalisierung bestimmter Tätigkeiten zu schliessen. Sie wird in der prähistorischen Archäologie Buch SKAM 36.indd 21 vielfach angewendet.7 Ein Beispiel ist die vollständig ausgegrabene Seeufersiedlung Greifensee-Böschen ZH, die nur wenige Jahre 1051–1042 v. Chr. bestanden hat. Die Ausgräber haben versucht, anhand der Verteilung bestimmter Typen von Fundobjekten unterschiedliche Funktionen der Bauten zu bestimmen, halten aber fest, dass die Verteilung des Fundmaterials keine Unterscheidung der Bauten nach ihrer Funktion erlaubt, also etwa die Benennung von Ökonomiebauten. Es lässt sich also nur ein Haustyp feststellen. Trotzdem können gewisse Aktivitätszonen lokalisiert werden: Die Kartierung der Fundorte z. B. von Webgewichten lässt auf mindestens vier Webstühle und von Trinkgefässen auf die gemeinschaftliche Funktion eines Hauses im Siedlungszentrum schliessen.8 Bei anderen Siedlungen, die länger besiedelt waren, keine Feuchtbodenerhaltung aufweisen und nicht vollständig untersucht sind, sind derartige Siedlungsanalysen deutlich schwieriger.9 Auch in der Mittelalterarchäologie sind solche Siedlungsanalysen erst bei einzelnen Ausgrabungen angewendet worden (z. B. bei der 1003–1034 bewohnten Seeufersiedlung Colletières bei Charavines in Savoyen, der Siedlung «Castello» bei Tremona TI, Grottenburg Riedfluh bei Eptingen BL).10 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Janssen 1987; Fehring 1996, 32–95. Kaspar 2004. Vgl. Sennhauser 1996. Sennhauser 1993. Vgl. Untermann 2000, 13,16; Röber 2006 (und weitere Beiträge in: ZfAM, 2006). Z.B. Pfrommer/Gutscher 1999; Baeriswyl 2003; Untermann 2004; Fritzsche/Gilomen/Stercken 2006. Bernbeck 1997, 181; Eggert 2000, 74–77. Besonders in den 1960er bis 1980er Jahren wurden im Bereich der Siedlungsanalysen anhand von Funden viele Theoriediskussionen geführt (Bernbeck 1997, 181–205). Eberschweiler/Riethmann/Ruoff 2007, 239–258 und 267f. Z.B. das Oppidum von Manching im Donautal, wo einzelne Handwerksbetriebe, wie Schmieden oder Holz verarbeitende Betriebe, durch Fundkartierungen nur unsicher lokalisierbar sind. Vom Oppidum Manching sind bisher höchstens 3% der 380 ha grossen Siedlungsfläche ausgegraben. Zudem war Manching relativ lange besiedelt, nämlich rund 170 Jahre von 250/230 bis 80/65 v. Chr. (Jacobi 1974). Ähnliches gilt für den Hallstattzeitlichen «Fürstensitz» Heuneburg im Donautal, von dem aber immerhin etwa 33% der Fläche untersucht sind (total 3 ha) und dessen mehrphasige Besiedlung höchstens 100 Jahre von etwa 570 bis 475 v. Chr. dauerte (Sievers 1984). Colardelle/Verdel 1993; Degen et al. 1988 (Riedfluh BL aufgrund des Fundspektrums wahrscheinlich nur kurzfristig im 12. Jahrhundert bewohnt); Martinelli 2008 (Tremona TI, 10. bis 13. Jahrhundert?). 14.11.2009 14:53:52 Uhr 22 Abb. 1 Die neolithische Siedlung Aichbühl im Federseemoor (BadenWürttemberg). Archäologie und Bauforschung in der Kleinstadt Baden-Württemberg: Erstes Beispiel ist die vollständig ausgegrabene Siedlung Aichbühl, die nach 4260 v. Chr. erbaut worden ist (Abb. 1).11 Die typischen Wohnhäuser der einzelnen Familien – fast alle der 22 Häuser – verfügten über einen Vorplatz und zwei unter dem First hintereinander angeordnete Räume. Im vorderen Raum stand ein Ofen, im hinteren Raum lag die Feuerstelle. Ein einzelnes Haus in der Mitte der Siedlung wies keine Feuerstelle, sondern nur einen Raum mit seitlichem Eingang auf. Es dürfte sich um ein zentrales Gemeinschaftshaus gehandelt haben. Zweites Beispiel ist die mit einer Palisade bewehrte spätbronzezeitliche Siedlung «Wasserburg» Buchau, die ebenfalls fast vollständig ausgegraben ist und in einer ersten Phase etwa 38 nur einen Raum grosse Häuser umfasst hat (Abb. 2).12 Die Funktionen der Häuser lassen sich nicht direkt bestimmen. Nur ein einzelnes Haus wies zwei Räume auf. In einer zweiten Bauphase wurde die Siedlung mit neun je drei bis sechs Räume grossen Gehöften neu angelegt. Es scheint, dass durchschnittlich vier einräumige Bauten zusammengelegt wurden, die bereits in der ersten Siedlungsphase eine Wirtschaftseinheit gebildet und deshalb vermutlich sich ergänzende Funktionen getragen hatten. Die Beispiele zeigen, dass Siedlungsanalysen einerseits bei einer überdurchschnittlichen Erhaltung der Holzbaureste und andererseits bei einer möglichst grossflächigen Untersuchung der ganzen Siedlung Erfolg versprechen. Kleinstädte als Objekte archäologischer Forschung Abb. 2 Die zwei Phasen der spätbronzezeitlichen Siedlung «Wasserburg» Buchau im Federseemoor (Baden-Württemberg). 2. Die zweite und häufigere Herangehensweise für Siedlungsanalysen ist der Versuch anhand einer architektonischen Evidenz die Siedlung oder das Gebäude in funktionale Einheiten aufzuteilen. Deutlich zeigen sich die Möglichkeiten derartiger Interpretationen bei zwei ausserordentlich gut erhaltenen Siedlungen aus dem Federseemoor in Buch SKAM 36.indd 22 Beobachtungen zur Siedlungsanalyse in der Ur- und Frühgeschichte lassen sich auf die Stadtarchäologie übertragen: 1. Siedlungsanalysen anhand von Funden werden in der Stadtarchäologie selten angewendet. Bei nur wenige Jahrzehnte lang besiedelten Stadtwüstungen versprechen derartige Untersuchungen vielleicht Erfolg.13 Auch die Untersuchungen in der befestigten Dorfwüstung «Castello» bei Tremona TI liefern interessante Resultate.14 2. Eine gute Erhaltung von Holzbauten ist für die Siedlungsanalyse und besonders für die Untersuchung der Wohn- und Wirtschaftsbauten von zentraler Bedeutung. Archäologische Untersuchungen in den Städten sollen daher nicht nur Ausgrabungen, sondern auch Bauuntersuchungen sein.15 11 12 13 14 15 Schmidt 1936; Kromer/Billamboz/Becker 1985, 246. Kimmig 1992. Vgl. Stephan 1997. Martinelli 2008. Untermann 2001; Boschetti-Maradi 2007. 14.11.2009 14:53:53 Uhr Archäologie und Bauforschung in der Kleinstadt 23 Abb. 3 Ludwig Georg Vogel (1788–1879) Bleistiftzeichnung der Stadt Sempach im Kanton Luzern 1832. 3. Für Siedlungsanalysen ist es von Vorteil, wenn nicht nur ein kleiner Ausschnitt, sondern ein möglichst grosser Teil einer Siedlung untersucht ist. Die Chance dazu ist bei flächenmässig kleinen Städten höher als bei flächenmässig grossen Städten. Stadtwüstungen, Städte mit einer überdurchschnittlichen Erhaltung der Holzbauten und flächenmässig kleine Städte können daher für die Stadtarchäologie von besonderem Interesse sein. Der Begriff Kleinstadt bezieht sich primär auf die geringe Grösse der Siedlung – «städtische Minderformen»16 ist ein allzu allgemeiner Begriff, weil darunter auch unbefestigte Flecken oder frühmittelalterliche Zentralorte zusammengefasst sind. Bei den Kleinstädten handelt es sich um befestigte Marktsiedlungen, die in den Schriftquellen Städte genannt werden. Zu den Kleinstädten zählen auch zahlreiche kleinflächige Stadtwüstungen, d. h. verödete Kleinstädte, sowie die «Bastides» Südwestfrankreichs und manche der im Rahmen des «Incastellamento» entstandenen Siedlungen in Italien.17 Meistens sind die mitteleuropäischen Kleinstädte Gründungen des 13. oder 14. Jahrhunderts, waren rechtlich abhängige Landstädte und hatten eine weniger differenzierte Sozialstruktur als mittlere oder Grossstädte, was sich in der Gestalt der Wohnbauten spiegelt.18 Vielfach waren Kleinstädte baulich Buch SKAM 36.indd 23 «begrenzt ausgestattet»; z. B. gibt es bei Kleinstädten kaum Stadterweiterungen oder vorreformatorische Ordensniederlassungen. Die bauliche Überlieferung ist in Kleinstädten bisweilen sehr gut, weil diese Gemeinwesen oft von Baukonjunkturen des 18. bis mittleren 20. Jahrhunderts verschont geblieben sind – es sei denn, ein Stadtbrand zerstörte die Stadt vollständig wie Huttwil BE 1834. Je nach Schätzung hatten in Mitteleuropa mindestens zwei Drittel der Städte weniger als 2’000 Einwohner. Knapp die Hälfte aller mittelalterlichen Städte ging im 14. oder 15. Jahrhundert aus wirtschaftlichen Gründen wieder ein oder wurde zerstört, wurde also zur Stadtwüstung.19 Gemessen an ihrer historischen Verbreitung sind Kleinstädte und Stadtwüstungen schlecht erforscht. Abgesehen von einzelnen Stadtwüstungen (in der Schweiz z. B. AltEschenbach LU, Sins-Meienberg AG, Pont-en-Ogoz FR, Alt-Weesen SG) sowie wenigen bestehenden Kleinstäd- 16 17 18 19 Vgl. LexMA 6, 633f. Stephan 1997. Italien: Brogiolo/Gelichi 1998. Jecht 1926; Abel 1978; Bickel 1992, 210–222; Fehring 1996, 96–102; Stercken 2006. Es gibt Ausnahmen: Die Stadt Rheinau ZH entwickelte sich vermutlich neben dem im 9. Jahrhundert gegründeten Kloster, beherbergte Ministerialien und zählte im 15. Jahrhundert kaum mehr als 50 Haushalte. Ammann 1956; Stoob 1970; Flückiger 1983/84; Isenmann 1988. 14.11.2009 14:53:54 Uhr 24 Abb. 4a Wiedlisbach in der Chronik des Johann Stumpf 1547. Abb. 4b Flugaufnahme von Wiedlisbach im Kanton Bern im Jahr 1976. ten (in der Schweiz z. B. Zug, Sempach und Willisau LU, Unterseen und Wiedlisbach BE) befasste sich die Schweizer Stadtarchäologie vorzugsweise mit grösseren und mittelgrossen Städten.20 Dies ist bedauerlich, denn vielleicht eignet sich – abgesehen von prähistorischen Feuchtbodensiedlungen – in unseren Breitengraden kein anderer Siedlungstyp so gut für die Untersuchung der inneren Struktur wie die Kleinstadt. Bauforschung und Archäologie der Wohn- und Wirtschaftsbauten Die Siedlungsanalyse beginnt mit der Untersuchung der einzelnen Wohn- und Wirtschaftsbauten. Dabei geht es – nach der Klärung der Baugeschichte – um Buch SKAM 36.indd 24 Archäologie und Bauforschung in der Kleinstadt Fragen der Funktionen der Bauten und ihrer Räume. Bauforschung in der Kleinstadt ist vor allem Holzbauforschung. Abgesehen von einigen obrigkeitlichen bzw. öffentlichen Bauten und der Stadtbefestigung bestanden die mitteleuropäischen Kleinstädte nahezu ausschliesslich aus Holzbauten.21 Das Bild der Stadt Sempach LU zeigt noch im Jahr 1832 eindrücklich die Fassaden von Ständerbauten (Abb. 3), die bei mancher Stadt schon der jüngere Diebold Schilling in seiner 1513 vollendeten Luzerner Bilderchronik dargestellt hat.22 Beim Städtchen Wiedlisbach BE, in dem seit 1984 wiederholt archäologische Untersuchungen durchgeführt worden sind, zeigt sich eindrücklich, wie viel Substanz aus der Zeit der Stadtansicht in der eidgenössischen Chronik des Johannes Stumpf von 1547/48 noch heute vorhanden ist (Abb. 4a und 4b).23 Nur einzelne Bauwerke waren in Stein gebaut, nämlich die Ringmauer mit den beiden Tortürmen, die Kapelle St. Katharina, das Kornhaus und der so genannte Städtliturm in der Nordwestecke (stadtherrliche Niederlassung), vielleicht auch das Rathaus, das archäologisch nicht untersucht ist. Alle anderen Wohnund Wirtschaftsbauten innerhalb der Ringmauer waren hölzerne Ständerbauten. Der dreiraumtiefe Ständerbau – Beispiele aus der Stadt Zug Anhand von Beispielen aus der Stadt Zug soll dargelegt werden, in welche Richtung die Untersuchungen an den Wohn- und Wirtschaftsbauten führen können. Zug – 1242 erstmals als oppidum erwähnt – war seit 1273 Teil des habsburgischen Städtenetzes und wurde 1415 unabhängig. Innerhalb der Stadtmauern fand spätestens im 14. Jahrhundert der Markt statt. Der Ort begann sich ab 1379 ein kleines Untertanengebiet zu erwerben. 24 Die Stadt Zug (Abb. 5) ist eine der archäologisch am intensivsten untersuchten Städte mit einem reichen Bestand an Holzbauten des späten 14. und 15. Jahrhunderts. Toni Hofmann begann in der Stadt Zug bereits im Jahr 1972 sowohl mit Ausgrabungen als auch mit Bauuntersuchungen. Seither wird nahezu jedes Bauvorhaben zumindest archäologisch begleitet.25 In der Altstadt (Fläche ca. 1,8 ha) sind von insgesamt 96 Liegenschaften über 20 21 22 23 24 25 Rahn 1889; Meckseper 1982; Drack 1992; Rickenbach 1995; Stephan 1997; Eggenberger 2002; Bourgarel 2004. Ausführlicher dazu: Gutscher 2001. Z.B. Pfaff 1991, 37. Boschetti-Maradi/Portmann 2004. Zur Stadtgeschichte: Gruber 1968; Gruber 1982; Stercken 2006, 45–48. Boschetti-Maradi 2007, 108. 14.11.2009 14:53:55 Uhr Archäologie und Bauforschung in der Kleinstadt 25 Abb. 5 Flugaufnahme der Stadt Zug um 1919. Direkt am See liegt die von einer bogenförmig verlaufenden Häuserzeile umgebene Altstadt. Weiter ausgedehnt und von einer polygonalen Ringmauer mit Zylindertürmen umgeben ist die Stadterweiterung von 1478 bis 1536. 22% eingehend und weitere 56% teilweise archäologisch und bauanalytisch untersucht. Vor drei Jahren hat sich die Kantonsarchäologie Zug zum Ziel gesetzt, die zahlreichen Untersuchungen auszuwerten. Der Umbau des Hauses Oberaltstadt 13 in Zug im Herbst 2006 war aus archäologischer Sicht ein Glücksfall.26 Im Boden fanden sich ausserordentlich gut erhaltene Spuren der Bebauung des 13. und 14. Jahrhunderts. Der jüngere der im Boden ablesbaren Hausgrundrisse, ein gemäss C14-Datierungen und eines dendrochronologischen Datums nicht vor 1251 errichteter Ständerbau auf Schwellen, liess sich am besten fassen (Abb. 6).27 Das Gebäude wurde um 1340 über gleichem Grundriss vollständig erneuert und brannte 1371 ab. Es stand zwischen dem Ehgraben im Westen und der Gasse im Osten und umfasste die ganze heutige Parzellenfläche von 9,3 x 5,7 m. Sein dreiraumtiefer Grundriss ist überaus typisch für die meisten ländlichen und städtischen Ständerbauten (z.B. Stolzengraben in Zug um 1442, Rathausstrasse 6/8 in Baar von 1470, Blickensdorferstrasse 21 in Baar um 1516).28 Die Räume des Vorgängerbaus von Oberaltstadt 13 lassen sich wie folgt bestimmen: – Zwischen Küche und Gasse war die Stube angeordnet, die sich definitorisch durch den Kachelofen, der eine rauchfreie Beheizung des Raumes gewährleistet, auszeichnet. Ausserdem weist sie einen Holzboden und Holzwände auf und lässt sich nicht direkt von aussen, sondern nur durch einen Vorraum betreten. Vom Buch SKAM 36.indd 25 Kachelofen selbst stammen Bruchstücke des Lehms und der Kacheln, die sich ungefähr in die Zeit um 1340 datieren lassen.29 Der Raum südlich neben der Stube diente als Eingang und vielleicht auch als Werkstatt. – In der Mittelzone lagen der Korridor, die Treppe und vor allem die Küche mit der Herdstelle auf Bodenhöhe. Das Schürloch und der Rauchabzug des Kachelofens in der benachbarten Stube waren zur Herdstelle hin ausgerichtet, wodurch sich im Haus nur an einem Ort Rauch entwickelte. – Im hinteren Drittel des Hauses befand sich eine weitere Kammer. Die Untersuchung des Hauses Vorstadt 14 in Zug in den Jahren 1999 bis 2004 lieferte Hinweise für die Rekonstruktion der «dritten Dimension» eines derartigen dreiraumtiefen Hauses.30 Das zweigeschossige Haus steht in einer Häuserzeile in der seit dem 14. Jahrhundert erwähnten 26 27 28 29 30 JbAS 2007, 202. Mitteilung von Martin Schmidhalter vom 19. 2. 2009 (Dendronrn. 91871 und 91872). Bei der 75 Jahrringe messenden Fichtenschwelle wurden zwei C14-Messungen von Jahrringen im Abstand von 30 Jahren vorgenommen. ETH-36806: 905 ± 35 BP (OxCal v3.10 2005: 1 sigma 68,2 % 1040–1100 und 1110–1180). ETH-34733: 840 ± 45 BP (OxCal v3.10 2005: 1 sigma 68,2 % 1160–1255). Rothkegel 1999; Roth Heege 2004, 94–100; JbAS 2008, 270f. Vgl. Furrer 1994, 133; Boschetti-Maradi/Hofmann 2006, 186f. Vgl. Kachelfunde von Rohrberg bei Auswil BE vor 1337 (Tauber 1980, 167– 172), Alt-Rapperswil bei Altendorf SZ vor 1350 (Tauber 1980, 214f.) und Madeln bei Pratteln BL vor 1356 (Marti/Windler 1988). JbSGUF 2005, 395f.; Tugium 2005, 46f. 14.11.2009 14:53:55 Uhr 26 Archäologie und Bauforschung in der Kleinstadt Abb. 6 Zug, Oberaltstadt 13. Dreiraumtiefer Grundriss des Schwellenbaus nach 1291 bis 1371 aufgrund der Ausgrabungen 2006. Massstab 1:100. Siedlung Stad nördlich der ummauerten Altstadt am Seeufer und wurde gemäss dendrochronologischer Untersuchungen um 1390 erbaut. Es war mit einem in die Ständerkonstruktion eingebundenen, schwach geneigten Dach bedeckt, dessen Traufe an der Gasse lag. Der Dachraum erhielt sein Volumen vor allem durch einen so genannten Kniestock zwischen der Decke des Obergeschosses und dem Binder- oder Dachbalken. Auch hier zeigt sich der typische dreiraumtiefe Aufbau (Abb. 7). – An der Gasse befanden sich im Erdgeschoss der Eingang und die Stube, darüber Kammern. – Der Mittelraum mit Küche und Korridor wies keinen Zwischenboden und keinen Kamin auf. Der Rauch entwich also frei durch das Dach. – Der hintere Hausteil mit zwei übereinander angeordneten Räumen wurde im 15. Jahrhundert «versteinert». Man ersetzte hier die Bohlenwände durch Mauerwerk, vielleicht aus Gründen des Brandschutzes. Es ist anzunehmen, dass es sich im hinteren Hausteil nicht um Wohnräume, sondern um eher Lagerräume handelte. Der geschilderte dreiraumtiefe Haustyp findet sich auch in typologisch jüngeren, dreigeschossigen Ständerbauten wieder, von denen es aus der Zeit ab 1371 in der Stadt Zug Buch SKAM 36.indd 26 eine ganze Reihe gibt.31 Bei diesen Häusern ist das Erdgeschoss als separates Stockwerk abgezimmert, auf dem der zweigeschossige und zur Gasse hin vorkragende Ständerbau ruhte. Solche dreigeschossigen Häuser waren in süddeutschen und Schweizer Städten (z. B. Sempach und Willisau LU) seit dem späten 13. Jahrhundert bekannt.32 Die Räume der drei Geschosse lassen sich bei einzelnen Häusern aus der Stadt Zug funktional bestimmen: 1. Im Erdgeschoss war in der Regel keine Feuerstelle eingerichtet, denn der Rauch konnte ohne Kamin gar nicht durch den darüber liegenden Ständerbau abziehen. Meistens war das Erdgeschoss als Halle ausgebildet, die als Lagerraum, Stallung oder Verkaufslokal gedient haben dürfte. Feuerstellen sind bei Ausgrabungen in diesen Häusern daher kaum zu finden. 31 32 Z.B. das 1371 errichtete Haus Unteraltstadt 16 oder das um 1380/90 errichtete Haus Grabenstrasse 26 (Streitwolf 2000; JbAS 2006, 290; Tugium 2006, 42). Lohrum 1992, 254, 258; JbHGLU 1996, 102–114; Untermann 2001, 338; Eggenberger 2002, 74–95; Uhl 2004. 14.11.2009 14:53:55 Uhr Archäologie und Bauforschung in der Kleinstadt 27 Abb. 7 Zug, Vorstadt 14. Querschnitt durch den um 1390 erbauten dreiraumtiefen Bohlen-Ständerbau aufgrund der Bauuntersuchungen 1999 bis 2004. Massstab 1:100. 2. Besonders günstige Fundumstände und detaillierte Bauuntersuchungen erlauben bisweilen die funktionale Deutung der Räume im Obergeschoss: In den beiden Häusern St.-Oswalds-Gasse 10 von 1447 (Abb. 8) und Oberaltstadt 13 von 1472 fanden sich im Lehmestrich unter dem Bretterboden bzw. an den Bohlenwänden in der gassenseitigen Stube Hinweise auf den Standort des originalen Kachelofens. Im Mittelraum daneben fanden sich weitere Hinweise auf den Standort des Kochherds. Damit sind die Deutung der gassenseitigen Kammer im ersten Obergeschoss als Stube und die Lokalisierung der Küche gesichert. Damit ergibt sich für das erste Obergeschoss die gleiche Raumaufteilung wie beim zweigeschossigen dreiraumtiefen Ständerbau. Bei mehreren Stuben wurden zudem die seitlichen Bohlenwände bemalt.33 Buch SKAM 36.indd 27 3. Für die Nutzung der Kammern im zweiten Obergeschoss liegen weniger gesicherte Hinweise vor. Im Haus Oberaltstadt 8 wurden im Verlauf der Bauuntersuchung 2005 Einblattdrucke entdeckt, die nach 1524 an die Bohlenwand der Kammer auf der Seite des Ehgrabens geklebt waren. Man denkt an die berühmte Darstellung in der Luzerner Bilderchronik des jüngeren Diebold Schilling von 1513, auf welcher der ehemalige Söldner Hans Spiess aus Ettiswil seine schlafende Gattin erdrosselt. Neben dem Bett, einer Truhe und dem Nachttopf findet sich in der Schlafkammer ein Einblattdruck mit einem Kruzifixus über 33 In der Stadt Zug sind einige sakrale und profane Bohlenmalereien vor allem der Zeit um 1520–1540 bekannt (Twerenbold 2004, 123f.). 14.11.2009 14:53:56 Uhr 28 Archäologie und Bauforschung in der Kleinstadt Abb. 8 Zug, St.-Oswalds-Gasse 10 (Bauuntersuchung 2007). Der Mörtelestrich unter dem Bretterboden in der Stube im ersten Obergeschoss, datiert 1447. Deutlich zeichnen sich am hinteren Rand die Negative der Schwellen eines Kachelofens ab. Dahinter befand sich die Küche. dem Bett.34 Die Deutung der Kammern im zweiten Obergeschoss als Schlafkammern ist aufgrund dieser Vergleiche naheliegend. Ein weit verbreiteter Haustyp und seine Funktion Der ebenerdige dreiraumtiefe Hausgrundriss ist im ländlichen Holzbau des schweizerischen Mittellandes bis ins 18. Jahrhundert weit verbreitet.35 Spuren dreiraumtiefer Hausgrundrisse des 13. und 14. Jahrhunderts fanden sich bei Ausgrabungen in vielen Schweizer Städten, z. B. in Laufen BL, Bern, Wiedlisbach, Unterseen36 oder Burgdorf BE. Es scheint, dass andere Bautypen, wie das zweiraumtiefe Holzhaus37 oder der Steinbau, im Vergleich dazu seltener waren. In der Burgdorfer Unterstadt wurden bei dreizonigen Grundrissen die gemauerten Teile im rückwärtigen Bereich der Parzellen trotz geringer Befunde am aufgehenden Bestand als ehemals frei stehende Kernbauten der Zeit nach 1280 gedeutet (ähnlich auch in Winterthur).38 Diese «Wohntürmchen» sind jedoch nicht mit den grösseren Wohntürmen zu vergleichen, wie sie etwa am Neumarkt in der Stadt Zürich nachgewiesen sind.39 Die geringe Fläche erlaubt nicht die Einrichtung einer mit einem Kachelofen Buch SKAM 36.indd 28 rauchfrei beheizten Stube, wozu ja ein Vorraum auf dem gleichen Geschoss notwendig wäre.40 Vermutlich handelte es sich bei den vermeintlichen Wohntürmchen um gemauerte im rückwärtigen Teil der Häuser angeordnete Räume innerhalb grösserer, dreiraumtiefer Holzbauten. Eine besondere Parallele ist das 1564–78 erbaute Haus Köpli in Schwyz. Es handelt sich um einen Blockbau, dessen «Küchenkammern» im Hinterhaus gemauert sind, während die Stube wie üblich im hölzernen Vorderhaus liegt.41 Die Rekonstruktion der dreiraumtiefen Hausgrundrisse mit 34 35 36 37 38 39 40 41 Pfaff 1991, 208; JbAS 2006, 290f.; Tugium 2006, 45–47. Jäggin 2008. Die Unterseener Bebauung lässt sich mit jener in mittelländischen Städten vergleichen (Gutscher 2001, 24). Z.B. Sempach LU, Gerbegasse 3 (JbHGLU 1996, 104–109). Die einprägsame Burgdorfer Rekonstruktionszeichnung mit steinernen Wohntürmchen an der Rückseite der Parzellen zeigte grosse Wirkung. In diesem irrtümlichen Sinn habe auch ich früher die Burgdorfer Bauten und ähnliche Häuser aus Wiedlisbach BE gedeutet. Baeriswyl/Gutscher 1995; Boschetti-Maradi 2003; Boschetti-Maradi/Portmann 2004, 30. Zu Winterthur: Wild 2002, 10. Schneider 1989. Zur gegenseitigen Abhängigkeit von Küche und Stube: Bedal 2007. Gollnick/Michel/Wadsack 2005. 14.11.2009 14:53:57 Uhr Archäologie und Bauforschung in der Kleinstadt kleinen Kernbauten an der Rückseite der Parzelle muss nach dem Vergleich mit Häusern, deren Holzbauteile gut überliefert sind, angezweifelt werden. Nicht nur Untersuchungen in der Stadt Zug zeigen, dass die Holzbauten oft älter als die ersten Mauern sind. Häufiger als aufgrund lückenhafter Grabungsfunde vermutet, folgte die erste städtische Bebauung der Gassenflucht und nicht der Rückseite der Parzelle. Darauf weisen neben den ältesten Funden in der Zuger Altstadt aus dem frühen 13. Jahrhundert beispielsweise auch Spuren aus Villingen und Ravensburg hin. 42 Die Stuben sind im städtischen Wohnhaus generell direkt an der Gasse zu suchen, was Funde des 13. Jahrhunderts von der Metzggasse in Winterthur ZH und vom Rathausplatz in Laufen BL belegen.43 In der mitteleuropäischen Kleinstadt dürfte seit dem 13. Jahrhundert eine durchgehende Zeilenbebauung mit etwa 12 bis 18 m tiefen und etwa 5 bis 9 m breiten Ständerbauten weit verbreitet gewesen sein. Aus methodischer Sicht ist folgendes Fazit wichtig: Wenn Bauten mit unvollständiger Holzerhaltung nur aus sich heraus interpretiert werden, besteht die Gefahr, dass überregionale Grundzüge im Wohnbau nicht erkannt werden. Nicht nur in der Ur- und Frühgeschichte, sondern auch in der Mittelalterarchäologie ist der Analogieschluss also unentbehrlich für eine Rekonstruktion des Bestandes. Neben der Deutung der einzelnen Räume eines Hauses sind die funktionale Bestimmung ganzer Bauten und die Struktur der Siedlung weitere Ziele der Siedlungsanalyse. Der dreiraumtiefe Haustyp erfüllte wahrscheinlich verschiedene Funktionen. Es ist anzunehmen, dass wir anhand archäologischer Funde allein Wirtshäuser nicht von Bäckereien unterscheiden können. Besondere Funktionen können nur dann erkannt werden, wenn ausnahmsweise vom «Normaltyp» abweichende Spuren vorhanden sind. Dabei kann es sich z. B. um den Fund eines Töpferofens, was die Identifikation einer Hafnerei erlaubt, oder um den Fund einer Feuerstelle mit Wasserkanal – wie in Willisau – handeln, was die Deutung als Badstube wahrscheinlich macht.44 Einen anderen Fall stellen jene Steinbauten dar, die ausserordentlich gross oder mit Bauornamentik geschmückt sind (Abb. 9). Hier könnte es sich die Bauten sozial höher gestellter Bewohner, etwa der stadtherrlichen Vertreter, oder um öffentliche oder kirchliche Bauwerke gehandelt haben.45 Eine überregionale Typologie des städtischen Wohn- und Wirtschaftsbaus könnte vielleicht helfen, zu konkreteren Aussagen zu gelangen. Buch SKAM 36.indd 29 29 Abb. 9 Zug, Unteraltstadt 34. Fenster im Erdgeschoss mit wahrscheinlich zugehörigem, aber verkehrt eingesetztem Mittelpfosten der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Lichte Höhe 83 cm. Zu beachten ist die Qualität der Steinbearbeitung im Mauerwerk. Die Deutung des ausserordentlichen Fundes in Bezug auf die ehemalige Funktion des Gebäudes ist unklar. Der Beitrag der Schriftquellen für unser Stadtbild Da eine funktionale Deutung der Wohn- und Wirtschaftsbauten bisweilen schwierig ist, stellt sich die Frage, ob einzelne Häuser anhand von Schriftquellen identifiziert und so bestimmt werden können.46 Schriftquellen liefern ein anderes Bild der Vergangenheit als archäologische Funde. Dies illustrieren drei historische Ereignisse, die für das Bild der gebauten Stadt Zug bedeutend sind: 1. Schriftquellen berichten über die eidgenössische Belagerung der Stadt Zug ab dem 8. Juni 1352. Die Eidgenossen – allen voran die Zürcher – sollen schweres Belagerungswerkzeug eingesetzt haben. Nach zwei 42 43 44 45 46 Uhl 2007. Vielleicht sind die Seitengrenzen der Parzellen jünger als die Hauptbaulinien entlang von Gassen und Ehgräben. Matter/Wild 1997, 78; Pfrommer/Gutscher 1999, 108–120. Vgl. Uhl 2007. Badstube Chilegass 15 in Willisau LU (Eggenberger 2002, 154–158); Töpferofen Oberaltstadt 4 in Zug (Roth Heege 2007). Biforie im Haus Unteraltstadt 34 in Zug (Grünenfelder/Hofmann 1984; Kettler/Kalbermatter 1997, 134f.). Für die Beurteilung der Inschrift danke ich Sebastian Scholz, Universität Zürich. Vgl. den Städtliturm in Wiedlisbach BE (Boschetti-Maradi/Portmann 2004, 25–27). Vgl. dazu: Schreg 2007, 13–16. 14.11.2009 14:53:57 Uhr 30 Abb. 10 Der Untergang der Altstadt von Zug am 4. März 1435 auf einer Bildscheibe des Adam Zumbach, gestiftet von Hans Paul Stocklin und Maria Jakobea Hurter 1683. Inschrift: «Zug den 4 Mertz/Anno 1535 [sic!] fritag nach alter fasnacht/Der halbe teil der Alten Statt,/ versunke vast um miter nacht./Darin vill mentschen gros vund klein/ Ertranken, blib ein kind Alein.» Wochen wurde die Stadt zur Übergabe gezwungen.47 Der Stadtherr Herzog Rudolf IV. von Habsburg liess 1359 die Zuger Stadtbefestigung ausbessern oder erneut verstärken.48 Anhand von Brandspuren, dendrochronologisch datierten Hinweisen auf den Wiederaufbau ab 1353 sowie eines Belagerungsstollens unter dem Bergfried lassen sich diese Ereignisse an der Burg Zug, die damals noch vor den Toren der Stadt stand, archäologisch erfassen.49 In der Stadt Zug hingegen fehlen gesicherte Spuren der Belagerung. Die Stadtbefestigung wurde zwar im 14. Jahrhundert mehrfach ausgebessert und ausgebaut. Die einzelnen Baumassnahmen lassen sich aber nicht genügend präzise datieren, um sie sicher mit 1352 in Verbindung bringen zu können.50 2. Anders ist Überlieferung im Fall eines Stadtbrandes, der sich nur anhand archäologischer Indizien vermuten lässt. Erstens fanden sich in der Stadt Zug mancherorts Spuren einer verheerenden Feuersbrunst, die über die einzelnen Grundstücke hinaus reichen und daher nicht als Reste eines lokalen Ereignisses zu deuten sind. Zweitens gibt es in der Stadt Zug – mit Ausnahme einer Balkenlage im Innern des Cheibenturms – keine Holzkonstruktion, die sich vor 1371 datieren lässt, während Buch SKAM 36.indd 30 Archäologie und Bauforschung in der Kleinstadt ab 1371 aus der ganzen Altstadt dendrochronologische Datierungen in grosser Dichte vorliegen: 1371 (Grabenstrasse 4/Lughaus und Oberaltstadt 4), 1372 (Fischmarkt 5/7, Unteraltstadt 16 und Unteraltstadt 21/23), 1373 (Grabenstrasse 42/44), um 1380–90 (Grabenstrasse 26).51 Dies dürfte auf einen Stadtbrand 1371 und den darauf folgenden Wiederaufbau hinweisen. Trotz des Stadtbrands behielt die Parzellierung der Stadt bis heute eine erstaunliche Kontinuität. Ein Stadtbrand wird indessen in keiner Schriftquelle erwähnt. Das älteste erhaltene Jahrzeitenbuch der Pfarrkirche St. Michael beginnt aber nach einem Vergleich der hauptsächlichen Handschrift mit derjenigen in Zuger Urkunden ab 1370.52 Der Grund für eine Neuanlage des Jahrzeitenbuchs, das ja zum Teil eine Art Hypothekenbuch ist, könnte in einer durch den Stadtbrand erzwungenen Verschriftlichung der Besitzverhältnisse in der Altstadt liegen. 3. Ein drittes Beispiel für die quellenspezifisch unterschiedliche Überlieferung ist der Zuger Seeabbruch vom 4. März 1435. Damals rutschte ein Teil der Altstadt überraschend in den Zuger See ab. Über das Ereignis und die darauf eingegangenen Hilfeleistungen berichten das Bürgerbuch der Stadt Zug und das Jahrzeitenbuch von St. Michael (Abb. 10).53 Aus archäologischer Sicht ist der Nachweis der Katastrophe hingegen schwierig. Die im Bodenprofil erkannte Abbruchkante wäre ohne historische Überlieferung vielleicht nicht als Hinweis auf ein derartiges Ereignis gedeutet worden.54 Die Baumassnahmen am Cheibenturm, womit 1439 die offen stehende Nordwestseite mit einem Wehrturm und einer Sperrmauer neu befestigt worden ist, lassen sich vermutlich auch nur im Licht der Schriftquellen als Folgen des Seeabbruchs deuten.55 47 48 49 50 51 52 53 54 55 Glauser 2002, 103–115, besonders 110. Henggeler, Schlachtenjahrzeit, 66, 287f.; Gruber/Iten/Zumbach 1952–1964, Nr. 36 (21.8.1359); Glauser 2002, 104, 106; Stercken 2006, 46. Meyer 1996, 53; Grünenfelder/Hofmann/Lehmann 2003, 78–91; Roth Heege 2005; Boschetti-Maradi/Hofmann 2006. Z.B. der Ersatz der vielleicht beschädigten Ringmauer bei den Häusern Grabenstrasse 22–30 und der Zwingermauer im Norden der Altstadt (Kolinplatz 4). Vgl. Boschetti-Maradi/Hofmann/Holzer 2007, 114–118. Aklin/Horat 1993, 18; Tugium 1995, 40; Tugium 2006, 42; Streitwolf 2000, 103f.; JbAS 2006, 290; Boschetti-Maradi/Hofmann/Holzer 2007, 116. Ferner: Archiv der Kantonsarchäologie Zug. Gruber 1957, 17f. Gruber 1957, 80; Gruber/Iten/Zumbach 1952–1964, Nr. 795. Vgl. auch: Birchler 1959, 405; Bergmann 2004, Kat. 238. Tugium 2008, 46–48 (Unteraltstadt 14a). Boschetti-Maradi/Hofmann/Holzer 2007, 126f. 14.11.2009 14:53:58 Uhr Archäologie und Bauforschung in der Kleinstadt Die schriftlichen und die archäologischen Quellen ergänzen sich in allen drei Fällen und geben den historischen Ereignissen ein unterschiedliches Gewicht. Es ist zu vermuten, dass dies auch dann der Fall wäre, wenn wir neben eine archäologische Rekonstruktion der Stadt des 13. oder 14. Jahrhunderts ein Bild der Stadt aufgrund von Informationen aus Schriftquellen jener Zeit stellen könnten. Gerade deshalb wäre ein «historisches Stadtbild»56 für die Stadtarchäologie sehr aufschlussreich. Wo fand gemäss historischer Überlieferung z. B. der Markt statt, in welchem Gebäude war das Rathaus untergebracht? Für die Zuger Stadtarchäologie sind die schriftlichen Hinweise auf die städtische Topografie – besonders vor dem Seeabbruch 1435 – von grösstem Interesse. Allerdings fliessen die Schriftquellen 31 in der Stadt Zug bis ins späte 15. Jahrhundert spärlich.57 Eine Ausnahme bilden neben Urkunden einzig die Jahrzeitenbücher der Pfarrkirche aus der Zeit ab etwa 1370. Dort sind Hausbesitzer erwähnt sowie der Markt (und ein alter Markt), Mühlen, die Namen von drei parallelen Gassen, die Schifflände, eine Badstube etc.58 Diese Hinweise müssten aufgrund ihrer gegenseitigen Beziehung im Rahmen eines historischen Stadtkatasters genau lokalisiert werden, um sie für die Archäologie nutzbar zu machen.59 Nicht nur die Stadt Zug, sondern auch andere Kleinstädte zeichnen sich leider durch eine spärliche schriftliche Überlieferung geradezu aus.60 Dies scheint die Kehrseite der aus archäologischer Sicht in mancher Kleinstadt ausserordentlich günstigen Quellenlage zu sein. 56 57 58 59 60 Buch SKAM 36.indd 31 Vgl. z. B. Gerber 2003, Abb. 254. Erst im Jahr 1471 beginnen die Ratsprotokolle, 1597 die Bauamtsrechnungen, ungefähr 1673 die Protokollbücher der Grundpfandversicherung, 1681 die Protokollbücher der Kauf- und Tauschverschreibungen und 1813 die Lagerbücher der Gebäudeversicherung. Regesten der Ratsprotokolle sind in einer Datenbank erfasst. Die anderen Quellen im Staatsarchiv Zug (E50/500001–500005 und 50018–50020) und im Bürgerarchiv Zug (A2/19). Vgl. dazu: Dittli 2007. Gruber 1957. Der Historiker Thomas Glauser hat für die Erfassung der lokalisierbaren Einträge in den Jahrzeitenbüchern 2005 ein Konzept für die Kantonsarchäologie Zug verfasst. Sydow 1992, 27. 14.11.2009 14:53:58 Uhr 32 Bibliografie Quellen Archiv der Kantonsarchäologie – Archiv der Kantonsarchäologie Zug (Untersuchungsberichte). Bürgerarchiv Zug – Bürgerarchiv Zug (A2/19). Gruber/Iten/Zumbach 1952–1964 – Eugen Gruber/Albert Iten/Ernst Zumbach (Hg.), Urkundenbuch von Stadt und Amt Zug vom Eintritt in den Bund bis zum Ausgang des Mittelalters 1352–1528, Zug 1952–1964. Henggeler 1940 – Rudolf Henggeler (Hg.), Das Schlachtenjahrzeit der Eidgenossen nach den innerschweizerischen Jahrzeitbüchern (Quellen zu Schweizer Geschichte N. F. 2. Abteilung Akten 3), Basel 1940. 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Zeichnung (8) Markus Bolli 9 Kantonsarchäologie Zug, Foto Toni Hofmann 10 Museum Burg Zug Inv.-Nr. 8587 14.11.2009 14:53:58 Uhr Buch SKAM 36.indd 34 14.11.2009 14:53:58 Uhr L’image de Fribourg en 1200: entre vue de l’esprit et réalité 35 Gilles Bourgarel L’image de Fribourg en 1200: entre vue de l’esprit et réalité Originaire d’Italie, la tradition de la vue cavalière des villesétats s’est largement diffusée dans les pays germaniques et elle connut un véritable succès dans les villes suisses aux XVIe et XVIIe siècles. A Fribourg, l’image de la ville est devenue une véritable icône connue et reconnue de tous depuis la diffusion des gravures de Martin Martini (1606 et 1608).1 Dès lors, il n’est pas surprenant qu’on ait essayé très tôt de proposer une restitution graphique de la ville à ses origines. 1944: l’ère des certitudes En 1944, l’architecte Augustin Genoud publiait une «vue de Fribourg au XIIe siècle» (fig. 1) et présentait un «plan de la ville en 1157»2 (fig. 2), l’année de sa fondation dont la date avait été découverte vingt ans plus tôt grâce à de méticuleux recoupements, par l’historien Pierre de Zurich.3 Ce n’est pas par hasard si cet architecte, excellent dessinateur, a choisi de représenter le Bourg de fondation dans une vue cavalière du sud, soit presque sous le même angle de vue que celui adopté par Martin Martini et avant lui, par Grégoire Sickinger en 1582.4 S’appuyant sur les travaux de Pierre de Zurich et sur la Handfeste de 1249,5 qu’Augustin Genoud a pris à la lettre, il a disposé des maisons isolées dans les aires de soixante par cent pieds,6 soit de 17,60 m par 29,30 m, implantées parallèlement aux axes principaux de la ville, la Grand-Rue, la rue du Pont-Suspendu et la rue des Chanoines prolongées par la rue des Bouchers. Il a entouré ces quarante maisons et leurs dépendances par de puissantes murailles, renforcées à l’ouest par le château zaehringien doté de sa tour maîtresse habitable, d’un puits et de dépendances, le tout également ceint d’une muraille indépendante de celle de la ville. Notons que ces enceintes sont détachées du domaine bâti et du parcellaire de manière à laisser un espace défensif libre selon les préceptes de Vitruve. Cette ville apparaît comme une véritable citadelle qui abritait quelques 200 à 250 habitants au milieu de laquelle trône la première église SaintNicolas dotée d’une nef à bas-côtés, d’un transept et d’un chœur à chevet plat sur le modèle de l’église d’Hauterive, alors en construction. Cette représentation a déjà été contestée par Marcel Strub en 1957 dans sa description de la ville à ses origines où il qualifie la proposition d’Augustin Genoud de «cité jardin avant l’heure»,7 alors que les maisons Buch SKAM 36.indd 35 Fig. 1 Vue de Fribourg au XIIe siècle. Fig. 2 Plan de Fribourg au XIIe siècle. Essai de reconstitution. avaient du être construites en ordre contigu dès l’origine. Il y conteste également la présence d’une enceinte enserrant le Bourg primitif, conformément aux conclusions que Pierre de Zürich tirait déjà en 19248 et que reprenait Heribert Reiners en 1930.9 Augustin Genoud, qui connaissait par 1 2 3 4 5 6 7 8 9 Lauper 1997, 3–15. Genoud 1944, 1–18. De Zurich 1924, 21–92. Encre de chine et détrempe sur papier entoilé (210 x 4120 cm), exposé au Musée d’Art et d’Histoire, Fribourg. Lehr 1880, 134. Dubler 1975, 13–18 Strub 1957, 345–351. De Zurich 1924, 206. Reiners 1930, 8. 14.11.2009 14:53:58 Uhr 36 L’image de Fribourg en 1200: entre vue de l’esprit et réalité Fig. 3 Fribourg, plan général du Bourg de fondation; traits gras: maisons analysées, en grisé: ravins et fossés; traits gris: essai de répartition des aires, avec indications du nombre de maisons; C: château; A: abattoirs; AQ: aqueduc; MJ: maison de justice; E: enceinte; P; porte orientale. ailleurs très bien les maisons de la vieille ville, s’est appuyé sur la présence des murs de soutènement en tuf qui constituent le bas de certaines façades des immeubles des rangs de maisons bordant le plateau Bourg. Il attribue en effet ces murs de tuf aux premières constructions de la ville, ce qui n’est pas faux en soi, mais il n’a pas pris en compte la mise en œuvre, d’où ses conclusions erronées, mais les preuves viendront bien plus tard. Malgré ces erreurs manifestes, les qualités graphiques ont valu à cette vue une large diffusion, et ce bien après sa première édition. En 1984, elle a été reprise dans un manuel d’histoire suisse destiné aux écoles primaires.10 On y doutait pas de son bien-fondé! Mais le succès ne s’est pas arrêté en si bon chemin puisque la vue a de nouveau été publiée dans une série de vulgarisation en langue allemande «Fundort Schweiz»11 en 1988, traduite en français cinq ans plus tard.12 Dans cette publication, au demeurant bien faite, la vue de Fribourg en 1200 n’est pas reprise pour illustrer uniquement la ville de Fribourg, mais bien une ville au Moyen Âge, dont l’enceinte englobait non seulement des quartiers densément bâtis, mais aussi Buch SKAM 36.indd 36 des espaces libres occupés par des jardins, des vergers ou des champs. Cette vision se rapproche plus de Fribourg au début du XVe siècle, mais ne correspond pas au quartier du Bourg, même au XIIe siècle. En effet, à l’opposé d’un cas comme Glanzenberg, fondée vers 1250 par la famille des seigneurs de Regensberg, où l’espace central forme un ensemble de champs et de jardin à l’abri des murailles,13 à Fribourg, les espaces libres se situaient à l’extérieur du Bourg de fondation. Les auteurs peuvent en être excusés, car les premières fouilles archéologiques ayant apporté de nouvelles données et permis de comprendre la physionomie du Bourg durant la seconde moitié du XIIe siècle n’ont été publiées qu’en 1989,14 les recherches étant restées au point mort durant près d’un demi-siècle. 10 11 12 13 14 Dorand et al. 1984, 150–151. Tauber/Hartmann 1988, 116. Tauber/Hartmann 1993, 116. Drack 1992, 201–205. Bujard/Broillet 1989, 168–180. 14.11.2009 14:53:59 Uhr L’image de Fribourg en 1200: entre vue de l’esprit et réalité 37 Fig. 4 Fribourg, essai de reconstitution du Bourg de fondation à la fin du XIIe siècle. 1998: un premier essai de restitution En 1992, une exposition organisée par le Service archéologique au Musée d’Art et d’Histoire nous a donné l’occasion de présenter, entre autres, une première fois les résultats des recherches archéologiques menées depuis 1980 dans la vieille ville de Fribourg à un large public, le catalogue accompagnant l’exposition offrant également des présentations des recherches médiévales qui ne se limitaient plus au sous-sol, mais se développaient aussi dans les élévations.15 C’est à cette occasion que nous avons pu découvrir l’impact de la vue d’Augustin Genoud au travers du regard étonné et décontenancé des élèves des cinquième et sixième primaires quand nous leur expliquions la genèse de la ville de Fribourg en flagrante contradictions avec leur manuel scolaire. La surprise était d’autant plus grande qu’ils découvraient que le contenu des publications quelles qu’elles soient ne reflète pas toujours la vérité et que même leur instituteur pouvait se tromper! Il était dès lors nécessaire de leur expliquer également la genèse des connaissances et le long chemin que les résultats des recherches doivent parcourir pour être vulgarisés dans des manuels scolaires, même si depuis 1957, les historiens locaux n’ont plus contesté le fait que les maisons avaient été construites en ordre contigu dès l’origine.16 Cet exercice a aussi mis en évidence la force des images, surtout quand elles sont de qualité, et fait apparaître la nécessité de proposer une nouvelle vue Buch SKAM 36.indd 37 de la ville à ses origines. Les connaissances acquises en 1992 apportaient les preuves de la construction des maisons en ordre contigu dès l’origine, mais il fallait encore en préciser l’aspect comme les matériaux de construction, sans compter encore le manque de renseignements au sujet des fortifications. Les données archéologiques, ayant pu être complétées de manière significative durant les années qui suivirent, permettaient dès lors de tenter une restitution du quartier du Bourg vers 1200 qui ponctuait un ouvrage consacré au Bourg de fondation.17 Précédée d’un plan du Bourg (fig. 3), la vue dessinée alors par Willfried Trillen18 reprenait fatalement le même angle de vue que celle d’Augustin Genoud, car il était indispensable de pouvoir les confronter et les comparer et elle a été réalisée à l’encre de chine, un rendu en couleur, n’était pas envisageable car il aurait donné un aspect trop réaliste à une vue qui comportait encore de nombreux aspects purement hypothétiques. Il ne s’agit que d’un essai de restitution qui doit rester une base de réflexion (fig. 4). La différence entre les deux restitutions est saisissante et met en lumière la difficulté de proposer des images fiables des réalités matérielles de l’histoire urbaine 15 16 17 18 Bourgarel 1992, 191–192. Waeber-Antiglio/Chatton 1981, 391–392. Bourgarel 1998. Bourgarel 1998, 143. 14.11.2009 14:54:00 Uhr 38 L’image de Fribourg en 1200: entre vue de l’esprit et réalité Fig. 5 Image de la première ville de Fribourg. en ne se basant que sur les sources écrites, le cadastre et de trop rares observations sur le bâti lui-même. Souvent par leur silence, les textes ont induit les historiens en erreur et nul n’aurait pu imaginer la présence d’un rang de maisons détruit lors de la reconstruction de l’église Saint-Nicolas dès les années 1280, si l’introduction du réseau du gaz naturel n’avait mis au jour leurs caves,19 car les textes ne comptent pas une ligne sur ces démolitions de maisons dont les propriétaires ont assurément dû être dédommagés. Cette découverte impliquait également de réduire la taille de la première église et de la déplacer à l’ouest, mais l’édifice reste à fouiller. Les textes sont également peu prolixes quant à l’aspect des maisons et leurs matériaux et les rares indications qu’on y trouve se encore une avérées trompeuses. En effet, on pensait que la pierre n’avait été généralisée qu’à partir du XIVe siècle,20 alors que ce processus s’est produit à la fin du XIIe siècle déjà. Quant aux fortifications, si aucun vestige du donjon zaehringien n’est conservé, la découverte en 1992 d’un tronçon de la première enceinte occidentale a permis de Buch SKAM 36.indd 38 la situer correctement, sept mètres à l’est de son tracé supposé, ainsi que d’en restituer la hauteur et le rapport avec les maisons.21 Enfin, l’emplacement de la première porte orientale a été découvert grâce à l’analyse de l’immeuble de la Grand-Rue 36.22 En 1998 déjà, des doutes sérieux sur la configuration de la partie occidentale des défenses du Bourg émanaient de l’absence de trace tangible du fameux fossé séparant le Bourg du château et nous avions indiqué en pointillé sur le plan du Bourg le prolongement du parcellaire du rang sud de la Grand-Rue en direction de l’actuelle place de l’Hôtel-de-Ville. Par ailleurs, le rang de maisons bordant le flanc nord du Bourg n’avait encore été l’objet d’aucune investigation archéologique, l’implantation des maisons étant simplement déduite du parcellaire et cal- 19 20 21 22 Schwab 1984, 90-128. Waeber-Antiglio/Chatton 1981, 392. Bourgarel 1998, 127–130. Bourgarel 1998, 68–71. 14.11.2009 14:54:00 Uhr L’image de Fribourg en 1200: entre vue de l’esprit et réalité 39 Fig. 6 Plan général du Bourg de fondation; traits gras: maisons analysées, en grisé: ravins et fossés; traits gris: essai de répartition des aires, avec indications du nombre de maisons; A: abattoirs; AQ: aqueduc; MJ: maison de justice; E: enceinte; P; porte orientale; T: tour zaehringienne. quée sur les observations faites sur les flancs sud et oriental, alors sans aucune preuve. 2007: l’ère des images de synthèse Le jubilée du 850e anniversaire de la fondation de Fribourg était bien sûr une occasion rêvée pour proposer une nouvelle «image de la première ville de Fribourg» (fig. 5) qui pouvait tenir compte des derniers résultats des recherches. Nous y avons sérieusement songé, mais avons abandonné le projet, car le thème principal choisi par le Comité d’organisation des festivités était l’histoire contemporaine, le Moyen Âge ayant été celui du 800 e anniversaire.23 L’idée est revenue en dernier stade de la rédaction de l’ouvrage officiel du jubilée d’inclure un CD-ROM didactique accompagnant le livre, comprenant une animation retraçant la création de la ville réalisé par Frima-1606 du Service Public de l’Emploi.24 Le Service archéologique a été sollicité in extremis pour ce projet et n’a eu le temps que d’actualiser le plan du Bourg25 (fig. 6), mais pas de proposer une nouvelle image de la ville Buch SKAM 36.indd 39 à ses origines pour guider la réalisation de l’animation, mais simplement d’indications tirées des publications du Service archéologique. Le résultat final n’a pas pu être validé par les archéologues avant sa diffusion et comporte de nombreuses erreurs qui ressortent d’autant plus que l’image de synthèse, bien sûr en couleur, est réaliste dans le rendu des matériaux et des surfaces. Une partie de ces défauts sont inhérents au peu de temps à disposition. Les réalisateurs de cette animation ont été contraints de puiser leurs images dans des banques de données existantes, alors qu’ils auraient du créer une partie de ces données pour qu’elles soient adaptées aux réalités de l’époque. Par exemple, les toitures sont couvertes de tuiles, alors qu’elles devraient être en tavillons ou en bardeaux et beaucoup moins pentues. Les façades, reproduites en série à différentes échelles, sont en grande partie anachroniques, tout 23 24 25 Voir note 7 et Catalogue 1957. Gasser/Grandjean 2007. Bourgarel 2007, 49. 14.11.2009 14:54:01 Uhr 40 comme l’aspect de la première église Saint-Nicolas avec son clocheton revêtu de cuivre et ses fenêtres baroques. Ces défauts ne sont perceptibles que par les spécialistes, car le spectateur est entraîné dans l’animation et n’a pas le temps d’observer ce genre de détails qui ne se révèlent vraiment que sur arrêt de l’image. Ce que le spectateur retient de l’animation reste une vision générale qui n’a pas le même impact que celui d’une image fixe. Les principales corrections amenées à la restitution de 1998 concernent la partie occidentale du Bourg, soit le prolongement du rang de maisons méridional de la Grand-Rue à l’ouest, sur la place de l’Hôtel-de-Ville et la suppression du fossé entre le château et la Grand-Rue. Les preuves de l’absence de fossé à cet emplacement ont été acquises en 2000, lors de l’analyse de l’immeuble de la Grand-Rue 726 et la certitude que le rang de maison se poursuivait à l’ouest en 1998 déjà, grâce aux investigations menées dans la Maison de Ville et son annexe.27 Depuis 2003–2004, les découvertes de la Grand-Rue 10 et surtout les datations dendrochronologiques obtenues dans cet immeuble du rang sud apportent les preuves que la pierre a été mise en œuvre dans la construction des maisons avant 1186 et pas seulement de manière sporadique, mais généralisée en tous cas dans le Bourg de fondation.28 L’excellent état de conservation des parties les plus anciennes de cette maison offre des éléments de comparaison fiables. Ainsi, est-il possible d’affirmer aujourd’hui que les parties les plus anciennes de la Grand-Rue 4 ne sont pas postérieures à 1200. Par contre, la muraille qui prolonge ce rang de maison à l’ouest pour se retourner, longer le fossé de la Grand-Fontaine puis rejoindre l’enceinte occidentale reste on ne peut plus hypothétique et n’avait certainement ni l’aspect ni la forme qui lui ont été donnés. Si l’emplacement précis de la tour restera conjecturel, il est aujourd’hui quasiment certain qu’elle devait s’élever sur une butte naturelle qui a été arasée lors de la création de la place de l’Hôtel-de-Ville dès 1463.29 En effet, l’absence totale de vestiges, pas même de fosse d’arrachement, sur la place de l’Hôtel-de-Ville, pourtant totalement dégagée de ses revêtements en 1989, indique clairement que l’aménagement de la place ne s’est pas fait que par la simple destruction des constructions qui s’y trouvaient, mais a aussi impliqué le nivellement du terrain, dont les matériaux étaient d’ailleurs indispensables au comblement du ravin barrant l’éperon du Bourg de fondation et atteignant une profondeur d’environ 18 m pour une largeur de 40 m à son embouchure qui a été comblée à la même époque pour créer la place Notre-Dame.30 Buch SKAM 36.indd 40 L’image de Fribourg en 1200: entre vue de l’esprit et réalité La partie occidentale du Bourg de fondation n’est pas la seule à rester encore tributaire d’une bonne part d’hypothèses. Malgré plus de 140 maisons ayant fait l’objet d’investigations, dont 15 d’entre-elles datées par dendrochronologie aux XIIe et surtout au XIIIe siècle, l’aspect des constructions civiles du premier siècle de la ville est toujours mieux connu, mais reste et restera toujours composé d’une part de conjectures, car aucune construction de cette époque n’est intégralement conservée. Les plans des maisons sont connus avec une assez grande exactitude et leur volumétrie peut être restituée avec beaucoup de vraisemblance, si ce n’est précisément, mais l’aspect des façades, la couleur des murs restent encore largement hypothétiques. Si les formes des ouvertures desservant les niveaux de caves et de celliers sont bien reconnues par les exemplaires conservés, celles des façades sur rue ne se basent que sur quelques fragments d’encadrements découverts en fouilles, de rares témoins en place et les vues de Sickinger et Martini,31 ce qui rend les restitutions de façades encore aléatoires. Enfin, sans fouilles archéologiques, il n’est pas même possible de restituer le plan de la première église Saint-Nicolas, tout au plus son emplacement est mieux connu, délimité à l’ouest par le cimetière et à l’est, par le rang de maison découvert en 1980, soit un espace d’une quarantaine de mètres de longueur: pas de quoi proposer une restitution fiable du premier sanctuaire fribourgeois! Vers quelles nouvelles représentations? La question de proposer de nouveaux essais de restitution de la ville de Fribourg à ses origines ne se pose même plus aujourd’hui, pas plus qu’elle ne se pose pour d’autres sujets et ne devrait pas poser de problèmes si les éléments hypothétiques sont clairement identifiables. En effet, les images sont partout aujourd’hui et les grandes productions cinématographiques comme les émissions télévisuelles didactiques inondent le monde de leurs images de synthèse qui sont parfois difficiles à discerner de la réalité. Tant et si bien qu’il est inconcevable d’envisager une parution archéologique sans illustrations et que les ouvrages qui doivent se limiter au noir et blanc, le font pour des raisons budgétaires, si ce ne sont pas des 26 27 28 29 30 31 Bourgarel 2001, 22–29. Bourgarel 1999, 9–14. Bourgarel 2007, 37–41. De Zurich 1924, 164–174. Leckebusch 1995. Bourgarel 2005, 70–77. 14.11.2009 14:54:01 Uhr L’image de Fribourg en 1200: entre vue de l’esprit et réalité ouvrages d’art. Par ailleurs, la réalisation d’essais de restitution constitue un outil de recherche en soi, encore plus efficace quand il amène la réalisation de maquettes, car tous les défauts qu’une vue ou des plans cachent apparaissent au grand jour et impliquant de trouver les solutions architecturales appropriées ou de réviser les hypothèses erronées, en tous cas les points boiteux sans pour autant garantir la véracité. Cette dernière est tributaire en premier lieu des éléments conservés et étudiés, qui restent fragmentaires dans la grande majorité des cas. Le degré de fiabilité des restitutions dépend donc avant tout du degré de conservation de l’objet restitué. Pour la période considérée, vers 1200, il faut admettre que les connaissances en matière d’urbanisme restent très limitées sur l’ensemble du Plateau suisse et que les propositions de restitutions sont peu nombreuses ou limitées à des monuments ou des portions urbaines restreintes. Leur diffusion reste en général limitée aux ouvrages ou aux revues spécialisées, donc relativement faible. La diffusion qu’a connue la vue d’Augustin Genoud a été plutôt exceptionnelle dans ce domaine, mais cet exemple démontre qu’une fois publiée, les auteurs ne sont plus maître de l’usage de leurs restitutions. Les possibilités qu’offrent les outils informatiques dans ce domaine sont toujours plus étendues et si aujourd’hui les images de synthèses à haute définition ne sont pas encore à la portée de la grande majorité des chercheurs, la rapidité de l’évolution laisse présager que ces moyens seront de plus en plus accessibles à tous. Il conviendra dès lors de résister à la facilité en évitant de proposer des images de restitutions dont le degré de réalisme ne correspond pas à niveau des connaissances concernant l’objet de la restitution, ce qui est arrivé avec l’animation réalisée pour le 850e anniversaire de Fribourg. Ces risques restaient beaucoup plus limités avec les techniques de dessin traditionnelles qui limitent 41 naturellement le degré de réalisme et permettent facilement d’estomper les éléments trop hypothétiques par le choix de l’échelle, du point de vue et de la technique de dessin, les restitutions très réalistes restant exceptionnelles, telles celles que Jörg Muller avait réalisées pour l’exposition «Stadtluft, Hirsebrei und Bettelmönch. Die Stadt um 1300».32 Les nouvelles technologies repoussant les limites du réalisme des restitutions toujours plus loin, les chercheurs doivent donc prendre toujours plus de responsabilités lors de leur réalisation afin de ne pas proposer des images qui risquent de fausser la réalité, car elles ne reposent pas sur des bases suffisantes comme l’a été la restitution d’Augustin Genoud. Tant que la diffusion de ces images reste dans les mains des scientifiques, les risques qu’elles soient utilisées à mauvais escient sont très limités, mais une fois publiées ou diffusées sur internet il n’y plus aucun contrôle. Le degré de réalisme des vues de restitution doit donc être intimement calqué sur celui des connaissances et de l’état de conservation de l’objet restitué. Dans le cas des villes jusqu’à la fin du Moyen Age, le réalisme des restitutions de Jörg Muller ne peut quasiment jamais être atteint sans une grande part d’extrapolation et de telles vues doivent rester des instruments de réflexions dûment commentés. L’avenir dira si une codification des restitutions virtuelles doit s’imposer de manière à bien pouvoir discerner la part de l’acquis de celle des suppositions dans de telles représentations de la même manière que les compléments apportés aux objets incomplets doivent se distinguer des parties originales. Quoiqu’il en soit, il paraît raisonnable de laisser dès aujourd’hui l’hyperréalisme aux auteurs de fictions pour ne pas courir le risque de voir les hypothèses scientifiques devenir la réalité des manuels scolaires et d’autres ouvrages de vulgarisation, sans pour autant renoncer à un outil de travail indispensable. 32 Buch SKAM 36.indd 41 Catalogue 1992, 81, 380, 382–391. 14.11.2009 14:54:01 Uhr 42 L’image de Fribourg en 1200: entre vue de l’esprit et réalité Bibliografie Bourgarel 1992 – Gilles Bourgarel, La Grand-Rue 12B à Fribourg: une maison du Bourg de fondation de 1157, in: Le passé apprivoisé. Catalogue accompagnant l’exposition, Fribourg 1992, 191–192. Bourgarel 1998 – Gilles. Bourgarel, Fribourg-Freiburg, le Bourg de fondation sous la loupe des archéologues (Archéologie fribourgeoise 13), Fribourg 1998. Bourgarel 1999 – Gilles Bourgarel, L’analyse archéologique, in: Georges Rhally et al., La maison de ville de Fribourg, Fribourg, 1999, 9–14. 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This is especially marked in histories of archaeology, i.e. Bahn, Trigger etc., which tend to emphasise theoretical trends or milestones (Pompeii, Troy, Tutankhamun).2 Among other things, documenting methodological differences uncovers cultural differences in what archaeologists expect archaeology to achieve, which in turn reflect differences in defining what archaeology means. Historically a distinction is made between archaeology and antiquarianism, but even within the contemporary landscape we “translate” the English-language discipline of archaeology into two German disciplines: Archäologie and Ur- und Frühgeschichte. The present study contrasts German and English-language archaeologies because they provide a clearer contrast than – for example – the French or Scandinavian models, both of which share elements derived from both English-language and German traditions. This dichotomy may also be more familiar to more readers than such “exotic” alternatives as – for example – their Polish or Japanese equivalents. Among other things, Ian Hodder notes that “it is widely recognized that German archaeologists dig with a different method,”3 but mentions no other archaeological tradition. German Archäologie – which can be traced back to Winkelmann and has its roots in art history – is and has been associated with what Anglo-American archaeologists consider to be the sub-discipline of Classical Archaeology, while prehistoric archaeology is a separate discipline, with separate university departments and institutes, societies, etc., and known either as Ur- und Frühgeschichte or Vor- und Frühgeschichte. The significance of these distinctions can be illustrated by attempting to Buch SKAM 36.indd 43 translate Binford’s famous adage that “archaeology is anthropology or it is nothing” into German. Bernbeck, Veit and Kümmel do not even try.4 It may also be worth noting that – while Binford5 might be right about USAmerican archaeology (where archaeology tends to be taught as a sub-discipline of anthropology, together with cultural and physical anthropology and linguistics), early Canadian archaeology was often done by geologists and published in geological journals.6 In Britain archaeology might be thought of more in terms of being a prehistoric extension to history: “Archaeology is that branch of science which is concerned with past phases of human culture; in practice it is concerned more, but not exclusively, with early and prehistoric phases than with those illustrated by written documents.”7 And to confuse Binford even further, German Anthropologie usually only refers to what Anglo-Americans know as physical anthropology. To avoid unnecessary complications, the present study will focus on the history of evolution from British antiquarianism to archaeology, largely because this welldocumented and relatively simple example suits present purposes. The genealogy of archaeology The general consensus among the historians seems to be that antiquarianism could only have ’evolved’ into archaeology through the ’diffusion’ of the ideas of uniformitarianism, the 3-age System, and evolution. For example: “Three major intellectual currents reached fruition in the middle of the nineteenth century, setting the 1 2 3 4 5 6 7 Carver 2004; Carver 2006. Bahn 1996; Trigger 1989 and Trigger 2006. Hodder 1999:9. Bernbeck 1997:37; Veit 1998:122; Kümmel 1998:122. Binford 1962:217. Mackie 1995:181. Crawford 1960:15. 14.11.2009 14:54:01 Uhr 44 History and archaeology, the history of archaeology, and the archaeology of archaeology conceptual basis for archaeological interpretation. First… the geologist Charles Lyell proposed his principle of superimposition, or uniformitarianism… Second, Thomsen and Worsaae proposed the three-age system… Third, Charles Darwin published his Origin of Species.”8 Another variation includes “the antiquity of humankind, Darwin’s principle of evolution, and the Three Age System”,9 while Glynn Daniel specifies the three contributory sources for prehistoric archaeology: “Prehistoric archaeology as we know it has three contributory sources – the advance of geology, the pushing backwards of the frontiers of history by archaeological means and, thirdly, the growth of archaeological technique out of antiquarianism.”10 Although these are English-language classifications, and complicated by the fact that, in Britain, at least, “Archaeology and the study of prehistory have often been seen as virtually identical”,11 a similar pattern may be found in other traditional histories: “At the start, in the middle of the nineteenth century, French prehistoric archaeology was influenced both by the natural sciences, geology and paleontology, and by the new-born cultural anthropology. From the former two, it borrowed a chronological frame and notions of stratigraphy… From the latter, it acquired an ethnological vision of prehistoric man. From all three, it adopted the leading paradigm of the century: evolutionism.”12 There are any number of variations on this theme, but repetition of the basic elements seems to indicate fairly widespread consensus amongst the historians of the discipline; a consensus which masks a lack of critical examination of the original sources. John Stuart Mill13 for example, argued that actualism – one aspect of uniformitarianism – is an assumption which must be made in any historical study, and Stephen Jay Gould14 showed how the four different meanings of geologist Charles Lyell’s uniformitarianism included a circular model of time that would someday see dinosaurs returning to England: “Then might those genera of animals return, of which the memorials are preserved in the ancient rocks of our continents. The huge iguanodon might reappear in the woods, and the ichthyosaur in the sea, while the pterodactyle might flit again through umbrageous groves of tree-ferns.”15 Geologists, meanwhile, described uniformitarianism as “a creed which grew to be almost universal in England… but which never made much way in the rest of Europe, and which in its extreme form is probably now held by few Buch SKAM 36.indd 44 geologists in any country.”16 Similarly, careful reading17 suggests something which should seem logical to anyone coming from an archaeological tradition more closely tied to art history than is the case with Anglo-Americans; and that is, that in some ways the famous reorganisation of the prehistoric section of the Danish Museum of Antiquities was a prehistoric extension of the classification system already in use in the historical sections of the museum: “In the rooms, which, by a happy coincidence, have partially preserved the successive styles of the different periods, there has been arranged… in strict chronological order, a rich and valuable collection of portraits of members of the royal family, and of the celebrated men who surrounded them; costumes, furniture, personal ornaments, arms, and other objects characteristic of the style of each epoch, and of which the printed descriptions will give a clearer idea.”18 And what does evolution really have to do with archaeology – the systematic description or study of human antiquities (i.e. not ancestral hominid forms) – anyway? The point is that systematic discipline of archaeology could have evolved from antiquarianism without the need for imported theory; that – given enough data and a systematic excavation methodology – archaeology would eventually have derived its own body of theory. It might also be worth noting how – in keeping with antiquarian wishes to counter the “shafts of ridicule”19 – archaeologists generally do not seem to criticise their predecessors for their theoretical failings (lack of uniformitarianism, 3-age system or evolution), but rather on methodological grounds. Stukeley, for example, “left the scantiest records”20 while others are criticised for generally bad field work,21 bad drawings,22 digging too many barrows, 23 or ignoring skeletons.24 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 Redman 1999:49. Renfrew and Bahn 2000:25. Daniel 1975:54. Van Riper 1993:214. Audouze and Leroi-Gourhan 1981:170. John Stuart Mill 1882:223-234. Stephen Jay Gould 1965; 1978:150-151. Lyell 1990:123; cf. Rudwick 1975. Geikie 1901:281; cf. Prestwich 1895. See the division between “heathen” and “Christian” sections in Worsaae and Thoms 1849. Worsaae 1881:61. Compare Petrie 1893:127-128. Pettigrew 1846:1. Crawford 1960:24. Pitt-Rivers 1892:107; Pitt-Rivers 1898a:58-59; Pitt-Rivers 1898a:180; PittRivers 1898b:22; Hawkes 1973:51; Noël-Hume 1953:11. Pitt-Rivers 1892:253. St. George Gray 1905:xvi; Noël-Hume 1953:11; Wheeler 1954:94. Pitt-Rivers 1898a:136; 1898b:18-19. 14.11.2009 14:54:01 Uhr History and archaeology, the history of archaeology, and the archaeology of archaeology Given these shortcomings, one might be forgiven for wanting to use a definition of archaeology as “the discipline with the theory and practice for the recovery of unobservable hominid behaviour patterns from indirect traces in bad samples.”25 One way to bypass these problems (and Clarke’s cynicism) is to use a definition of archaeology that emphasises excavation, since this definition also contrasts the theoretical approach with a more practical one, consistent with critiques of antiquarianism and our predecessors in general: “The systematic description or study of human antiquities, especially as revealed by excavation.”26 And it could be argued that methodology was ultimately more important – more fundamental – to the evolution of archaeology from antiquarianism than theory was. But what was antiquarianism? Since formal definitions vary almost as much as they do for ’archaeology’, a contemporary example will illustrate the concept. The “antiquarian way” A fairly typical article published in the British journal Archaeologia begins: “It is but a very imperfect account I can give you of a late discovery, in the antiquarian way, made in Ireland; however it is the best I am able to offer. About the year 1780, two pieces of antiquity were found in a bog in West-Meath, unaccompanied with any thing else of note.”27 The author recognises his own limitations: he can only offer a “very imperfect account” of a “late discovery.” He answers the question of how this discovery was made – “in the antiquarian way” – in a way which suggests that Pegge was sure his contemporaries would have understood what this meant. We, however, must excavate – as it were – Pegge’s meaning from the text. We are told that “About the year 1780, two pieces of antiquity were found in a bog in West-Meath, unaccompanied with any thing else of note.” When? ”About the year 1780.” Even ignoring the delay between discovery and publication – and archaeologists still have not solved that problem – Pegge did not know what year these things were found. Pegge also did now know where they were found: “In a bog in West-Meath.” Given Ireland’s association with bogs, peat and Irish Elk, it seems safe to assume that there are many bogs in West-Meath, and this detail becomes misleading; an example of what statisticians call “spurious precision.” Pegge did now even know how they were found. “Two pieces of antiquity were found”. Not excavated, discovered, or dug up: simply “found in” this mysterious Buch SKAM 36.indd 45 45 “antiqua”. In other words: this “antiquarian way” is not excavation but accidental discovery, often by some farmer with a plough. This method of discovering artifacts was common enough to be mentioned in poetry, e.g. Wiliam Wordsworth: “The unlettered ploughboy… when he wins The casual treasure from the furrowed soil”.28 The biggest problem with Pegge’s example is that he does not answer the most important question in any detective novel: whodunit? Who found these “two pieces”? We don’t know. And this lack of authority ultimately casts doubt on what actually might be the most important detail, the one about context and the statement that these two “pieces” were “unaccompanied with anything else of note.” Who said so? Since the unknown person who “found” them – a farmer, perhaps? Wordsworth’s ploughboy? – and Winckelmann, Schliemann, Pitt-Rivers, Binford, Hodder, etc., would all have different definitions of what is significant or important or noteworthy, we need to know this. And we don’t. So it is suggested that – although antiquarianism has come to be ridiculed largely because this “antiquarian way” was anything but scientific – this ’lack of science’ had nothing to do with the 3-age system, uniformitarianism or evolution, but rather with the basics of scientific methodology. The great debate The distinction can be illustrated by examining one of the key debates relating to the problem of associating stone tools with the remains of extinct fauna. Brixham Cave was investigated by a “Cave Committee” that included Sir Charles Lyell and was organised by The Royal Geological Society.29 A preliminary report30 was presented to the Royal Society a few months before Darwin published On the Origin of Species in 1859, the year of Glynn Daniel’s Antiquarian Revolution. The debate took place between Charles Babbage – a mathematician and computer pioneer31 – and Joseph Prestwich, one of the geologists sent by the Geological Society to the Brixham excavation. To be fair, it should be noted that Babbage did not reply directly to the Brixham evidence but rather to an extract from 25 26 27 28 29 30 31 Clarke 1973:17. OED 1997. Pegge 1789:84. Wordsworth 1994:275. Van Riper 1993:82. Prestwich 1860. Swade 2004. 14.11.2009 14:54:01 Uhr 46 History and archaeology, the history of archaeology, and the archaeology of archaeology a letter Hugh Falconer read at the Geological Association regarding a similar case from Grotta di Maccagone in Sicily. Falconer – “a recently elected vice president of the Geological Society”32 – had been driven south for the winter by rheumatism. On the way he visited Boucher de Perthes and his excavations on the Somme, partly to gather comparable data from a non-cave site in response to some of Lyell’s concerns. Babbage argued that stone tools could have been mixed with the bones of extinct fauna by earthquakes, because earthquakes sometimes cause cracks in the ground, and that artifacts could have fallen into these cracks: “Amongst the phenomena occurring during earthquakes, it has been observed that large cracks have suddenly opened and as suddenly closed, either immediately or shortly after. During these momentary or temporary openings, the remains of the arts of man, and even man himself, may have dropped into the chasm. Under such circumstances, remains of man and his arts might occur in formations of any date.”33 Prestwich agreed: “Rents may have arisen from desiccation of the surface or from earthquake movements.”34 Babbage goes on to suggest that direct evidence (i.e. besides the presence of stone artifacts) of such “cracks,” “chasms” or “rents” might not be visible: “If it occurred in clay or softer material, the track through which these remains centred might be partially or even entirely obliterated. If the cleft occurred in tolerably compact gravel and then immediately closed, it would scarcely be possible at a future period to trace its origin.”35 Prestwich disagrees, however, noting that “such gaps would necessarily be filled up from the sides or from the surface, and a vertical seam of matter, differing more or less from the beds it cut through, would be traceable from the surface down to the flint-implements”, adding that, at the sites he visited in the Somme, “there is not the slightest appearance of such a state of things in these pits.” Referring back to Babbage’s earthquakes: “The same objection would apply to openings produced by earthquake movements, though to a lesser extent, as such might have closed up again and not remained open until filled up. Still, with gaps in such loose materials, and on the assumption that the flint-implements themselves fell into such gaps, other stones, dirt, and parts of the walls must inevitably have also fallen down and shown traces of the presence of materials foreign to the several beds; this is not the case.” Buch SKAM 36.indd 46 Prestwich also noted that, even if such cracks had not been detected, the overlying stratigraphy had not been disturbed: “Also the fine lamination common in the bed of sand… forms continuous and unbroken lines.” As if that was still not evidence enough, Prestwich notes the orientation and distribution of the artifacts: “Besides, as irreconcilable with any contingency which would have led to the introduction of the flint-implements from the ground above, the flint-implements are dispersed singly and irregularly, are limited to the one lower series, and lie apparently flat in the gravel, and not edgeways or downwards. The specimen extracted by myself was certainly, and the one found by Mr. Flower was apparently, in that position.”36 If artifacts like hand-axes had fallen into cracks, then they should have been distributed along some sort of crack network, and also aligned in the same direction as – and wedged into – the cracks, i.e. not “flat in the gravel.” Orientation is still used to distinguish between “the dropped coin (lying flat), from the re-deposited coin (found on edge).”37 And even where the orientation of some flints was uncertain, it could be inferred by discolouration caused by post-depositional changes in groundwater: “In a certain proportion of the specimens from St. Acheul, I have also observed that the two sides of the flint-implements present a different appearance, being stained and coloured differently; sometimes one side is fresh and dark, the other white and with dendritic markings; others are white on one side and brown on the other; others again have a calcareous film on one side only. These appearances may arise from the specimens having lain between differently coloured seams of the gravel, or from the percolation of water lodging on one surface more than on the other; but in no case could it have arisen had they been edgeways or endways in the gravel. In such positions one end, portion, or segment might be stained or marked differently to the other end or another portion, but the two flat sides could not possibly have been immersed each in a different medium, in the way indicated by their present condition.”38 32 33 34 35 36 37 38 Van Riper 1993:78. Babbage 1859:68-69. Prestwich 1860:300. Babbage 1859:69. Prestwich 1860:300. Carver 1990:102. Prestwich 1860:300. 14.11.2009 14:54:02 Uhr History and archaeology, the history of archaeology, and the archaeology of archaeology And so on. The debate continued – Victorians loved detail; as is obvious from their architecture, furniture, and novels by people like Dickens – but this sample should be sufficient for present purposes. Overall, this was not a fair fight. Babbage was a mathematician, and whatever qualities he may have had as a mathematician, he was unlucky enough to be debating a professional geologist, just about the time when geology was becoming a discipline, partly by excluding amateurs with their wonderful theories but little in the way of firsthand, practical experience in the field.39 Babbage’s argument certainly was not helped by his conjectures on hippo bones,40 nor an earlier where Babbage had tried to use “uniformitarian principles” to argue that the moon’s craters had been formed by coral reefs.41 But his biggest problem might have been the fact that he was responding to Hugh Falconer’s earlier reports on evidence from a cave in Italy, whereas Prestwich was presenting new evidence from Brixham and the Somme which was intended to address any shortcomings in the Italian evidence. But most importantly – and in contrast to the order in which this debate has been presented here – Babbage presented his paper after Prestwich had spoken. One can only imagine Babbage’s humiliation, having to stand and read a paper full of criticisms that had just been addressed… At any rate: fighting Babbage was also easy because his paper is so full of hypothetical cases, so many things which might or could have happened – even “extra” caves for which there was no evidence – that he strains credibility, especially when compared to Prestwich’s numerous – even excessive – first-hand observations. Ultimately, though, nothing Babbage or any number of other critics said really mattered, because people like Prestwich and Falconer and others always had one insurmountable argument to fall back on: personal experience. Prestwich was there, he saw it, and Babbage did not. At a time when a gentleman was true to his word, Babbage’s only recourse was to accuse Prestwich either of having been deceived or lying, neither of which – one assumes – a gentleman would do. But questions of good manners and breeding aside, this touches back on the origins of archaeology as a means for addressing the shortcomings of written documents, of a systematic, scientific reaction against medieval scholasticism, an approach which emphasised personal experience and first-hand evidence over the Bible and Aristotle. Buch SKAM 36.indd 47 47 Autopsia If he needed to cite an authority, Prestwich could appeal to Bacon and the idea of autopsia: “In a passage which has often been quoted in the last thirty years the fifteenthcentury Byzantine humanist Manuel Chrysoloras used the term autopsia – in other words eyewitnessing, seeing with one’s own eyes – to refer to the evidence of material remains such as sculptures for what kinds of arms the ancients had, what kind of clothes they wore... how they formed lines of battle, fought, laid siege.”42 Prestwich could play on the myth of the liminal experience43 contrasting armchair and field geologists in a way that should be all-too-familiar to archaeologists today.44 Mostly, though, Prestwich could appeal to common-sense scepticism, a reaction against past theoretical abuses of the kind which had made early geology a target of ridicule;45 scepticism still found in the divide between many ’theoretical’ and ’field’ archaeologists, and which might be one of the reasons why – for example – postprocessualism has apparently had so little impact on field methods. For in contrast to Prestwich, Babbage only had hypotheses – theory – to fall back on, at a time when theory was not held in high regard. We can see this reflected in contemporary views of what – as has been noted – Anglo-Americans now consider to be the foundations of their discipline: the 3-age system (critiques directed against uniformitarianism and evolution have already been noted). Revisionist history Despite its prominence in relatively recent histories of the discipline, the 3-age system does not seem to have made much of an impression when first translated into English. A reviewer did not find of Thoms’ translation of Worsaae’s Primeval Antiquities of Denmark particularly praiseworthy: “The system of classification adopted is that of three periods – the stone, the bronze, and the iron, – to which all the antiquities preceding the epoch of Christianity are referred. Although this arrangement may be open to objections, it would, perhaps, be difficult to 39 40 41 42 43 44 45 Van Riper 1993: 26, 45, 51-53, etc. Babbage 1959: 69-72. Babbage 1847. Burke 2003:276. Cf. Rudwick 1996. Cf. Bahn 1999:13-15. Cf. Lyell 1990:225 [footnote]. 14.11.2009 14:54:02 Uhr 48 History and archaeology, the history of archaeology, and the archaeology of archaeology substitute a better, it being of course understood that objects which abound in one period may occasionally be found in another. ”46 British antiquaries visiting Denmark seem to have been similarly unimpressed. An article published in the Archaeological Journal as late as the pivotal year of 1859 makes no mention of Thomsen’s collections, noting the classification of “noble collection” in the Danish Ethnographic Museum’s collections instead: “1. Nations not possessing or previous to possessing the use of metal. 2. Nations possessing the use of metal but destitute of literature. 3. Nations possessing the use of metal, and having a literature of some kind.”47 There were also the views of such prominent antiquaries as Thomas Wright, whose “emphatic rejection” of the threeage system meant “he had virtually to deny the existence of a prehistoric period, and so Bronze Age swords had to be contemporaneous with the Romans.”48 Prestwich did not deal with any of these things. Despite the fact that the “Cave Committee” of which he was a member did not set out to prove the 3-age system, uniformitarianism or evolution, 1859-1860 has been selected as the date of the glorious antiquarian revolution, when antiquarianism was replaced by the science of archaeology. Among the many problems with Glyn Daniel’s scenario is that this “antiquarian revolution” only seems to have happened in British archaeology, and only if the word “archaeology” is understood to mean prehistoric archaeology. It also reflects a mindset which values theory over practice. We have Bruce Trigger’s History of Archaeological Thought,49 for example, but no comparable work on the History of Archaeological Practice. Is it any wonder, then, that the “antiquarian revolution” was not depicted as a victory for the author’s own area of research: archaeological stratigraphy…? But there’s something else that really bothers me with the standard histories of archaeology, and that is the way everyone before about 1860 just seems to disappear. Der Archäologe This leads back to another definition, that “archaeology is what archaeologists do.”50 Who, then, are the archaeologists? Comparison of names of “archaeologists” listed in a number of histories and introductory overviews of archaeology produced surprisingly different selections.51 The sources are: Buch SKAM 36.indd 48 – Paul Bahn’s Bluff Your Way in Archaeology (1999); – Oxford Concise Dictionary of Archaeology (Darvill 2003); – Wörterbuch Archäologie [Archaeology Dictionary] (Gorys 1997); – Das Abenteuer Archäologie: Berühmte Ausgrabungsberichte aus dem Nahen Osten [original English title: The Treasures of Time: Firsthand accounts by famous archaeologists of their work in the Near East] (Deuel 1974); – Der große Augenblick in der Archäologie: Auf der Suche nach den Spuren der Vergangenheit [The Great Moment in Archaeology: Searching for Traces of the Past] (Richardi 1977); – “The Great Archaeologists: Biographical notes” listed in the back of a compendium of archaeological articles from the London Illustrated News (Bacon 1976: 419-422); – “Important movements in archaeology and some major figures associated with them” (Trigger 1989: 10-11 [fig. 1]) [omitted from Trigger 2006; cf. Klejn 2006: 142]); – A series of portraits included in an exhibition on the founding fathers (Berghaus 1983) of archaeology (Berghaus and Schreckenberg 1983); – The online edition of the Dictionary of National Biography (DNB 2004); – An online list of “Archaeologists and Related Scientists” maintained by K. Kris Hirst at http://archaeology.about.com/od/biographies/; – A list of authors of antiquarian articles published in Archaeologia, the Philosophical Transactions of the Royal Society, the Antiquaries Journal, the Journal and Transactions of the British Archaeological Association, the Athenaeum [U.S.], Notes and Queries and The Gentleman’s Magazine dating until approximately 1880 and referenced elsewhere.52 These lists were chosen primarily because of their accessibility. Except for the “Archaeologia” sample, the names were not culled from possibly misleading indexes or lists of citations: they were specifically identified as archaeologists or, as in Deuel, authors of the original sources, and in Richardi, chapter titles. There is a degree of randomness in the sample53, but this will be true of any survey. 46 47 48 49 50 51 52 53 Anonymous 1850:161-162. Westwood 1859:139. Thompson 2004. Trigger 1989. Clarke 1973:6. Cf. Carver forthcoming. Carver forthcoming. In that the sources were readily available from a number of public and university libraries in the USA and Germany, online, and from the author’s private collection. 14.11.2009 14:54:02 Uhr History and archaeology, the history of archaeology, and the archaeology of archaeology More important is the degree to which the lists both contradict and complement each other, reflecting differences not only between – for the sake of consistency – Englishlanguage and German archaeology, but also variations on sub-discipline (Classical and Near-Eastern, theory, etc.), historical depth, etc. Despite the ostensibly humorous intent, Bahn presents 10 names in his short introduction. His inclusion of Nabonidas and the Leakeys help define archaeology by contrasting it with pre-archaeological investigations and palaeontology. With a total of 213 names (including such non-archaeologists as Darwin, Hutton, Lyell and Libby), Darvill is comprehensive and comparative. Although his emphasis is British, he has attempted to give an international perspective. Gorys – in keeping with the more limited German discipline of Archäologie – lists only 47, primarily “classical” archaeologists. This contrast between English and German archaeologies is also found in Richardi’s popular account (17 names) and – to some extent – in Berghaus and Schreckenberg, while Deuel’s Near Eastern emphasis (21 names) complements Gorys’ classicism. The British bias in Bacon’s sample is perhaps understandable, given that these notes were intended to identify 30 archaeologists associated with the London Illustrated News. Hirst – like Darvill – aims at being international, and diverse. Her list of 358 names includes more women than the other lists, as well as those of a number of “ancient authors” (Ptolemy, Plato, Thucydides, etc.) of interest to archaeologists. Trigger – in contrast to Darvill in particular – includes the names of a number of archaeologists still living. His specialised selection, focusing on archaeological thought – and eventually the more specialised subfield of “theory” – complements Richardi and Deuel, who emphasise “adventure” and fieldwork, respectively. These examples largely represent contemporary “archaeology”, divided into national variants and subdisciplines. The subject being archaeology, though, the time dimension must also be taken into account: the historical dimensions of the discipline, and the contrast between archaeology and antiquarianism. This is most evident when considering that – for example – Goethe, Aldrovandis, several popes and Bulwer-Lytton are included among the 179 collectors, travellers and researchers identified as “archaeologists” in the portrait catalogue.54 To some degree the Berghaus and Schreckenberg sample reflects not only the difficulties of identifying amateur practitioners of a nascent discipline, but also the uncertainties of how disciplines are to be defined, themes Buch SKAM 36.indd 49 49 which recur when examining the Dictionary of National Biography (DNB). This exclusively British list of 1105 antiquaries, 171 archaeologists and 5 prehistorians (as of August 2007) provides an example of the range of variation the other lists may have provided had they been more comprehensive. The DNB also draws attention to problems of classification, identifying Thomas Bateman, Lily Frances Chitty, and Sir Henry Edward Leigh Dryden as both “archaeologists” and “antiquaries.” Similarly, Sir (John) Grahame Douglas Clark, Dorothy Annie Elizabeth Garrod and Mervyn Popham Reddaway are both “archaeologists” and “prehistorians,” while (Vere) Gordon Childe is both a “prehistorian” and “labour theorist,” but not an “archaeologist.” These “headwords” are chosen by the DNB contributors as “specialist authors” to “best identify the principal ’fields of interest’ by which the subject is now known and gains a place in the dictionary.”55 This resource has proven particularly useful for identifying a number of the antiquaries cited in the Archaeologia sample. This last sample is the least systematic, the 257 names (at the time of writing, not including anonymous entries or untraceable pseudonyms or initials in the Gentleman’s Magazine) representing the author’s idiosyncratic research interests. The emphasis here – being part of an attempt to evaluate the practicality of even trying to document the early history of archaeological field methods through published reports – was not on identifying landmarks or what was “typical” but of what was actually done. In this sense, perhaps, it is significant that 170 of the authors included in the Archaeologia list were not found on any of the others. So who are they? Given the caveats about methodology – this is probably what Clarke would have called a “bad sample” – the results are revealing nonetheless. Of the 2080 names found on these lists, the most common is Schliemann, appearing 10 times (he is missing from the Dictionary of National Biography because of his citizenship). He is followed by (Names and Number of mentions): – Sir Henry Creswick Rawlinson, 8; – Howard Carter, Sir Arthur Evans, Layard, Woolley, 7; – Petrie, Pitt-Rivers, 6; – Belzoni, Louis Leaky, Stukeley, Thomsen, and Winckel54 55 Berghaus and Schreckenberg 1983. Philip Carter, personal communication. 14.11.2009 14:54:02 Uhr 50 History and archaeology, the history of archaeology, and the archaeology of archaeology mann, Wheeler, Sir Max Edgar Lucien Mallowan, 5. There is some degree of consensus, then, that these are archaeologists and – according to David Clarke’s definition – that what they did was archaeology. Granted: this represents a small and not particularly random sample, and only further research will indicate whether these conclusions are valid or not. But the problem is that there seems to be something about writing either histories of – or introductions to – archaeology which leads to an emphasis being placed upon “great men” and their spectacular discoveries. Which means that, if “archaeology is what archaeologists do,” and the best the experts can agree on is that Schliemann and Rawlinson were archaeologists, then what Schliemann did at Troy and Rawlinson’s decipherment of cuneiform is archaeology, however far this may seem to be from what most people who call themselves archaeologists do nowadays. What is most interesting was just how few of these names – Schliemann and Rawlinson, especially, but also Belzoni and Leakey – actually did what we would now call archaeology. Rawlinson never excavated, and Louis Leakey is generally viewed as being a palaeoanthropologist, and some might know Mallowan only – if at all – as having been Agatha Christie’s husband. And yet these are the names of people listed in the histories of our discipline – as examples, as milestones – even though they are not really representative of what as professional archaeologist do every day. And in a lot of cases, some of the most interesting people – like Charles Roach Smith and E. B. Price, both of whom reported extensively on Roman remains found while sewers were being installed in London in the middle of the 19th century – rarely appear outside the list of references cited in the author’s own research. But if this is how the history of our own discipline is misrepresented – or misinterpreted – when we have documentary evidence available, then how accurate can our interpretations of prehistoric societies be? To say that Schliemann or Rawlinson are examples of archaeologists is almost like saying Tutankhamun is representative of Ancient Egypt – or Stonehenge is representative of the Neolithic – when clearly they are not. So this brings us back to this idea of autopsia, and how the first archaeologists – predating even Winckelmann – had used antiquarian techniques – had studied material culture as part of this scientific reaction against medieval scholasticism: placing more importance on personal experience and first-hand evidence than the Bible and Aristotle. Antiquarian research became necessary when it became obvious just how incomplete, unclear, and/or contradictory documentary evidence – classical texts, written history – can be. Some examples of the kinds of questions antiquaries tried to answer include attempts: – to associate names in Roman itineraries with actual places;56 – to determine the exact date when Caesar landed in Britain;57 – to identify what the Romans meant by the term “Samian“ ware (what is now more widely known as Terra Sigillata).58 Such attention to detail was also ridiculed by such people as Robert Burton. In his famous work, Anatomy of Melancholy59 Burton grouped “curious antiquaries” with “supercilious critics, grammatical triflers, note-makers” who “puzzle themselves to find out how many streets in Rome, houses, gates, towers, Homer’s country, Aeneas’s mother, Niobe’s daughters … What clothes the senators did wear in Rome, what shoes, how they sat, where they went to the closestool, how many dishes in a mess, what sauce.” And so long as documentation is interpretive and/or incomplete, archaeologists still only have Prestwich’s solution as our ultimate authority: I was there, I saw that. Or, as Indiana Jones always said: “Trust me.” Ultimately, these are not processual, post-processual or even cultural-historical questions. They are not about English or German or even Swiss archaeology. They are questions of methodology – fieldwork – analytical scale and documentation technologies. And in the end they relate to some of the most basic questions of philosophy: how do we know something? And – more important for archaeologists, as scientists – how do we prove it? 56 57 58 59 Buch SKAM 36.indd 50 E.W.S. 1852; E.W.S. 1853; Still 1853. Halley 1686; H.L.L. 1846; Robson 1866a; Robson 1866b; Dunkin 1846. Kempe 1844; Chaffers 1844; Chaffers W.1845; Chaffers W. W. C. 1845; Price 1844; Price 1845; Birch 1845:567. Burton 1850:72. 14.11.2009 14:54:02 Uhr History and archaeology, the history of archaeology, and the archaeology of archaeology Literature Anonymous 1850 – The Primeval Antiquities of Denmark [Review]. The Gentleman’s Magazine 33:161-169. Audouze, F. and Leroi-Gourhan, A. 1981 – France: A Continental Insularity. World Archaeology 13(2):170-189. Babbage, C.1847 – Conjectures on the Physical Condition of the Surface of the Moon. 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Umgekehrt ist der Historiker, der an Erkenntnisgrenzen stösst, nicht selten der Meinung, die Archäologen müssten nur mal graben, dann wäre das Problem gelöst. Liest man Schriftquellen, so tut sich eine andere Welt auf, als wenn man Funde und Befunde einer Ausgrabung oder einer baugeschichtlichen Untersuchung analysiert.1 Man hat oftmals den Eindruck, dass Schriftquellen und Sachgüter unterschiedliche Realitäten spiegeln, die in manchen Fällen kaum in Übereinstimmung zu bringen sind. Latrinengrube im Innenhof des Hauses «Zur Glocke» in Winterthur Ein glückliches Beispiel, bei dem ein gesicherter Bezug von Sachgütern und Schriftquellen beigebracht werden konnte, stellt eine Ausgrabung dar, die von der Zürcher Kantonsarchäologie 1985 im Innenhof des Hauses «Zur Glocke» in Winterthur durchgeführt und von Lotti Frascoli ausgewertet und publiziert wurde.2 Zwei an einen Hinterhof angrenzende Häuser bildeten seit dem Spätmittelalter einen gesamtheitlichen Komplex im Sinne von Vorderhaus und Hinterhaus, wobei die Häuser selber baugeschichtlich nicht untersucht werden konnten. In diesem Hinterhof ist ein spätmittelalterlicher Brunnenschacht sekundär als Latrine verwendet worden. Die angetroffene Füllung stammte aus dem letzten Viertel des 17. Jahrhunderts sowie aus dem Beginn des 18. Jahrhunderts. Wenig überraschend bestand die Latrinenfüllung aus unbrauchbar gewordenen Haushalt-Gegenständen wie Hohl- und Flachglas, Ofen- und Baukeramik, hölzernen und textilen Überresten, einigen Gegenständen aus Metall und Bein, ferner Tonpfeifen und vielem anderen mehr. Beim überwiegenden Teil der Funde handelte es sich um Gefässkeramik unterschiedlichster Art. 3 Dazu gehörte eine Gruppe von insgesamt 23 Gefässen und Gefässdeckeln, welche auf der Unterseite ein Monogramm vereinzelt in Kombination mit einem Datum aufwiesen: «HR» und «HRS» waren die häufigsten Inschriften (Abb. 1), daneben auch einzelne mit einem «C». Zugehörige Jahreszahlen, soweit als Ganze lesbar, situieren sich zwischen 1673 und 1700. Die Inschriften, welche von unterschiedlichen Händen teils aufgemalt, teils eingeritzt wurden, geben die Zeit der Herstellung oder des Gebrauchs an. Bei diesen Stücken handelte es sich nicht um repräsentative Gefässe; sie dürften aus dem täglichen Gebrauch stammen. Zu erwägen ist eine Verwendung im Zusammenhang mit dem familiären Gewerbebetrieb.4 Hinsichtlich der sozialen Einstufung der «in der Latrine der Liegenschaft «Zur Glocke» gefundenen Keramik mit ihrem Anteil an bemalter Fayence, an qualitativ hoch stehenden Gefässen mit Unterglasurmalerei sowie an importiertem Steinzeug» beurteilt Lotti Frascoli das Material als zu einem nicht unvermögenden Haushalt gehörig, verweist aber darauf, dass systematische Untersuchungen zur Einstufung frühneuzeitlicher Keramik-Ensembles fehlen.5 1 Abb. 1 Rückseite von Schüsseln und Deckeln mit dem Monogramm HRS («Hans Rudolf Sulzer») aus der Latrine des Hauses «Zur Glocke» in Winterthur ZH. Buch SKAM 36.indd 53 2 3 4 5 Grundsätzlich zum Problem Archäologie und Geschichte: Scholkmann 2003; Eggert 2005, 46–55; Eggert 2006, 197–229. Frascoli 1997, 46–71. Frascoli 1997, 60–64. Frascoli 1997, 65–66. Frascoli 1997, 69. 14.11.2009 14:54:03 Uhr 54 Abb. 2 Nachlassinventar des Hans Rudolf Sulzer von 1726 im Stadtarchiv Winterthur (Ausschnitt). Der Hausstand des Hans Rudolf Sulzer Soweit der archäologische Befund. Aufgrund von Steuerbüchern, Verkaufsurkunden und Bevölkerungsverzeichnissen, die im Stadtarchiv Winterthur aufbewahrt werden, lässt sich eine nahezu lückenlose Besitzer- und Bewohnergeschichte des Hauses «Zur Glocke» von der Mitte des 17. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts eruieren. Für die Zeit der erhaltenen Latrinenfüllung war eine Familie Sulzer Besitzer und Bewohner der Liegenschaft. Hans Rudolf Sulzer lebte als Familienoberhaupt zusammen mit seiner Mutter Regula Engelfriedin sowie mit seinen beiden Brüdern Hans Caspar und Johannes Sulzer. Letztgenannter war selber Vorstand einer mehrköpfigen Familie. Insgesamt lebten damals zehn Personen im Vorder- und Hinterhaus: fünf Erwachsene und fünf Kinder. Hans Rudolf Sulzer (1657–1726) war im Tuchgewerbe tätig. Im Jahre 1683 zahlte er 8 Pfund und 14 Schilling Steuern, was ihn als einen wohlhabenden Bürger auswies.6 An schriftlichen Quellen hat sich überdies ein Nachlassinventar des Hans Rudolf Sulzer aus dem Todesjahr 1726 erhalten (Abb. 2).7 Nach einem Schlaganfall hatte Sulzer seinen Tuchhandel dem jüngeren Sohn übergeben, der sich in diesem Geschäft auskannte. Der ältere Sohn Elias, ein Kunstmaler, der ständig in Geldnöten war, verlangte nach dem Tod Hans Rudolf Sulzers die Auszahlung des väterlichen Erbes. Dies war der Anlass, weshalb die Stadt die Aufnahme eines Nachlassinventars verfügte. Neben zwei Liegenschaften sowie etlicher Gold- und Silbermünzen umfasst das Inventar verschiedenen Hausrat aus Silber und aus Holz, etliche vergoldete Silbergefässe, ferner Bronze-, Kupfer- und Zinngeschirr, im Weiteren Bettwaren, Waffen und sonstiges, darunter 110 Bücher und 46 Bilder. Buch SKAM 36.indd 54 Archäologie und Geschichte Vergleicht man das Nachlassinventar, das mehr als tausend Gegenstände auflistet, mit dem wenig älteren Inhalt der Latrinenfüllung im Hinterhof, so stellt man fest, dass praktisch keine im Inventar aufgezählten Haushaltgegenstände in der Abfallgrube erfasst werden konnten.8 Die wichtigsten Fundkategorien Keramik, Trinkgläser und Glasflaschen finden sich nicht im Nachlassinventar, und umgekehrt ist ausser einem kleinen Randfragment von einem Zinnteller kaum eine der Materialkategorien des Nachlasses in der Latrine vertreten. Einen einzigen, wenn auch indirekten Bezug gibt es zwischen einer Tabakdose und einer Tabakbüchse aus Silber des Inventars zu den zahlreichen in der Latrine geborgenen Tonpfeifen, welche auf einen oder zwei Raucher im Haushalt hinweisen. Divergenz der archäologischen und der schriftlichen Überlieferung Man kann also festhalten, dass sich in unserem Fall Sachgüter und Schriftquellen auf geradezu ideale Weise ergänzen. Es ist aber – das muss deutlich festgehalten werden – eine seltene Ausnahme, dass Archäologie und Geschichte in dieser Weise ineinander greifen. Stellen wir uns aber einmal vor, welches Bild zu gewinnen wäre, wenn wir allein die Sachgüter oder nur die Schriftquellen zur Verfügung hätten. Hätten sich keine Schriftquellen zum Haus «Zur Glocke» erhalten, so wäre es aufgrund der Latrineneinfüllung bei der Annahme einer oder zwei wohlhabender Bürgerfamilien als Hausbewohner geblieben. Hauseigentümer, Namen und Lebensdaten der Hausbewohner, die ganze soziologische Zusammensetzung der Haushalte wären ohne Schriftquellen unbekannt geblieben. Auch die Auflösung der Monogramme «HR» und «HRS» sowie von «C» wohl für den Bruder Caspar wäre nicht möglich gewesen. Nicht einmal das Gewerbe, das die Familie bzw. der Hausvorstand betrieb, hätte aufgrund des vorliegenden Fundgutes ermittelt werden können. Am schwersten würde freilich die Unkenntnis des im Nachlassinventar aufgezählten Hausrates wiegen. Denn nur mit der Kenntnis des Inventars lässt sich die Gesamtheit der materiellen Ausstattung des Haushaltes einigermaßen abschätzen. Das Beispiel lehrt, wie wenig wir von einer Abfalldeponie auf die Gesamtheit eines Hausstandes rückschliessen können. 6 7 8 Frascoli 1997, 64–65. Frascoli 1997, 67–69. Frascoli 1997, 69. 14.11.2009 14:54:03 Uhr Archäologie und Geschichte Umgekehrt blieben dem Historiker, der sich ohne Kenntnis des vorliegenden Fundmaterials ein Bild von der materiellen Situation der Bewohnerschaft des Hauses machen möchte, wesentliche Artefakte des täglichen Gebrauchs verborgen: Tisch- und Küchengeschirr, Vorratsgefässe und Trinkgläser. Auch grundsätzliche Fragen wie Beschaffenheit und Örtlichkeit der Haushaltdeponie lassen sich aus den Schriftquellen nicht ermitteln. Das Beispiel zeigt mit aller Deutlichkeit, dass die Realität, die uns die Sachgüter vermitteln, deutlich von jener Realität abweicht, die sich allein aufgrund von Schriftquellen gewinnen lässt. Woher rühren die unterschiedlichen Realitäten, wie sie uns die schriftliche und die materielle Überlieferung vermitteln? Die Antwort ist eine zweifache: Erstens bedeutet Überlieferung immer Selektion. 9 Und zum Zweiten ist die Selektion der schriftlichen Überlieferung eine andere als jene der materiellen Überlieferung. Bleiben wir beim Hausstand der Familie Hans Rudolf Sulzer. Zuerst muss daran erinnert werden, dass eine Haushalteinrichtung traditionellerweise Generationen überdauert. Just zu diesem Zweck wurde das Nachlassinventar erstellt. Darin fehlen jedoch ganze Gruppen von Sachgütern, wie uns die Latrinenfüllung des Hauses zeigt. Die schriftliche Überlieferung trifft dahingehend eine Selektion, dass vor allem die kostbaren Haushaltgegenstände inklusive die Gefässe aus Bunt- und Edelmetall aufgelistet werden, tägliche Gebrauchsgegenstände wie Keramik und Glas jedoch unerwähnt bleiben. Die Schriften überliefern das Ungewöhnliche, das Spektakuläre, die Sachkultur hingegen das Gewöhnliche, das Alltägliche. Beides ist jedoch nur ein Ausschnitt aus dem Ganzen. Arnold Esch, der sich intensiv mit Fragen der historischen Überlieferung befasste, hat die Präferenz schriftlicher Quellen für das Aussergewöhnliche auf die griffige Formel gebracht: «Ein Gramm Pfeffer wiegt mehr als eine Tonne Salz.»10 Auch die materielle Überlieferung ist selektiv. Natürlich war aus der Sicht der Familie Sulzer die Entsorgung von unbrauchbar gewordenen Haushaltgegenständen nicht als Überlieferung im Sinne der Bewahrung intendiert, als was sie dem Archäologen erscheint. Aufgrund der Inventarliste wird jedoch deutlich, dass auch die Deponie der verschiedenen Materialien eine Selektion erfuhr. Gegenstände aus Metall fehlen weitgehend. Auch Textilien und selbst Hausrat aus Holz sind in der Latrinenfüllung deutlich untervertreten. Unbrauchbar gewordene Holzgegenstände wird man im Ofen ver- Buch SKAM 36.indd 55 55 brannt haben, und aus traditionellen Haushalten wissen wir, dass Bett- und Tischwäsche erst in der letzten Verwendung als Putzlappen entsorgt werden. Wir haben das Problem der Überlieferung bisher aus der Sicht derjenigen Personen betrachtet, die die entsprechenden Gegenstände in Gebrauch hatten, und gesehen, dass die schriftliche und die materielle Überlieferung der Artefakte eine verschiedenartige Selektion erfahren. Eine weitere Selektion findet in der postdepositalen Phase statt, in unserem Fall zwischen 1726 und der Ausgrabung im Jahre 1985. Erhalten hat sich nicht der gesamte Abfall, sondern nur ein Ausschnitt von 20–30 Jahren der Sulzer’schen Hausratentsorgung.11 Dieser Ausschnitt ist unter anderem dadurch bedingt, dass danach eine neue Latrinengrube eingerichtet wurde, deren Inhalt später durch bauliche Massnahmen verloren ging. Im Boden hängt die Erhaltung von Materialien wesentlich von der chemischen Zusammensetzung und von Veränderungsprozessen der Latrineneinfüllung ab. Organische Materialien sind regelmässig untervertreten, weil sie sich im Laufe der Bodenlagerung zersetzen oder umgewandelt werden. Die schriftliche Überlieferung hat ihr eigenes Schicksal. Die erste Frage ist, ob ein Schriftstück, wenn es seinen Zweck erfüllt hat und nicht mehr gebraucht wird, weggeworfen wird oder in einem Archiv Eingang findet. Dabei macht es bezüglich der Überlieferungs-Chance einen Unterschied, ob das Schriftstück in einem privaten oder in einem institutionellen Archiv aufbewahrt wird.12 Da die Aufnahme des Sulzer’schen Nachlassinventars eine Amtshandlung war, wurde es über seinen unmittelbaren Gebrauch hinaus im städtischen Archiv aufbewahrt. Damit war die erste Hürde genommen, und da es sich um ein institutionelles Archiv handelte, waren seine Überlieferungs-Chancen ziemlich gut. Archive und zumal institutionelle sind im Allgemeinen wohl behütete Schätze, aber wie viel ist durch Brand, Überschwemmung und Tierfrass zerstört worden! Auch bei den Schriftstücken kann in der postdepositalen Phase nochmals ein Selektionsprozess stattfinden,13 der wiederum völlig verschieden ist von jenem der Artefakte im Boden. 9 10 11 12 13 Grundlegend: Esch 1985. Esch 1985, 563. Schichtenübergreifende Passscherben zeigen, dass immer wieder auch älteres Material in die Latrine eingebracht wurde (Fascoli 1997, 57–58). Esch 1985, 537–539. Esch 1985, 535. 14.11.2009 14:54:03 Uhr 56 Unterschiedliche Realitäten Halten wir also fest: Die schriftliche und die materielle Überlieferung bilden je eine unterschiedliche Realität ab. Diese unterschiedlichen Realitäten sind durch die Selektion der Überlieferung bedingt, wobei die schriftliche und die materielle Überlieferung je einer eigenen und damit unterschiedlichen Selektionen unterworfen sind, seien diese intentionell – auf der Ebene der Benutzer der Materialien – oder ohne Intention wie in der postdepositalen Überlieferungsgeschichte der Artefakte14 ebenso wie der Schriftstücke. Grundsätzlich ist die Überlieferung eines Schriftstückes immer eine intentionelle. Verlorene Schriftstücke sind die grosse Ausnahme. Man kennt sie als Papyri alltäglichen und oft banalen Inhalts im antiken Ägypten oder als Birkenrindentexte im mittelalterlichen Novgorod.15 Ausnahmsweise stösst man bei einer Hausuntersuchung auf eine Deponie von Schriften, die vergessen gegangen ist. Die sogenannten «Zürcher Liebesbriefe» aus der Zeit um 1300, die man im Gebälk des Dachstuhls eines Bürgerhauses am Rennweg gefunden hat,16 sind ein Beispiel dafür. Ausser Gebrauch gekommene Schriftstücke wie Notizen, Verzeichnisse und Verträge, die sich überholt haben, werden vielfach weggeworfen, unterliegen also einer negativen Selektion. Als Kuriosum sei erwähnt, dass das Staatsarchiv Bern eine ganze Abteilung mit der Bezeichnung «Unnütze Schriften» führt. Für den Archäologen eher befremdend ist der Umstand, dass sich darin unter vielem anderen das Tagebuch der in den 1940er Jahren vorgenommenen Ausgrabungen in der Prioratskirche Rüeggisberg befindet. Auch das ist eine Form der Selektion: Schriften an einem Ort abzulegen, wo man sie nicht mehr oder wie im vorliegenden Fall nur durch Zufall findet. Die Überlieferung von Sachgütern geschieht in der Mehrzahl der Fälle ohne Intention einer handelnden Person. Verlorene Artefakte zählen dazu. Dazu gehören etwa Gegenstände, die man unter Kirchenbänken bzw. unter dem Holzfussböden finden kann.17 Ein berühmter Fundkomplex dieser Art wurde 1953 unter dem Chorgestühl der Klosterfrauen in Wienhausen (Niedersachsen) geborgen.18 Zutage gefördert wurden von Andachtsbildchen und Heiligenfigürchen über Pilgerzeichen und Rosenkränzen bis zu Pinseln, Brillen, Schreibtäfelchen und Spindeln. Die über tausend Artefakte, die heute im Klostermuseum ausgestellt sind, erschliessen ein Universum weiblicher Gelehrsamkeit, Handfertigkeit und Frömmigkeit. Buch SKAM 36.indd 56 Archäologie und Geschichte Zurückgelassene Sachgüter finden sich im Zusammenhang mit Wüstungen und Ruinenstätten und umfassen sowohl architektonische Überreste als auch Artefakte im engeren Sinn. Als Beispiel sei auf die 1388 gewaltsam zerstörte Stadt Weesen SG verwiesen, die gemäss den zwischen den Eidgenossen und den Habsburgern abgeschlossenen Landfrieden von 1394 und 1412 nicht mehr am bisherigen Standort wieder aufgebaut werden durfte.19 Im Gegensatz dazu gibt es auch intentionelle Überlieferungen von Sachgütern. Ein Beispiel dafür sind die Kleidung und die Beigaben, die man den Toten mit ins Grab gab – eine im Frühmittelalter und wiederum zur Zeit der Gegenreformation verbreitete Sitte.20 Eine besondere Art der Überlieferung von Sachgütern ist die Deponie von Kostbarkeiten, etwa von Münzschätzen oder Gegenständen aus Edelmetall, wie sie zu Zeiten der Krise vorgenommen wurde. Als Beispiel sei auf den spätantiken Silberschatz von Kaiseraugst hingewiesen.21 Aus der Sicht des Archäologen handelt es sich dabei um Hortfunde, wobei naturgemäss nur jene Schätze aufgefunden werden, die der Besitzer oder dessen Vertraute nicht wieder an sich nehmen konnten. Intentionell ist zwar die Deponie; zur Überlieferung wird sie jedoch nur dann, wenn sie ihren Zweck des vorläufigen Verbergens verfehlt hat. Es gibt aber auch den umgekehrten Fall, wo eine Entsorgung von Gegenständen mit der Intention einer Überlieferung verbunden wird. Wohl der bedeutendste Fund von Schriften, die ausser Gebrauch gekommen waren, wurde 1896 in der Genisa der Ben-Ezra-Synagoge in Kairo gemacht.22 In einem abgeschlossenen Raum, der Genisa, wurden rund 200 000 Schriftstücke gefunden, die zwischen dem 8. und dem 18. Jahrhundert entstanden waren. Unter den aufgefundenen Schriftstücken waren zahlreiche Abschriften und Kommentare zu alttestamentlichen Büchern; es fanden sich aber auch profane Schriften von der Heiratsvereinbarung bis zum Kaufver- 14 15 16 17 18 19 20 21 22 Lang 2002, 29–40 (archäologische Taphonomie). Janin 1995. Zürcher Liebesbriefe 1988. Vgl. das 1992 gegründete Inventar der Fundmünzen in der Schweiz. Appuhn 1973. Schindler 2001, 21; vgl. Wüstung 1998. Grab und Grabbrauch 1998; Graenert/Motschi 2005. – Die in der Zeit der Gegenreformation neuerlich auflebende Sitte von Grabbeigaben wird erst in jüngster Zeit wahrgenommen (Descoœudres et al. 1995, 78–80; Mittelstrass 2007). Kaufmann-Heinimann/Furger 1984; Fellmann 2000. Genisa 1989; Esch 1985, 543f. 14.11.2009 14:54:04 Uhr Archäologie und Geschichte 57 Gebeine gingen allmählich vergessen. Im Jahr 1982 hat man bei archäologischen Ausgrabungen den integralen Umfang des ursprünglichen Beinhauses wieder entdeckt und die Gipswände eingerissen. Dabei zeigte es sich, dass zugleich mit dem Verbergen der Gebeine 23 Holzskulpturen deponiert worden waren.25 Es handelte sich dabei mehrheitlich um Altarstatuen, die zwischen dem ausgehenden 13. und dem frühen 17. Jahrhundert entstanden waren. Walter Ruppen, der Bearbeiter der Leuker Skulpturen, vermochte für das Wallis eine weit zurückreichende Sitte nachzuweisen, wonach nicht mehr genutzte Statuen von Heiligen pietätvoll bestattet wurden.26 Zusammenfassung Abb. 3 Leuk VS, Beinhaus unter der Pfarrkirche St. Stephan. Die Anfang des 16. Jahrhunderts aufgeschichteten Gebeine (mittlerer Raster) hat man Mitte des 19. Jahrhunderts durch eingestellte Gipswände verdeckt, welche 1982 wieder eingerissen wurden. trag. Die Schriftstücke, noch immer nur zu einem geringen Teil bearbeitet und ediert, sind zu verschiedenen Zeiten ausser Gebrauch gekommen. Wohl aus Gründen der Pietät hat man sie jedoch nicht vernichtet, sondern aufbewahrt. Man kann allerdings nicht von einer Archivierung sprechen, denn sie waren materiell und inhaltlich völlig ungeordnet. Entsorgt und dennoch aufbewahrt. Dazu gibt es Parallelen bei den Sachgütern sowie auch bei menschlichen Überresten. In dem Anfang des 16. Jahrhunderts unter der Pfarrkirche von Leuk VS eingerichteten Beinhaus haben sich Schädelwände und Gebeine von Bestattungen erhalten, die über die Gründungszeit des Ossuars zurückreichen (Abb. 3).23 Solche Beinhäuser hat es damals laudauf, landab gegeben. Bei den Gebeinen handelt es sich ebenfalls um eine Form der pietätvollen Entsorgung und zugleich der Aufbewahrung d.h. der Überlieferung. In der Stadt Leuk kommt noch ein Weiteres dazu. Fast alle Beinhäuser hierzulande wurden im Gefolge der Aufklärung im 18. oder 19. Jahrhundert ausgeräumt; man war des ständigen Memento-mori-Mahnmals überdrüssig geworden. So auch in Leuk. Doch statt das Beinhaus auszuräumen und die Gebeine in einem Massengrab zu deponieren, wie man dies andernorts tat,24 wurden im Beinhaus von Leuk Mitte des 19. Jahrhunderts Gipswände errichtet und auf diese Weise die Knochen dem Anblick entzogen. Das Beinhaus wurde solcherart zu einer einfachen Kapelle reduziert, und die hinter den Gipswänden gestapelten Buch SKAM 36.indd 57 Die Überlieferung eines historischen Faktums durch Schriftquellen oder durch materielle Quellen ist von der Sache her eine verschiedene (Abb. 4). Nur kostbare Artefakte haben eine Chance, in Schriftquellen überhaupt erwähnt zu werden. Da Kostbarkeiten von Generation zu Generation weitergegeben oder wertvolle Materialien beispielsweise durch Einschmelzen rezikliert wurden, sind solche Gegenstände nur selten im Fundgut des Archäologen anzutreffen. Es ist das Artefakt des täglichen Gebrauchs, das zurückgelassen oder entsorgt wird, das aber kaum je in den Schriftquellen Erwähnung findet. Schriftquellen und Sachgüter, die nicht mehr in Gebrauch sind, werden deponiert. Bei Schriftstücken bedeutet dies wegwerfen oder aufbewahren. Eine Aufbewahrung bzw. Überlieferung in einem privaten oder institutionellen Archiv setzt eine intentionelle Selektion voraus. Auf unnütz oder unbrauchbar gewordene Dinge wird verzichtet, indem man sie entsorgt oder zurücklässt. Gewöhnlich besteht dabei keine Intention zu einer Überlieferung. Wertvolle Gegenstände, sofern nicht länger gebraucht, werden verschenkt, verkauft oder materiell rezikliert. Damit findet ebenfalls eine Selektion statt. In der postdepositalen Phase sind die Schriftstücke im Archiv oder die Artefakte im Boden Prozessen ausgesetzt, die in der Regel ohne Intention in Bezug auf die Überlieferung ablaufen wie Beschädigung und Verlust im Archiv oder mechanische Störungen und chemische Zersetzung im Boden. 23 24 25 26 Leuk 2008, 22f. Descœudres/Bacher 1989, 15 und 27. Ruppen 1983. – Die Deponie von Holzskulpturen in Beinhäusern ist auch in der Innerschweiz überliefert (Horat 2004, 103). Ruppen 1983, 243. 14.11.2009 14:54:04 Uhr 58 Archäologie und Geschichte Abb. 4 Schematische Darstellung des bei Schriftquellen und Sachgütern getrennt und unterschiedlich verlaufenden Überlieferungsprozesses. Schriftquellen und Sachgüter unterliegen in ihrer Überlieferung unterschiedlichen Selektionsprozessen, die teils intentionell, teils ohne Intention vonstatten gehen. Was dann übrig bleibt, was der Historiker im Archiv und der Archäologe im Boden finden, das ist für unsere Bestimmung der historischen Realität ausschlagge- Buch SKAM 36.indd 58 bend. Wenn dabei die verschiedenartigen Realitäten der Schriftquellen und der Sachgüter als Bedingtheit unterschiedlicher Überlieferungsprozesse wahrgenommen werden, haben beide – Historiker und Archäologen – gute Chancen, die eigene sowie auch die andere Position besser zu verstehen. 14.11.2009 14:54:04 Uhr Archäologie und Geschichte 59 Bibliografie Abbildungsnachweis Appuhn 1973 – Horst Appuhn, Der Fund vom Nonnenchor (Kloster Wienhausen 4), Wienhausen 1973. 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Als Ausgangspunkt für meine Betrachtung wähle ich die Objektorientierung als gemeinsame Problemstellung im Schnittfeld der Disziplinen. Dafür wende ich mich in einer forschungsgeschichtlichen Rückschau der im Zeichen der Alltagsgeschichte stehenden Diskussion zwischen Mittelalterarchäologie und Geschichte während der 1980er und 90er Jahre zu. Dieser Diskussion entnehme ich zwei Grafiken, die den damaligen Gesprächsstand zum objektorientierten Arbeiten in Archäologie und Geschichte gut wiedergeben, und führe sie im Hauptteil des Beitrags einer systematisierenden Neubetrachtung zu. Mehr als um eine Neubewertung der Modelle von damals geht es dabei aber um einen Beitrag zu einer Diskussion allgemeinerer Art. In der Objektorientierung lassen sich erkenntnistheoretische Grundprobleme der Geschichtswissenschaften aufzeigen, wobei ich mich auf die Frage nach der Interpretationsmethode der Geschichtswissenschaft konzentrieren möchte. Münden soll der Beitrag schliesslich in ein Plädoyer für eine neuerliche Befassung mit der Theorie des historischen Verstehens unter dem Zeichen des Materiellen, was für die Archäologie nicht nur Positionierung im Gebäude der historischen Wissenschaften, sondern auch dessen Mitgestaltung bedeuten würde. I. Forschungsgeschichte: Interdisziplinarität im Zeichen der Alltagsgeschichte Die alltagsgeschichtliche Neuorientierung der 80er Jahre führte zu bedeutsamen Entwicklungen in der interdisziplinären Beziehung Mittelalterarchäologie – Geschichte.3 Zunächst bewirkte das «objektnahe» neue Forschungsfeld der Alltagsgeschichte ein Zusammenrücken der Disziplinen in der Praxis. Daneben entstand zwischen der sich herausbildenden «archäologischen Sachkulturforschung» und der auf Schrift- und Bildquellen basierenden Alltagsgeschichtsforschung eine regelrechte Theoriediskussion – vielleicht die einzige deutschsprachige Theoriediskussion zwischen Mittelalterarchäologie und Geschichte, die bislang diesen Namen verdient. In dieser Diskussion ging es um Möglichkeiten und Grenzen des archäologischen Zugangs zur Alltagsgeschichte; die bild- und schriftquellenhistorischen Zugänge standen nicht zur Debatte. Es handelte sich also tendenziell um eine asymmetrische Diskussion, in der auch die Selbstrechtfertigung der jungen Mittelalterarchäologie – und deren Herausforderung – noch eine bedeutsame Rolle spielten. Ich will im Folgenden zwei von Seiten der Kremser Realienkunde in die Diskussion eingebrachten Modelle vorstellen, die in diesem Zusammenhang erwähnenswert sind: Das Modell der «komplexen Alltagsverbindungen» 1 2 3 Buch SKAM 36.indd 61 Es ist allerdings nicht der «traditionell-historische Einfallswinkel» gemeint, der nach Ericsson 2000, 144 nur mit der Beantwortung von Fragen nach dem «Wann?» und «Wo?» befasst ist – was m. E. eher als antiquarischer Ansatz bezeichnet werden sollte. Geschichtswissenschaft befasst sich ganz zentral und durchaus traditionell auch mit der Frage nach der Bedeutung ihrer Quellen – wobei diese Frage mit wechselnder Mode natürlich in unterschiedlichen Spielarten gestellt wurde und gestellt werden wird, vgl. Frommer 2007, 20f. Die sprachliche Gleichsetzung der Geschichtswissenschaften im engeren und weiteren Sinne ist für eine sich ernsthaft als Geschichtswissenschaft i. w. S. begreifende Archäologie nicht sehr befriedigend. In Frommer 2007, 16 habe ich den Begriff «Schriftquellenhistorik» für die Geschichtswissenschaft i. e. S. vorgeschlagen – als umfassender formulierte «wissenschaftliche» Variante des seit Mitte der 90er gebräuchlichen, aber eher quellenkundlich klingenden Begriffs «Schriftquellenforschung», der auch auf der Züricher Tagung auf wenig Gegenliebe traf (vgl. auch schon Tauber 1996, 172). Wenn ich in diesem Beitrag eine rein formale Lösung verwende, indem ich den Kurzbegriff «Geschichte» auf die Geschichtswissenschaft i. e. S. beschränke, soll der Diskussion etwas die Polarität genommen werden. Für die Zukunft möchte ich den Wunsch äussern, dass auch von (schriftquellen)-historischer Seite Vorschläge zur Lösung dieses für die historische Archäologie nicht ganz irrelevanten nomenklatorischen Problems eingebracht werden. Zum gesamten Abschnitt «Forschungsgeschichte» vgl. Frommer 2007, 81–85. 14.11.2009 14:54:04 Uhr 62 Abb. 1 Modell der Komplexen Alltagsverbindungen nach Gerhard Jaritz (erweitert durch Jürg Tauber und Helmut Hundsbichler). Abb. 2 Modell des Forschungsfelds Realienkunde nach Ewald Kislinger (erweitert durch Hans-Werner Goetz). nach Gerhard Jaritz und die Darstellung des «Forschungsfelds Realienkunde» nach Ewald Kislinger. Beide wurden im Verlauf des Diskurses benutzt, um auf die Beschränktheit des archäologischen Zugangs zur Alltagsgeschichte hinzuweisen. Beide sollen im Folgenden kurz vorgestellt werden, als Grundlage für ihre ausführlichere Diskussion im Hauptteil des Beitrags. Nach Gerhard Jaritz spiegelt Alltag eine «gewisse Anzahl oder ‹Summe› von Gegebenheiten wider. Diese Buch SKAM 36.indd 62 Die Realität im Blick sind bestimmten Bedingungen unterworfen, aus gewissen Absichten entstanden und beziehen sich auf konkrete Situationen. Jede entsprechende Quellennachricht lässt sich so als eine aus bestimmten Gründen entstandene Verbindung bzw. Verknüpfung der Kategorien Mensch (geschlechts-, gruppen-, altersspezifisch etc.), Objekt, Situation (in der die Mensch-Objekt-Beziehung auftritt oder durch welche sie ausgelöst wird) sowie Qualität (im weitesten Sinn, etwa als Form, Farbe, Material, Grösse, Wert, Funktion oder Zahl) erkennen und interpretieren».4 Jaritz zufolge lässt sich Alltag «allein in der Auseinandersetzung mit solchen Verknüpfungen bzw. Verbindungen analysieren»; «die Frage nach ihnen muss als Basis für jede Interpretation dienen». Das Jaritz-Schema, das im grafischen Original lediglich aus den im Rechteck angeordneten und mit Doppelpfeilen verbundenen Kategorien Mensch, Objekt, Qualität und Situation besteht, wurde von Jürg Tauber und, an diesen anschliessend, Helmut Hundsbichler schliesslich auf die Archäologie übertragen, womit der von Jaritz noch auf die Arbeit mit «Quellennachrichten» (s. o.) beschränkte Gültigkeitsbereich des Schemas erweitert wurde (Abb. 1).5 Dabei wurde festgestellt, dass die Archäologie mit der Objekt-Qualität-Beziehung nur einen kleinen Teil dieser Alltagsbeziehungen bearbeiten kann und daher auf der Basis der «Sachquellen allein das geforderte Netz zur umfassenden Rekonstruktion des Alltags nicht zu knüpfen» sei.6 Im zweiten hier interessierenden Modell symbolisierte Ewald Kislinger das Forschungsfeld Realienkunde als System konzentrischer Kreise, wobei die jeweils kleineren Teilkreise in die sie umfassenden integriert sein sollen (Abb. 2).7 Die im Kreisschema angeordneten Forschungsbereiche stehen dabei in komplexer Wechselwirkung miteinander, was die zwei Pfeilreihen in der Grafik versinnbildlichen sollen. Die als rein objektbezogen verstandene Sachforschung der Archäologie stellt in dieser Sicht «das beschränkteste Arbeitsfeld dar, den blossen Einstieg ohne Sicht auf übergeordnete, universellere Perspektive»8. 4 5 6 7 8 Alle Zitate des Absatzes vgl. Jaritz 1989, 13, vgl. auch ebda. Abb. 1. Tauber 1992, 710f., 725; Hundsbichler 1996, 15–17. Zitat: Tauber 1992, 710f. Kislinger 1987, 28f. Zum Folgenden vgl. Goetz 1990, Abb. 1–3; Hundsbichler 1991, 92f. Zitat: Hundsbichler 1991, 92. 14.11.2009 14:54:04 Uhr Die Realität im Blick 63 II. Neubetrachtung: Interdisziplinär diskutierte Modelle der Objektorientierung Nach dieser Kurzvorstellung sollen die zwei Modelle einer Neubetrachtung unterzogen werden. Dabei möchte ich mich dreier systematischer Unterscheidungen bedienen, die in den theoretisch-methodischen Diskussionen zum objektorientierten Arbeiten in der Geschichtswissenschaft häufig nicht mit ausreichender Konsequenz beachtet werden: – der Unterscheidung zwischen Objekten als Quellen und Objekten als Elementen historischer Konstruktionen (Differenzierung nach der Stellung des Objekts im wissenschaftlichen Erkenntnisprozess) – der Unterscheidung zwischen materieller Realität und subjektiver Auffassung/Imagination (Differenzierung Objektivität vs. Subjektivität) – der Unterscheidung zwischen Vergangenheit und wissenschaftlicher Gegenwart (Differenzierung nach Zeitebenen). Im vorliegenden Beitrag wird vor allem auf die erstgenannte Unterscheidung abgehoben, in zweiter Linie auf die zweite und nur am Rande auf die dritte. Systematisch dürfte den drei Unterscheidungsebenen wegen der Elementarität ihrer Kategorien aber gleiche Bedeutung zukommen. II.1 Subjekt- und objektbezogene Umweltanalyse Laut Gerhard Jaritz dient das Abb. 1 zugrunde liegende Schema sowohl der Analyse als auch der Interpretation von Quellennachrichten (s. o.).9 Damit unterlässt Jaritz zugegebenermassen eine klare Trennung von Quellenund Konstruktionsebene. Man wird aber aus der Formulierung schliessen können, dass das Schema zumindest auch Bedeutung für die Ebene der historischen Konstruktion beanspruchen soll. Die durch Tauber und Hundsbichler vertretene Beschränkung der Archäologie auf den Bereich der Objekt-Qualitäts-Beziehung bezieht sich dagegen letztlich wohl nur auf die Quellenebene: Die Beschreibung von Qualitätsmerkmalen der geborgenen Sachgüter gehört nach herrschender Meinung sicherlich zu den ohne eigentliche Interpretationsleistung möglichen Grundkompetenzen der Archäologie.10 Der Verwendung des Schemas in der «asymmetrischen Theoriediskussion» liegt also gewissermassen ein Missverständnis zugrunde. Dieses wird noch etwas klarer, wenn man die Struktur des Jaritz-Schemas generell zur Diskussion stellt. Dabei geht man am besten von der erweiterten, 1995 von Helmut Hundsbichler publizierten Buch SKAM 36.indd 63 Abb. 3 Zur Anatomie objektorientierter historischer Konstruktion: Subjektbezogene Umweltanalyse (links, reduziert nach Jaritz) und objektbezogene Umweltanalyse (rechts, nach Scholkmann) im Vergleich. Version des Schemas aus (Abb. 1): Zunächst stellt man fest, dass aus irgendeinem Grund nur die Kategorien «Mensch», «Situation» und «Qualität» mit erklärenden Attributen versehen wurden, nicht dagegen die Kategorie «Objekt». Ein Blick auf diese Attribute zeigt, dass sie mit Alter, Geschlecht und Schicht für «Mensch» bzw. mit Schauplatz, Bedingung und Auslöser für «Situation» analytisch wichtige Charakteristika bzw. Qualitäten der entsprechenden Kategorien beschreiben. Der Kategorie «Qualität» zugeordnet finden sich wiederum analytisch wichtige Bezeichnungen von Eigenschaften wie Material, Form, Funktion, Wert – die nun aber ganz offensichtlich Charakteristika/Qualitäten von Objekten bezeichnen sollen. Systematisch sind diese Objekt-Qualitäten in Abb. 1 also nach rechts oben zu verschieben, womit für die Kategorien Mensch, Situation und Objekt analoge Gegebenheiten geschaffen wären. Die vierte Kategorie «Qualität» erweist sich nun aber als überflüssig – als im mathematischen Sinn «trivial» und kann daher vereinfachend entfallen. Die inhaltliche Bedeutung des Faktors «Qualität» für die Alltagsforschung wird dadurch nicht gemindert, sondern im Gegenteil noch herausgestellt: Qualität ist in gleicher Weise Randbedingung der drei anderen Kategorien; ihr kommt daher in jeder einzelnen «Alltagsverbindung» besondere Bedeutung zu. Beim nun entstehenden Dreieck zwischen Mensch, Objekt und Situation (Abb. 3, links) würde sich eine Kenn- 9 10 Zum Abschnitt «Subjekt- und objektbezogene Umweltanalyse» generell noch einmal Frommer 2007, 83f. Diese Ansicht muss für primär beschreibende Kategorisierungen auch nicht weiter problematisiert werden, anders sieht dies für (z. B. sozial) wertende Kategorisierungen aus. Sicherlich nicht zu folgen ist etwa der in der frühmittelalterlichen Gräberfeldarchäologie entwickelten, aber auch über diese hinaus verbreiteten, Vorstellung von der sozialen Qualität als neben Zeit und Raum «dritter Dimension» (Christlein 1975, 173) der quellenkundlichen Bestimmung eines Sachguts; vgl. hierzu auch Brenner 2001, 365–368. 14.11.2009 14:54:05 Uhr 64 zeichnung des archäologischen Arbeitsfeldes – auf der Quellenebene – auf den Eck-Punkt des Objektes beschränken, was – auf der Konstruktionsebene – bedeuten würde, dass die Archäologie selbstständig überhaupt keinen Beitrag zur Alltagsgeschichtsforschung leisten könnte. Da so weit sicher die wenigsten Archäologen gehen würden, soll der (interdisziplinäre) Erkenntniswert des Jaritz-Schemas im Folgenden auf die Konstruktionsebene beschränkt werden; das Schema soll im Weiteren ausschliesslich als gestaltliches Modell der historischen Konstruktion verstanden werden. Als solches kann das Schema zugleich auch als Essenz des nach Hans-Werner Goetz und Hubert Ehalt so bezeichneten alltagsgeschichtlichen Konzepts der «subjektbezogenen Umweltanalyse» begriffen werden, wo es um die Frage geht, wie historische Lebensbedingungen (Kategorien: Situation, Objekt) auf die Betroffenen (Kategorie: Mensch) einwirken und von diesen «wahrgenommen, erlebt und nach ihren Bedürfnissen gestaltet werden».11 Nun hat Barbara Scholkmann 1998 die archäologische Alltagsforschung – systematisch ist hier analog zu Jaritz (s. o.) zumindest auch die Konstruktionsebene gemeint – als «objektbezogene Umweltanalyse» dargestellt und dieser ebenfalls ein Drei-Kategorien-System zugeordnet, das in Abb. 3 dem reduzierten Jaritz-Schema gegenübergestellt werden soll.12 Wir stellen leicht fest: Sie sind formal so gut wie identisch. Sie sind es auch inhaltlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Historiker beider Disziplinen auf der Konstruktionsebene nur (noch) mit subjektiven Imaginationen von Menschen, Objekten, Strukturen und Situationen operieren. Als Interpretationsmodelle weisen subjekt- und objektbezogene Umweltanalyse im Wesentlichen zwei Unterschiede auf, die im Folgenden besprochen werden sollen. Der erste Unterschied steckt im Dualismus Situation/Struktur – was offenkundig mit der Ereignis/ProzessDiskussion zusammenhängt und hier nicht weiter vertieft werden soll.13 Der zweite Unterschied ist in der Gegenüberstellung in Abb. 3 nicht zu sehen, da er nicht nur die letztendliche Gestalt der historischen Konstruktion, sondern den Gesamtvorgang des historischen Deutens betrifft. Er hat damit zu tun, dass die subjektorientierte Umweltanalyse links auch als abstrakte Darstellung eines auf Schriftund Bildquellen basierenden hermeneutischen Erkenntnisprozesses begriffen werden kann, während das formal fast identische Modell rechts erkenntnistheoretisch bislang nicht in gleicher Weise festgelegt ist.14 Um diesem Unterschied auf die Spur zu kommen, soll der Konstruktionsebene vergleichend die Situation Buch SKAM 36.indd 64 Die Realität im Blick auf der Quellenebene gegenübergestellt werden. Hier scheinen nämlich – namentlich aus hermeneutischer Perspektive – deutliche Unterschiede zwischen Archäologie und Geschichte auf: Während die Archäologie mit im Boden überlieferten realen historischen Objekten bzw. Umgebungen umgeht, befasst sich die Geschichte mit Schrift- und Bildquellen, in der historische Auffassungen von solchen Objekten oder Umgebungen wiedergegeben bzw. reflektiert werden.15 Im Folgenden wollen wir uns der sich abzeichnenden Diskrepanz zwischen Konstruktionsebene (grosse Ähnlichkeiten zwischen Archäologie und Geschichte) und Quellenebene (grosse Differenzen) etwas genauer zuwenden und dabei die Schlüsselfrage nach den diese Ebenen verbindenden Interpretationsmethoden auf beiden Seiten in den Blickpunkt rücken. Damit verbindet sich denn auch eine gewisse Generalisierung: Nach Hermann Appelt besteht zwischen objektorientiertem und nicht objektorientiertem Arbeiten kein grundsätzlicher methodischer Unterschied, weswegen die folgenden methodologischen Überlegungen über diesen engeren Problemkreis hinaus Bedeutung beanspruchen können.16 II.2 Sprachhermeneutik und materielle Hermeneutik Nun führt uns in der Methodenfrage eine Neubetrachtung des Kreismodells «Forschungsfeld Realienkunde» weiter.17 Was die (objektorientierte) Geschichtswissenschaft angeht, insofern sie von Schrift- und Bildquellen ausgeht, kann das Modell nämlich sowohl für die Konstruktionsebene als auch für die Quellenebene herangezogen werden. Um in der weiteren Diskussion die Unterschiede zur archäologischen Situation herauskristallisie- 11 12 13 14 15 16 17 Goetz 1986, 14, inkl. beider Zitate. Zum selben Thema vgl. Ehalt 1984, 21, der den Begriff als «Subjektbezogene Lebensweltanalyse» eingeführt hatte. Scholkmann 1998, 78–83. Dazu Frommer 2007, 196–198. Trotz diverser Ansätze zur Ausgestaltung des archäologischen Interpretationsprozesses (Scholkmann 1998, 78 und 82) formuliert Scholkmann keine explizite erkenntnistheoretische Dimension des Analyse- und Interpretationsmodells «Objektbezogene Umweltanalyse». Der Befund der «Methodenlücke» zwischen quellenkundlicher Quellenerschliessung und -aufbereitung und der etwa in Abb. 3 rechts dargestellten «fertigen» historischen Konstruktion beschränkt sich jedoch nicht auf den engeren Problemkreis von Alltagsgeschichte und Sachkulturforschung, sondern kann als allgemein-archäologisches Problem gelten, vgl. Frommer 2007, 16–18 und 99–112. Scholkmann 1998, 82; Frommer 2007, 150f. Das Problem der Formationsprozesse auf beiden Seiten soll an dieser Stelle noch ausgeklammert bleiben, um den grundsätzlichen Unterschied zwischen Materialität und Auffassung nicht zu verunklären. Appelt 1984, 17. Zum gesamten Abschnitt «Sprachhermeneutik und materielle Hermeneutik» vgl. Frommer 2007, 150–162. 14.11.2009 14:54:05 Uhr Die Realität im Blick 65 Abb. 4 Objektorientierung in der Geschichte: Der Nachvollzug von alltagshermeneutischer Auffassung in der Vergangenheit (links) durch alltagsgeschichtliche Forschung in der Gegenwart (rechts). ren zu können, wird in Abb. 4 die subjektive Komponente bzw. der Auffassungs-Aspekt durch die ikonische Zuordnung des Kreismodells zu einem menschlichen Auge (als Schnittstelle zwischen Geist und Umwelt) plakativ hervorgehoben. Auf der Quellenebene (Abb. 4, links) kann das Kislinger-Modell für die zumeist alltagshermeneutische Reflexion der Objekt-Umwelt-Mensch-Beziehung durch den Menschen der Vergangenheit stehen – ihm soll das abgebildete Auge gehören. Der historische Mensch fasst Objekte in seiner Umwelt auf (symbolisiert durch die Spiegelung in der Iris) und kontextualisiert sie vor dem Hintergrund seiner Individualität und der auf ihn einwirkenden überindividuellen Mentalitäten und Strukturen (untere Pfeilreihe). Zugleich trägt diese Auffassung zur stetigen Neukonzeptualisierung von Individuum und Umwelt bei (obere Pfeilreihe). Auf der Konstruktionsebene (Abb. 4, rechts) beschreibt das Kreismodell den Vorgang der subjektorientierten Umweltanalyse und ist in dieser Hinsicht dem Jaritz-Schema weitgehend äquivalent: Der Forscher – zu ihm gehört das rechte Auge – versucht zum einen, das überlieferte aufgefasste Objekt vor dem Hintergrund seiner Kenntnis von Alltag/Lebenswelt, Mentalitäten/Strukturen sowie der materiellen Kultur zu kontextualisieren und zu verstehen (untere Pfeilreihe und Spiegelung in der Iris), andersherum aktualisiert er seine Begriffe der übergeordneten Geschichtsebenen anhand des aufgefassten Objektes und dessen historischen Kontextes (obere Pfeilreihe). In ähnlicher Form wäre die historische Konstruktion sicher auch für die Archäologie zu beschreiben (s.o.). Buch SKAM 36.indd 65 Nun behauptet die historische Hermeneutik – im Einzelnen auf sehr unterschiedliche Art und Weise –, dass der forschende Historiker in der Lage ist, über die vermittelnden Quellen die historische Gedankenwelt in adäquater Weise nachvollziehen bzw. verstehen zu können. Diese Idee der prinzipiellen Durchlässigkeit der Schranke zwischen vergangenen und gegenwärtigen geistigen Welten ist seit jeher ein zentrales Axiom der «historischen Methode». So glaubte der Theologe und Philosoph Friedrich Schleiermacher im frühen 19. Jahrhundert, durch ineinandergreifende psychologische und grammatische Interpretation den Urheber eines Textes schliesslich besser verstehen zu können als dieser sich selbst.18 Für Johann Gustav Droysen, den methodologischen Vater der modernen Geschichtswissenschaft, war dem Historiker nicht mehr nur der Text und dessen Urheber, sondern die (implizit als Text begriffene) Geschichte als Ganzes verständlich.19 Verantwortlich hierfür zeichnete bei Droysen die Geschichte und Historiker verbindende Kongenialität des Menschen. Auch für den Philosophen und Historiker Wilhelm Dilthey existierte eine «hintergründige Gleichartigkeit der menschlichen Natur», die das einfühlende Verstehen vergangener geistiger Welten ermöglicht, wobei Dilthey dem biografischen Verstehen besonderes Potenzial zugestand.20 Dilthey billigte dem Verstehen schliesslich sogar objektive Aspekte zu, indem 18 19 20 Schleiermacher 1999, 94–97.. Hier und zum Folgenden vgl. Droysen 1960, 25–27 und 334f., Grondin 2000, 96. Zitat Giuliani 2003, 10. Zum Folgenden vgl. Dilthey 1981, 177–180 (mit Zitat). 14.11.2009 14:54:05 Uhr 66 Die Realität im Blick Abb. 5 Die hermeneutische Theorie sieht keine Möglichkeit des adäquaten Verstehens nicht aufgefasster materieller Relikte der Vergangenheit vor. er das Leben als verständliche äussere Wirklichkeit eines übersubjektiven, gemeinsam hervorgebrachten «objektiven Geistes» begriff. Bei Hans-Georg Gadamer, dem Schöpfer der vielleicht prominentesten philosophischen Hermeneutikkonzeption der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts, ist es die «Wirkungsgeschichte» als «Überlieferungsgeschehen, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln», die dem Historiker – unter bestimmten methodischen Bedingungen – ein adäquates Verstehen der Vergangenheit erlaubt.21 Bei aller Unterschiedlichkeit dieser Konzeptionen von (historischer) Hermeneutik – die Spannweite reicht von der Textauslegungslehre Schleiermachers hin zur universalen Beschreibung jedes Verstehens und Weltbezugs bei Gadamer – ist dieses Gegenwart und Vergangenheit verbindende Dritte, das tertium comparationis als philosophische Grundlage des zeitübergreifenden Verstehens, immer am Vorbild des der Vergangenheit und Gegenwart gemeinsamen Textes orientiert gewesen.22 Jede Erweiterung der Hermeneutik über reale Texte hinaus ging einher mit der Textualisierung der Objekte und Medien des Verstehens, was bei Gadamer schliesslich in der kaum weiter generalisierbaren Aussage mündet: «Alles Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache».23 Stets ausserhalb des Gesichtskreises hermeneutischen Verstehens lag daher das archäologische Problem des historisch adäquaten Deutens der rein materiell überlieferten Objekte und Umgebungen der Vergangenheit, deren ehemals lebendige «textuelle» Auffassungen verloren gegangen sind oder gar nie überliefert wurden. Dass das Droysen-Bernheim-System traditionell auch Buch SKAM 36.indd 66 nicht schrift- oder bildtragende Relikte der Vergangenheit als historische Quellen einschloss (unter dem Begriff «Überreste» auf einer Ebene mit Urkunden oder Geschäftsschriftgut) muss letztlich weitestgehend als Formalie gewertet werden:24 Sowohl Fragestellungen als auch Methodologie der historistischen Geschichtswissenschaft bezogen sich effektiv nur auf die Belange der schriftlichen Quellen – im Bezug auf die Methodologie hat sich diese Tatsache bis heute erhalten. Aus Sicht der historischen Hermeneutik ergibt sich also das folgende Gesamtbild: Während die traditionelle nicht-archäologische Geschichtswissenschaft über einen Zugang zur Vergangenheit und – über die menschliche Auffassung – auch zu deren materiellen Realitäten verfügt (Abb. 4), ist dies für die Archäologie nicht der Fall: Das Verstehen nicht aufgefasster materieller Relikte der Vergangenheit wurde zu keiner Zeit ernsthaft als hermeneutisches Problem betrachtet (Abb. 5). Was bedeutet dies konkret? Es bedeutet, dass Archäologie zwar in der Lage wäre, die materiellen Quellen der Vergangenheit nach einsichtigen Kriterien zu bergen und zu systematisieren, die historische Bedeutung des Geborgenen erschlösse sich jedoch nur vor dem Hintergrund des anderweitig auf gesicherter methodischer Basis gewonnenen Wissens, für das in erster Linie die Interpretation 21 22 23 24 Zitate: Gadamer 1990, 295 u. 305, dazu ebda. 311f., vgl. auch Grondin 2000, 144–151. Vgl. Goertz 1995, 43f. Zitat: Gadamer 1990, 192. Vgl. Frommer 2007, 43–47. 14.11.2009 14:54:05 Uhr Die Realität im Blick von Schrift- und Bildquellen verantwortlich zeichnete. Nähmen wir das erkenntnistheoretisch Gegebene als gegeben hin, wäre Archäologie nur als historische Hilfswissenschaft denkbar, womit wir, forschungsgeschichtlich betrachtet, sogar vor die oben thematisierte «asymmetrische Theoriediskussion» zurückgeworfen würden, in die 1970er Jahre.25 Damals definierte Herbert Jankuhn die sich entwickelnde Disziplin als «echte Hilfswissenschaft» der Geschichte, deren Aufgaben, wie Reinhard Wenskus anschloss, ausschliesslich im Bezug auf die Hauptdisziplin bestanden: Veranschaulichung, Bestätigung, Entscheidungshilfe, Korrektur und Ergänzung.26 Bei näherer Betrachtung jedoch werden die Inkonsistenzen dieser traditionellen sprachhermeneutischen Auffassung deutlich. Vergegenwärtigt man sich, dass der Erkenntnisprozess der auf Schrift- und Bildquellen gestützten Geschichtswissenschaft sich nicht mit den Objekten bzw. der materiellen Umwelt der Vergangenheit selbst befasst, sondern nur mit deren «Spiegelung» im Blick quellenproduzierender Akteure, dann wird klar, dass diesen Akteuren etwas zugestanden wird, was die traditionelle Sprachhermeneutik uns Archäologen gerne absprechen würde: den Zugang zu einem sinnvollen Verstehen der materiellen Dinge, der materiellen Umwelt. Es ist klar: Die materielle Realität der Vergangenheit liegt uns stark überformt vor,27 zudem geben wir uns natürlich nicht – wie die meisten damaligen Akteure – mit einem Alltagsverständnis der damaligen Realität zufrieden, sondern interessieren uns vielmehr für die wissenschaftliche Aufbereitung der Quellen unter bestimmten Fragestellungen. Wenn aber der Weg zum Verstehen der materiellen Quellen grundsätzlich offen ist, dann müssten wir auch in der Lage sein, diesen Weg methodisch zu analysieren, zu systematisieren und kohärent zu beschreiben – kurz: Wir könnten versuchen, der traditionellen Sprachhermeneutik eine archäologische Spezialhermeneutik gegenüberzustellen, eine materielle Hermeneutik.28 Eine solche materielle Hermeneutik würde sicherlich den Verzicht auf die gar nicht so unproblematische Idee des Nachvollzugs fremder Gedankengänge als Grundlage aller Geschichtswissenschaft erfordern; Leitmotiv wäre stattdessen die Frage eines möglichst quellengerechten Aufbaus der eigenen historischen Deutung auf der Basis materieller Geschichtsquellen. Eine «materielle» Hermeneutikkonzeption würde sich dabei keinesfalls nur als archäologischer Sonderweg definieren müssen, sondern hätte (in verallgemeinerter Form) auch das Zeug zu einer übergreifenden geschichts- Buch SKAM 36.indd 67 67 Abb. 6 Die drei materiell miteinander verbundenen Deutungsebenen historischer Quellen. wissenschaftlichen Methodenperspektive:29 Die Quellen aller Geschichtswissenschaften sind materiell, seien es Schrift-, Bild- oder archäologische Quellen (Abb. 6), so dass neben der Konstruktionsebene letztlich auch die Quellenebene für Archäologie und Geschichte einheitlich zu formulieren wäre: Jede historische Quelle kann als materieller historischer Kontext begriffen werden, welcher aus einem oder mehreren (bis zahllosen) Artefakten bzw. Ökofakten besteht, wobei die Artefakte neben Herstellungs-, Gebrauchs- und Entsorgungsspuren auch symbolische (häufig: Text) und/oder ikonische Darstellungen auf ihren Oberflächen aufweisen können. 25 26 27 28 29 Frommer 2007, 72f., 76–79. Unter Verwendung anderer Begrifflichkeiten hat sich das Konzept «Archäologie als historische Hilfswissenschaft» allerdings im von mir so bezeichneten «Eingeschichtenmodell» (ebda. 120–122) über die 90er Jahre bis heute erhalten: Im Rahmen der Auffassung, der Mittelalterarchäologe müsse auch im engeren Sinne Historiker sein, um die eigenen Quellen «über die banalste Grundlinie hinaus» verstehen zu können, vgl. Tauber 1992, 708. – «Archäologie als historische Hilfswissenschaft» kann schliesslich auch bis heute noch als typisches Konzept der Praxis betrachtet werden: In der archäologischen Interpretationspraxis beobachten wir eine erhebliche (und nicht unproblematische) Abhängigkeit der Deutung archäologischer Quellen des Mittelalters und der Neuzeit von herangezogenen Informationen vor allem aus Schriftquellen, vgl. Frommer, 2009. Jankuhn 1973, 18; Wenskus 1979, 655f. Zu den Formationsprozessen bei der Interpretation archäologischer Quellen vgl. Frommer 2007, 250–252, 331 mit weiteren Literaturverweisen. Eine solche «materielle Hermeneutik» als Methode der Interpretation einzelner archäologischer Kontexte wird konzipiert, ausführlich hergeleitet und begründet in Frommer 2007, insb. 181–209, heuristisch ausgestaltet (ebda. 240–252) und auf übergreifende Auswertungen übertragen (ebda. 328–337). Hier und zum Folgenden vgl. Frommer 2007, 140–149, 176–190. Auch die traditionell zu den historischen Quellen gezählten «abstrakten Überreste» wie Institutionen, Rechtszustände, Gebräuche, Sprachen, Orts- und Flurnamen (von Brandt 1998, 53) benötigen einer materiellen Verankerung z. B. in schriftlicher Form, um belastbar historischer Quellenkritik ausgesetzt werden zu können. 14.11.2009 14:54:06 Uhr 68 Alle drei Ebenen (materieller Kontext, Artefakt, symbolische/ikonische Informationen) liefern dabei – in sehr unterschiedlicher Weise – deutungsbedürftige historische Informationen, die jedoch in ihrer gemeinsamen Materialität bzw. materiellen Kontextualität eine gemeinsame historische Klammer besitzen. Es kann nicht Ziel dieses Aufsatzes sein, die angedeutete Konzeption inhaltlich oder systematisch genauer zu umreissen. Wichtig ist mir zu zeigen, dass die traditionelle Sprachhermeneutik nur schwerlich als gemeinsame methodologische Klammer für Archäologie und Geschichte dienen kann – es sei denn, man entschiede sich bewusst und explizit für den erkenntnistheoretischen Nachrang der Archäologie als historischer Hilfswissenschaft. Eine im obigen Sinne materielle Hermeneutik dagegen würde – bei aller Unterschiedlichkeit der Teildisziplinen im Einzelnen – als gemeinsames MethodenParadigma der Geschichtswissenschaften einen Rahmen bilden, in welchem die Erkenntnismöglichkeiten beider Disziplinen ernst genommen und systematisch verbunden werden könnten. III. Schluss Zum Schluss möchte ich die hier vorgetragene Argumentation noch einmal in wenigen Sätzen zusammenfassen: In der Objektorientierung erkennt man die grundsätzliche Vergleichbarkeit der geschichtlichen Arbeit mit archäologischen, schriftlichen und bildlichen Quellen. Diese Vergleichbarkeit betrifft neben der Konstruktionsebene (grosse Ähnlichkeiten zwischen subjekt- und objektorientierter Umweltanalyse) auch die Quellenebene (alle historischen Quellen sind materielle Quellen). Aus dieser Konstellation ergibt sich die Frage nach möglichen Gemeinsamkeiten der Disziplinen auf der methodologischen Ebene, wobei ich die Frage nach der historischen Die Realität im Blick Interpretation der Quellen ins Zentrum gestellt habe, ein erkenntnistheoretisches Problem mithin. Dabei konnte zunächst festgestellt werden, dass die historische Archäologie anders als die Geschichte ihre Interpretationsmethode noch nicht ausdrücklich formuliert hat. Es lag nahe, für unsere «nach Fragestellung und Arbeitsziel … historische Wissenschaft»30 die Möglichkeiten einer hermeneutischen Interpretationsmethode zu testen. Der Versuch der blossen Übertragung der traditionellen historischen Hermeneutik scheiterte jedoch an deren methodischem sowie theoretischem Bezug insbesondere auf die Schriftquellen – genauer gesagt: ihre über Schriftzeichen übermittelten «geistigen» Inhalte. Nun lassen sich vor dem Hintergrund der Objektorientierung aber einige Schwierigkeiten dieses traditionellen sprachhermeneutischen Ansatzes aufzeigen: es ist weder die Frage der Auffassung des Materiellen als Zentralelement objektorientierter historischer Erkenntnis befriedigend beantwortet, noch wird die Rolle des Materiellen als des gemeinsamen Nenners der historischen Wissenschaften auf der Quellenebene bislang ausreichend methodologisch genutzt. Die Orientierung an einer gemeinsamen materiellen Hermeneutik, welche die Erkenntnisgänge von Archäologie und Geschichte dort zusammenführt, wo sie zusammengehören, und dort klar trennt, wo sie mit essenziell unterschiedlichen Problemstellungen umgehen, kann meines Erachtens nur positiv wirken: sowohl in der interdisziplinären als auch in der innerdisziplinären Praxis. In der Tat sind es die Bedürfnisse der Praxis, in der wir neben der Selbstverständlichkeit der Zusammenarbeit auch das Stagnieren der Reflexion über ihre Grundlagen feststellen können,31 die m. E. den Einstieg in eine – nunmehr symmetrische – zweite Theoriediskussion erforderlich machen. 30 31 Buch SKAM 36.indd 68 Definition nach Fehring 2000, 1. Entsprechend formuliert auch im programmatischen Einladungstext der Veranstalter der Zürcher Tagung, vgl. http://www.mediaevistik.unizh.ch/downloads/GuA.pdf. 14.11.2009 14:54:06 Uhr Die Realität im Blick Bibliografie Appelt 1984 – Heinrich Appelt, Methodische Überlegungen zur Zielsetzung der Arbeiten des Instituts für mittelalterliche Realienkunde Österreichs, in: Die Erforschung von Alltag und Sachkultur des Mittelalters. Methode – Ziel – Verwirklichung (Veröffentlichungen des Instituts für mittelalterliche Realienkunde Österreichs 6), Wien 1984, 17–19. von Brandt 1998 – Ahasver von Brandt, Werkzeug des Historikers. Eine Einführung in die historischen Hilfswissenschaften, Stuttgart 151998. Brenner 2001 – Claus Brenner, Archäologische Sozialtopographie der Stadt. Überlegungen zu Forschungsstand und Methode, in: Jochem Pfrommer/Rainer Schreg (Hg.), Zwischen den Zeiten. Archäologische Beiträge zur Geschichte des Mittelalters in Mitteleuropa. 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Abbildungsnachweis 1 Hundsbichler 1996, 3 (nach Jaritz 1989 und Tauber 1992) 2 Hundsbichler 1991, 3 (nach Kislinger 1987 und Goetz 1990) 3–6 Sören Frommer; Fotovorlage 4 © Samy13 / PIXELIO, Grafikvorlage wie Abb. 2, Fotovorlagen 5 Sybil Harding, Institut für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters, Universität Tübingen (Hintergrundfoto links, beide Detailfotos links), Hintergrund rechts wie Abb. 4) 14.11.2009 14:54:06 Uhr Buch SKAM 36.indd 70 14.11.2009 14:54:06 Uhr Villam que vocatur Friburg 71 François Guex Villam que vocatur Friburg Freiburg hat die Erinnerung an das Datum seiner Gründung nicht bewahrt – es war nicht wichtig genug, wie bis vor wenig mehr als hundert Jahren der 1. August 1291, die angebliche Gründung der Schweiz. Es hat aber immer einen Herzog Bertold als seinen Gründer verehrt, ohne dabei zwischen Vater und Sohn, dem vierten und dem fünften des Namens zu unterscheiden.1 Die Berner Chronistik stellt fest, Freiburg sei zwölf Jahre vor Bern gegründet worden. Das ergibt 1179. Spätere Geschichtsschreiber bis ins 20. Jahrhundert haben dieses auf Bern bezogene Gründungsjahr übernommen. Von den frühen Freiburger Historikern sind zu nennen Peter von Molsheim,2 Rudella,3 Guillimann4 und Fuchs.5 Manche Autoren gingen von einer Burg oder einer kleinen Siedlung aus, die ab 1178 oder 1179 zur Stadt geworden wäre. Beachtlich ist die 1874 geäusserte Hypothese des Franziskanerpaters Nicolas Raedlé, die Gründung könne sehr wohl in die ersten Jahre Herzog Bertolds IV. von Zähringen als Rektor Burgunds zurückgehen, bald nach 1152; der Name der Stadt erscheine mehrfach im Verzeichnis der Schenkungen an das Kloster Altenryf, und zwar schon vor 1177 oder 1179.6 Andere sind ihm darin gefolgt, konnten aber gegen die Autorität des damaligen Präsidenten der Société d’Histoire nicht aufkommen. 7 Bereits 1841 war Docteur Berchtold zum weisen, aber nicht sehr mutigen Schluss gekommen «Cette divergence d’opinions se laisse facilement expliquer. Une ville ne s’élève pas dans l’espace d’une seule année et l’on peut dater la bâtisse du jour où elle a commencé ou de celui où elle a fini.»8 Die Zähringer kommen nach Westen Der Freiburger Chronist Franz Rudella stellt uns in seiner Chronik von 1568 den Gründer mit seiner Titulatur vor: «Bercholdus der 4 dess namens, herzog von Zeringen, regirer in Burgundt, graff zu Rinvelden, Rychs vogt zu Zürich, vogt der dryen bistumben Sitten, Losannen und Genff».11 «Herzog von Zeringen, regirer in Burgundt» – das ist die getreue Übersetzung von «Dux et rector Burgundie», wie die Siegelinschrift Bertolds IV. lautet. Das Rektorat ist ein besonderes Amt, das es sonst im Deutschen Reich nirgends gibt. Wie Rudella präzis übersetzt: «regirer in Burgundt», also bevollmächtigter Vertreter des Herrschers, Gouverneur. Mit den Bezeichnungen «Herzog zu Zeringen» und «graff zu Rinvelden» wird auf die Herkunft dieses Mannes aus dem alemannischen Gebiet verwiesen. Weshalb wirkt er als «rector Burgundie» in der Westschweiz? Die Geschichte wurde schon oft erzählt: Dank zweier Erbschaften von verschwägerten Geschlechtern sind die Zähringer zu Gütern und Rechten zwischen Jura und Alpen gelangt.12 Um die Legitimität der zähringischen Herrschaft zu erklären, wie sie Bertold IV und schon sein Vater Konrad verstanden haben dürften, müssten wir weit ausholen, zurück bis zu den burgundischen Königen des 11. Jahrhunderts. Über den Gegenkönig Rudolf von 1 2 3 4 Die älteste datierte Urkunde, in der Freiburg «villam que vocatur Friburg» genannt wird, wurde im Jahre der Menschwerdung Christi 1177 ausgestellt, also zwischen dem 25. März 1177 und dem 24. März 1178.9 Die drei nächst folgenden Urkunden sind von 1181, 1182 und 1183. Sie setzen das Bestehen eines Ortes, seiner Kirche und einer Gruppe führender Personen voraus. Hier setzt Pierre de Zurich mit seiner minuziösen, 1922 vorgetragenen Studie «Les Origines de Fribourg» ein.10 Seither gilt 1157 unangefochten als das Gründungsdatum der Stadt Freiburg, und auch der vorliegende Aufsatz – dies sei vorweggenommen – wird daran nichts ändern. Buch SKAM 36.indd 71 5 6 7 8 9 10 11 12 Dieser Beitrag ist die gekürzte Fassung des Vortrags am Kolloquium, enthält aber sämtliche Literaturangaben. Ein ausführlicher Aufsatz erscheint aus Anlass der 850-Jahr-Feier der Stadt Freiburg i. Ü. in Bd. 85/2008 der Freiburger Geschichtsblätter. Molsheim, 2. Vater und Sohn Bertold sind nicht unterschieden. Rudella 1568, Teil II, 11. Guillimann 1598. Kapitel IX des dritten Buchs ist Freiburg gewidmet. Die Gründung der Stadt wird auf 1179 angesetzt, der Text folgt teilweise Rudella 1568. Fuchs/Raemy 1687, 26–27. Der damals noch nicht identifizierte Verfasser der Chronik von 1687, Chorherr Henri Fuchs, überliefert das Gründungsjahr 1179, was vom Herausgeber bereits in Zweifel gezogen wird. «Communication écrite» vom 20. Oktober 1874, mitgeteilt in: Archives de la Société d’histoire du canton de Fribourg 4 (1888), 105–109. De Zurich 1924, 25 zum Urteil des Präsidenten, Abbé Jean Gremaud: «C’est, sans doute, le ton catégorique de cette critique qui a empêché la version du P. Raedlé de faire plus tôt son chemin.» Berchtold 1841, 30. Abgedruckt in: RD 1 1839, 1, ferner in: Kat. Zähringer 2 1986, 449, mit dt. Übersetzung (Kat. Nr. 196). Der Zeitraum der Abfassung ergibt sich aus der Besonderheit des Bistums Lausanne, die Jahre nicht nach der Geburt Christi, sondern von einem Festtag Mariae Verkündigung zum andern zu zählen. De Zurich 1924. Rudella 1568, Teil II, 11. Zusammenfassend, mit älterer Lit.: Ladner 2003, 11–16; ferner auch Guex 2005, http://www.hls-dhs-dss.ch . 14.11.2009 14:54:06 Uhr 72 Villam que vocatur Friburg Bertold IV. von Zähringen, ein mutiger junger Ritter Im Jahre 1152 starben kurz nacheinander Herzog Konrad von Zähringen und der deutsche König Konrad III. Der Königswahl ging ein reges Verhandeln unter den Mächtigen voraus. Für Bertold IV. von Zähringen, den neuen, noch nicht dreissigjährigen Herzog, eröffnete sich die Hoffnung auf ein eigentliches territoriales Herzogtum. Mit dem neuen König, dem Staufer Friedrich I., wurde ein Feldzug nach Westen, nach Burgund und in die Provence geplant; ein Italienzug sollte folgen. Doch das Projekt zerschlug sich.15 Vielleicht hatte Bertold seine Möglichkeiten überschätzt und konnte das versprochene Truppenaufgebot von 1000 gepanzerten Reitern nicht aufbieten. Vielleicht war auch eine neue Lagebeurteilung und eine neue Prioritätenordnung des Königs der Grund: Anfangs 1153 kam ein Vertrag mit dem Papst zustande, in dem ein Italienzug und Hilfe gegen das normannische Königreich Sizilien versprochen wurde. Bertold von Zähringen brach 1154 mit Friedrich Barbarossa auf nach Rom zur Kaiserkrönung. Auf dem kriegerischen Zug durch Italien bewährte sich der nachmalige Gründer von Freiburg mehrfach als mutiger Ritter. Gunther der Dichter erwähnt ihn im «Ligurinus».16 Gottfried von Viterbo preist seine Schlauheit, die dem Kaiser das Leben gerettet hat.17 Bei Handstreichen, nächtlichen Überfällen, Belagerungen aber auch in diplomatischen Missionen zeichnet Bertold sich aus.18 Abb. 1 Stammtafel der Herzöge von Zähringen und der mit ihnen verwandten Hochadelsgeschlechter. 13 14 15 Rheinfelden stammte Bertold IV vom burgundischen Königshaus ab.13 Bertold II von Zähringen hatte 1090 die Güter und Rechte der Rheinfelder in der Westschweiz und anderswo geerbt. Sein Sohn Konrad konnte 1127 mit königlichem Segen das Erbe seines in Payerne ermordeten Neffen Wilhelm, genannt «puer», der Junge, aus dem burgundischen Grafenhaus beanspruchen. Mehr noch: König Lothar von Süpplingenburg verlieh ihm das Rektorat über Burgund. Es ist Konrad gelungen, sich in diesem neuen Wirkungsfeld auch durchzusetzen, namentlich gegen seinen Vetter, den Grafen Amadeus von Genf.14 Buch SKAM 36.indd 72 16 17 18 Zur Abstammung Rudolfs von Rheinfelden: Wolf 2001. Ferner auch http:// www.genealogie-mittelalter.de/rheinfelden_herren_von/rheinfelden_herren_ von.html und von dort ausgehend Links zu einzelnen Personen, mit Literaturverweisen. Guichonnet 2006; Wolf 2001, 63–74. Ferner auch: http://www.genealogiemittelalter.de/welfen/rudolfinger_koenige_von_burgund/mathilde_prinzessin_von_burgund/mathilde_von_burgund.html. Über die Gründe bestehen verschiedene Auffassungen. Eine gewisse vorübergehende Abkühlung des Verhältnisses zwischen den beiden jungen Männern ist möglich – wie ich auch einmal abgeschrieben habe –, doch hat man das Zerwürfnis zu sehr betont. Tatsächlich ist Bertold eine Zeit lang nicht am Königshof, genauer, erscheint er nicht als Zeuge in Urkunden. Andererseits lässt sich das ganz seltene Auftreten seiner alten Widersacher, Wilhelm von Mâcon und Amadeus von Genf, nicht mit einer neuen Huld des Königs erklären. Das eine Mal werden sie wegen der Freiheiten des Klosters Payerne in die Pflicht genommen, ein anderes Mal suchte eine Gesandtschaft eigens den König in Worms auf wegen zweier Burgen im Raum Grenoble. Für gleichzeitig behandelte Geschäfte betreffend Vienne und Arles wurde Amadeus nicht beigezogen. Dazu: Regesta Imperii IV, 2/1, Nr. 160 (Grafen Amadeus und Wilhelm), Nr. 182 (Graf Amadeus), ferner auch Nr. 162 (Graf Wilhelm, ebenfalls in burgundischer Sache). Parlow 1999, Nr. 368, nach: Erwin Assmann, Gunther der Dichter: Ligurinus (MGH, SS. rer. Germ. LXIII), Hannover 1987, 219. Parlow 1999, Nr. 457, nach: Georg Heinrich Peertz, Gotifredus Viterbensis: Gesta Friderici I. (MGH, SS. rer. Germ. XXX), Hannover 1870 , 30. Regesta Imperii IV, 2/1, Nr. 280; Parlow 1999, Nr. 368, 369, 408, 409, 416, 418, 423, 452 und 481. 14.11.2009 14:54:06 Uhr Villam que vocatur Friburg 73 Was immer in diesen Berichten im einzelnen stimmt oder nicht – von Aussenstehenden verfasst, dürfen sie als unverdächtig gelten, was die Wertung der Tüchtigkeit Bertolds betrifft. Er wusste Stärken und Schwächen des Gegners, des Geländes oder einer Befestigung zu beurteilen und verfügte über einen ausgeprägten Orientierungssinn. In Italien sind ihm vielversprechende kommunale Organisationsformen bekannt geworden, die sich nicht ohne Reibungen dem Lehenswesen nördlich der Alpen einfügen liessen. Der Erbauer Freiburgs war mit mehreren Formen der welschen Sprache vertraut. Seine Mutter stammte aus Namur im heutigen Belgien. Das Erlernen des Westschweizer Franko-Provemzalisch hatte wohl zu seiner Erziehung gehört, und offenbar wurde ihm auch das lombardische Idiom ausreichend vertraut. Die Neuordnung in der nachmaligen Westschweiz Abb. 2 Die Westschweiz im 12. Jahrhundert. Wann während dieser langen Jahre zu Pferd im Staub italienischer Landstrassen konnte Bertold an seine burgundischen Angelegenheiten denken? Er war auch nach der Rückkehr vom ersten Italienzug im Herbst 1155 zunächst im Gefolge des Kaisers geblieben und erlebte die neueste Wendung aus der Nähe. Zielsicher das Ableben des Grafen Wilhelm von Mâcon nutzend, gab Friedrich seinen Plan auf, um eine byzantinische Prinzessin zu werben, und holte Beatrix heim, die als anmutig gepriesene junge Erbtochter der Grafen von Burgund. Damit waren die Hoffnungen Bertolds auf einen Ausbau seiner Stellung westlich und südlich des Juras weitgehend zerschlagen. Er wurde jedoch mit dem Recht abgefunden, den Bischöfen von Lausanne, Genf und Sitten im Namen des Kaisers ihre weltlichen Kompetenzen zu übergeben (Regalieninvestitur).19 Der Kaiser war höchst zufrieden mit der Regelung der burgundischen Frage, wie er Abt Wibold von Stablo nach Weihnachten 1156 mitteilte: «Über den Stand Unseres Wohlergehens – als Unser Vertrauter wirst Du Dich zweifellos darüber freuen – wollen Wir Deiner Gelehrsamkeit zu wissen tun, dass Wir mit der Gnade dessen, der den Königen Heil verleiht, die Angelegenheiten in Burgund prächtig beigelegt haben und auf glücklicher Reise ins Rheinland zurückgekehrt sind.»20 Bertold konzentrierte sich vor allem auf das Bistum Lausanne, zu welchem auch die neue Stadt gehören sollte. Diesem stand Bischof Amadeus vor. Über ihn schreibt ein moderner Historiker: «Saint Amédée est le seul grand évêque de Lausanne, si par là on entend à la fois une vie et une doctrine exemplaires, ainsi qu’une action politique et pastorale hors du commun.»21 Amadeus, ein Zisterzienser aus der Dauphiné, genoss das vollständige Vertrauen des Papstes wie auch des Kaisers. Er akzeptierte die neue Situation, in weltlichen Belangen nicht mehr direkt dem Kaiser unterstellt zu sein. Andererseits konnte er mit einer gewissen Erleichterung die Unterstützung annehmen, die ihm fortan Bertold von Zähringen zu gewähren hatte, beispielsweise gegen Übergriffe des Grafen Amadeus von Genf. Dieser hatte sich gar erfrecht, dem Bischof die Burg Lucens zu entfremden und in Lausanne selber einen Turmbau zu beginnen. Buch SKAM 36.indd 73 Bertold IV. trifft Bischof Amadeus Die kluge Politik des Bischofs führte zu einer Beruhigung der Lage. Wenig später, im Verlaufe des Jahres 1156, erfolgte die Ernennung Bertolds zum Vertreter des Königs gegenüber dem Bischof von Lausanne. Zwischen dem 25. 19 20 21 Das Datum der Vereinbarung ist nicht bekannt. Parlow 1999, Nr. 390, datiert sie zwischen die Rückkehr vom Romzug im Herbst 1155 und die kaiserlichen Hochzeit (Juni 1156), die Bearbeiter der Regesta Imperii IV, 2/1, Nr. 424, in den November 1156, als Friedrich sich in Burgund aufhielt. Noch im Februar 1156 ist Bertold «dux Burgundie» (Parlow 1999, Nr. 388 bzw. Regesta Imperii IV, 2/1, Nr. 386); am 10. Mai «dux de Ceringen» (Parlow 1999, Nr. 389 bzw. Regesta Imperii IV, 2/1, Nr. 394). MGH, DD F I, Nr. 154: «De statu nostri prosperitatis te tanquam specialem nostrum gaudere non dubitantes eruditionem tuam scire volumus, quod nos compositis in Burgundia magnifice nostris negotiis ipsius favente clementia, qui dat salutem regibus, prospero itinere ad partes Reni sumus reversi …». Morerod 2000, 151. Dieser auf einer souveränen Kenntnis eines höchst umfangreichen Quellenmaterials beruhenden Arbeit verdankt der vorliegende Aufsatz mehr als im Detail nachgewiesen wird. 14.11.2009 14:54:07 Uhr 74 März 1157 und dem 24. März 1158 beurkundete Bertold zwei Rechtsgeschäfte, an denen Bischof Amadeus als Zeuge beteiligt war.22 Diese Begegnung kann stattgefunden haben zwischen anfangs Februar 1157, als der Herzog in Ulm den Kaiser verliess, und seiner neuerlichen Rückkehr an den weiterziehenden Hof, diesmal nach Besançon, gegen den 20. Oktober;23 dann wiederum in den Monaten Dezember 1157 und Januar oder Februar 1158. Die beiden Herren haben gewiss nicht bis in den Winter 1157/58 gewartet, um die Grundlagen ihrer Zusammenarbeit zu regeln.24 Allerdings muss eingeräumt werden, dass das genannte, eindeutig bezeugte Treffen nicht das erste gewesen sein muss. Mit zwei gleich lautenden Urkunden erliess Bertold um seines Seelenheils willen den Zisterzienserklöstern Altenryf und Hautcrêt Steuern aller Art in seinem Herrschaftsgebiet und befahl ferner, dass niemand in seiner Herrschaft von ihnen und andern Brüdern des Ordens Wegzölle und Markttaxen fordere – wörtlich übersetzt: eine Abgabe bei Gelegenheit der Durchreise oder einen Zoll, wie er üblicherweise auf Handelswaren nach Marktrecht erhoben wurde. Selber Zisterzienser, setzte sich Amadeus besonders für das Wohl der beiden Klöster ein; es war erst zwanzig Jahre her, dass diese nicht zuletzt mit der Absicht gegründet worden waren, das Ausgreifen des Zähringers Konrad zu bremsen. Warum wohl war den Zisterziensern ausgerechnet jetzt daran gelegen, vom Herzog und Rektor von Burgund eine solche Gunst zu erlangen? Welcher Markt mit seinen Gebühren hätte die Mönche benachteiligen können? Seit der Arbeit von de Zurich bringt man dieses Privileg mit der Gründung der Stadt Freiburg in Zusammenhang, eine Gründung, die Bischof Amadeus wohl nicht nur geduldet, sondern ausdrücklich gebilligt hat. Wenn Bertold nicht nur mit militärischem, sondern auch politischem Spürsinn begabt war, konnte ihm nicht entgangen sein, dass der friedfertige Bischof durchaus seine geistlichen Waffen zu führen wusste, wenn ihm ein weltlicher Grosser eine Burg entriss oder einen Turm vor die Nase setzte. Das zeigt deutlich ein Brief, den Amadeus aus dem Exil an seine Getreuen gerichtet hatte, in welchem er Moudon, von wo aus die Männer des Grafen von Genf ihre Streifzüge unternahmen, als Festung des Teufels verwünscht.25 Villam que vocatur Friburg stück zurückzugeben, auf dem der vierte Teil der neuen Stadt steht. Aus dem Text schliesst Pierre de Zurich, 27 dass bereits eine Stadt mit mehreren Gebäuden bestanden haben müsse, die Gründung also bereits einige Jahre zurückliege. Mit der genauen Analyse von 21 nicht datierten Urkunden grenzt de Zurich nun den möglichen Zeitraum seit dem Herrschaftsantritt Herzog Bertolds IV. weiter ein. Zusammengefasst das Wichtigste: In einer Schenkungsurkunde an das Kloster Hauterive wird unter den Zeugen ein «Anselmus dal Fribor» genannt. Der Schenker und die Zeugen treten auch bei andern Geschäften aus dem mittleren 12. Jahrhundert auf. Dies lässt sich aus den bekannten Amtszeiten der da und dort genannten geistlichen Würdenträger schliessen, auch wenn alle diese Akten nicht datiert sind. Der Name des damaligen Abts von Altenryf ist mit P. abgekürzt. Damit kann kein anderer als Pontius gemeint sein, der lediglich um 1162 für ein Jahr oder etwas mehr dem Konvent vorstand. Die früheste Erwähnung des Namens unserer Stadt muss von 1162 stammen «ou d’une époque extrêmement voisine de cette date».28 Der Zeitraum, in dem die Gründung stattgefunden haben muss, ist damit auf das Jahrzehnt zwischen 1152 – Bertold wird Herzog – und 1162 – die Herkunftsbezeichnung «dal Fribor» eingeschränkt. Und wenn damit noch keine Stadt, sondern lediglich eine Burg gemeint sein sollte? De Zurich ist überzeugt, dass sich der Name Freiburg nur auf ein Gemeinwesen mit einem Stadtrecht beziehen kann, fügt aber einen zusätzlichen Beweis an. Er untersucht dazu das in Altenryf erhalten gebliebene Doppel eines Briefs des Herzogs B. an den Priester H., den Schultheissen T. und die übrigen Bürger, hoch und niedrig, sie sollen sich keine Übergriffe auf das Haus des Klosters Altenryf in ihrer Stadt mehr erlauben, das er von allen Abgaben befreit habe.29 Die Stadt Freiburg ist nicht mit Namen genannt. Das Siegel fehlt; aber die Beschreibung durch einen Gelehrten des 18. Jahrhunderts ist überliefert. Es muss sich um ein Sie- 22 23 24 25 «Villa que vocatur Friburg» Wie eingangs gestreift, stammt die erste datierte, allerdings nur in Kopie überlieferte Urkunde, die den Namen der Stadt erwähnt, von 1177/78.26 Bertold IV. erklärt sich bereit, dem Kloster Payerne ein entfremdetes Grund- Buch SKAM 36.indd 74 26 27 28 29 Text ediert in: Tremp 1984, 347 D7. Regesta Imperii IV, 2/1, Nr. 435 und 488. Morerod 2000, 158–161. «Castrum Milduni, nec ros misericordiae, nec pluvia gratiae veniant in te […]. Posteritas tua, Mildune, perpetue ob probra Christi Domini maledicto addicta est. […] Sanguis tuus in caput tuum. Fundata es, munitio diaboli, in injustitia.» Gedruckt in: Dimier 1949, 369–372. Wie Anm. 9. De Zurich 1924, 36. De Zurich 1924, 51. Druck in: Tremp 1984, 349 D 9; ferner mit dt. Übersetzung in: Kat. Zähringer 2 1986, 449f. Nr. 202. 14.11.2009 14:54:07 Uhr Villam que vocatur Friburg gel gehandelt haben, das Bertold IV. bis 1169 verwendet hat und das auch an der Urkunde von 1157 hängt, mit der Bertold das Kloster Altenryf von Abgaben befreit hatte. Die Mahnung muss an Freiburg gerichtet sein. Während die blosse Nennung eines «Anselmus dal Fribor» von 1162 noch nichts über die Eigenart des Ortes aussagt, wird mit diesem zwischen 1157 und 1169 verfassten Brief ein organisiertes Gemeinwesen gemassregelt. Pierre de Zurich kommt zum Schluss: «Toutes ces considérations me paraissent suffisantes pour formuler l’hypothèse – je dirais plus – pour affirmer qu’il est presque certain que Fribourg a été fondée en 1157.»30 Dem ist nichts beizufügen. Die Voraussetzungen der Gründung Weshalb eine Siedlung mit zentralörtigen Aufgaben – um den Begriff Stadt noch zu vermeiden – und weshalb ausgerechnet hier? Seit Jahrhunderten wird diese Frage gestellt. Versuchen wir, nicht vom Ergebnis her zu urteilen, sondern uns an die Voraussetzungen heranzutasten. Wie konnte Bertold aus der verliehenen Ehrenstellung im Bistum Lausanne bestimmenden Einfluss gewinnen? Offenbar sicherte er Bischof Amadeus weitgehende Handlungsfreiheit zu, wie sie das Bistum seit den Zeiten der burgundischen Könige genoss. Seit 1011 war der Bischof auch Graf über das Waadtland; er verfügte beispielsweise über das Recht, Münzen zu schlagen. Nur in Randgebieten der Diözese, in Neuenburg und in Greyerz, haben andere Adlige den Grafentitel angenommen. Auf welche Gebiete und welche von ihm unmittelbar abhängigen kleinere Herren konnte sich Bertold IV. stützen? Wo lagen die zähringischen Eigengüter? Aus Anlass der letzten grossen Zähringerausstellung, 1986 in Freiburg i. Br., stellte Alfons Zettler auf einer Karte die Ministerialen der Zähringer zusammen, und ebenso diejenigen ihrer Erben, was Rückschlüsse auf zähringische Zeiten erlaubt. Da gibt es ausser in Kallnach (Kt. Bern) und Rüeggisberg (Kt. Bern) keine Ministerialen westlich der Aare, demnach also auch keine Eigengüter, die von solchen Dienstleuten zu verwalten gewesen wären. An den Anfang jeder unvoreingenommenen Beurteilung gehören die naturräumlichen Voraussetzungen. Es gibt Übergänge, Engpässe oder Talmulden mit Wegkreuzungen, die sich für Siedlungen geradezu anbieten. Der Standort Freiburg gehört nicht dazu. Sonst stünde nämlich hier spätestens seit keltischen Zeiten ein Haupt-Ort, wie etwa in Genf, Zürich, Basel oder Bellinzona, wie in Thun oder Yverdon. Auch im militärischen Buch SKAM 36.indd 75 75 Sinne handelt es sich nicht um ein Schlüsselgelände an einer natürlichen Hauptachse. An Bulle/Vaulruz etwa oder am Raum Murten kommt man hingegen nicht vorbei. Ob der zentrale Ort nun als keltisches Oppidum auf dem Wistenlacher Berg liegt, im römischen Aventicum oder im mittelalterlichen Murten: immer geht es um die Sicherung einer West-Ost-Verbindung mit wenigen Alternativen. Die Bedingungen des Geländes setzen sich immer irgendwie durch. Ein Naturraum, der je länger, je mehr dem Zugriff des Menschen ausgesetzt wurde, waren die «iura nigra», die schwarzen, finsteren Urwälder. Sie gehörten dem König. Sein Stellvertreter durfte darüber verfügen. Bertold kannte das grosse Potenzial des noch unerschlossenen Waldlands. Schon sein Vater Konrad war mehrfach als Zeuge anwesend, als über Einsiedeln, Engelberg, Interlaken und Rüeggisberg verhandelt wurde.31 Diese Klöster am Rande des Altsiedellandes stiessen mit ihren Leuten rodend in den Urwald vor. Bertold selber hatte Altenryf und Hautcrêt näher kennengelernt, und natürlich waren ihm die Klöster im Schwarzwald, dem Kernland der Zähringer, vertraut: St. Blasien, St. Georgen, St. Peter. Gab es anderes Reichsgut, auf das Bertold als Rektor von Burgund Zugriff gehabt hätte? Schwer zu sagen. Gewiss die Grasburg hoch über der Sense und Gümmenen an der untern Saane. Aber weiter westlich? Da sind die wichtigsten Plätze schon längst in anderen Händen: Murten, Avenches, Payerne, Lucens und Moudon im Broyetal, Riaz mit seiner Nachfolgesiedlung Bulle auf der Drehscheibe zwischen Genferseebecken, Mittelland und Voralpen. Dem altberühmten Kloster Payerne oder gar dem Bischof in Moudon oder Lausanne selber mit dem Bau eines Turms in die Quere zu kommen – damit war eben Graf Amadeus von Genf gescheitert. Dass die Abklärung bestehender Rechte nie sorgfältig genug geschehen konnte, zeigt das Einlenken gegenüber Payerne mit der Urkunde von 1177/78.32 Zu den königlichen Rechten, den Regalien, gehörten ferner und ganz wesentlich die Strassen, die Zölle, die Märkte. Wollte also Bertold solche Einkünfte erzielen, musste er sich auf den Raum ausserhalb des Waadtlands beschränken, um nicht mit dem Bischof in Konflikt zu geraten. Dieser konnte sich bei Bedarf auf 30 31 32 De Zurich 1924, 63. Parlow 1999, Nr. 241, 280, 296, 303, 304 und 309. Siehe oben bei Anm. 9. 14.11.2009 14:54:07 Uhr 76 alte, grosszügige Formulierungen berufen, wie «zwischen Jura und Alpen und bis an die Saane».33 Herrschaftsausübung beruht auf persönlichem Kontakt. Für Bertold und seine engsten Helfer war es demnach wichtig, über gute Verbindungen und über sichere Etappenorte zu verfügen. Wie weiter, wenn eine Furt wegen Hochwasser tagelang nicht passierbar war? Von keinem natürlichen oder künstlichen See gebändigt – im Gegensatz zu anderen Flüssen des Mittellandes – war die Wasserführung der Saane bis ins 20. Jahrhundert noch weit unregelmässiger. Wo gab es frische Pferde, Unterkunft und Verpflegung für Ross und Reiter? Auch musste ein solcher Stützpunkt wie die lombardische Burg, die Bertold einst selber mit Leitern erklettert hatte, 34 durch Natur und Baukunst gleichermassen geschützt sein. Die Übersicht zeigt es: Naturräumliche und vom Menschen bestimmte Voraussetzungen greifen eng ineinander. Vieles ist über Jahrhunderte gewachsen: die geographische Verteilung von Altsiedelland und Gebieten, die sich zur Erschliessung durch Rodung anbieten, die oft mit Gewalt zustande gekommenen rechtlichen und politischen Gegebenheiten. Dazu kommen mittel- und langfristige Vorstellungen und Ziele von Menschen, die immer etwas mehr als ein Dach über dem Kopf und das tägliche Brot für sich und ihre Kinder suchen. Alle diese Gegebenheiten musste Bertold von Zähringen berücksichtigen. Bertolds Wahl Bertolds Wahl fiel auf ein Plateau in einer Fluss-Schlaufe der Saane. Der Ort liegt unmittelbar bei einer Furt; er ist von Natur aus gut geschützt. Er verfügt über Trinkwasser. Zwischen Burgdorf und Lausanne, zwischen Burgdorf und Vevey oder zwischen Solothurn und Lausanne liegt er je auf halbem Weg, jeweils einen allerdings anstrengenden Tagesritt entfernt.35 Der Ort liegt im Altsiedelland, aber nahe von noch zu erschliessenden Wald- und Weidegebieten. Zahlreiche objektive Voraussetzungen sind also erfüllt. Aber von selber bekommt eine hier gegründete Siedlung nicht die Bedeutung eines Zentrums, das als Stadt wahrgenommen wird. Ohne die Entschiedenheit der Initianten und der ersten Einwohner geschieht gar nichts. Im März 1158 reiste Bertold von Zähringen wieder nach Italien. Er hatte zwar die Weichen gestellt, aber andere mussten sich um die Baufortschritte kümmern. Es dürften führende Familien der Umgebung gewesen Buch SKAM 36.indd 76 Villam que vocatur Friburg sein. Mit günstigen rechtlichen Rahmenbedingungen erhielten sie ehrenvolle Aufgaben im Dienst des kaiserlichen Statthalters und die Möglichkeit, ihr Einkommen zu mehren. Aus den Zeugenlisten der Schenkungen an Altenryf und den wenigen Urkunden aus Freiburg selber treten sie uns entgegen, Geschlechter von deutscher und von welscher Herkunft. Zu Beginn war Freiburg wohl eine Ansammlung gut gebauter Häuser (Sässhäuser), von der aus das umliegende Land durch Dienstleute des Herzogs herrschaftlich erschlossen, aber auch gesichert wurde. Später war die ausgebaute Landwirtschaft immer mehr in der Lage, auch Menschen zu ernähren, die in anderen Bereichen tätig waren; Arbeitsteilung setzte ein. Eine selbstbewusste Gemeinschaft von Stadtbürgern entstand, die zunehmend als eigene Rechtspersönlichkeit ihr Schicksal selber gestalten wollte. Seit 1225 ist das «sigillum de Friburgo in Burgundia» nachgewiesen. In der Mitte des 13. Jahrhunderts bezeichnen sich die Bürger als «Communitas de Friburgo» oder «Universitas Friburgi». Freiburg ist nach dem heutigen Stand der Kenntnis eine Neugründung, wenn auch in altem Siedlungsgebiet. Die vereinzelten vormittelalterlichen Funde da und dort widersprechen dieser Feststellung nicht. Andere Stadtgründungen mögen von einer bestehenden Siedlung ausgehen, die – vereinfacht gesagt – mit einer neuen Rechtsstellung und einer Stadtmauer versehen werden. Neugründung, das heisst an einem Ort Menschen dauerhaft zusammenzuführen, die vorher noch kaum etwas miteinander zu tun hatten. Es ist ein Willensakt, dem eine eingehende Lagebeurteilung vorausgehen muss. Für den Gründer ist eine solche Investition kein Ziel an sich, sondern ein Mittel, Herrschaft aufzubauen und langfristig zu sichern. Rechtmässige Herrschaft und ehrendes Andenken Die neue Siedlung heisst Freiburg,36 ganz offensichtlich in Anlehnung an die Gründung von Bertolds Vater Konrad im Breisgau.37 Das Wort «Burg» war damals noch in seiner ursprünglichen Bedeutung verständlich, die im 33 34 35 36 37 Schenkung Kaiser Heinrichs IV. von 1079, zitiert in Morerod 2000, 516: «quicquid vero ipse (d.h. Rudolf von Rheinfelden) suique infra fluvium Sanuna et montem Iovis et pontem Genevensem et infra montana Iur et Alpium habuerunt […] in proprium tradidimus.» Einige Orte, darunter «Muratum», höchst wahrscheinlich Murten, werden namentlich genannt. Parlow 1999, Nr. 369. Guy von der Weid, Pierrafortscha, Hauptmann der Kavallerie a.D., hat mir zu dieser Frage liebenswürdig Auskunft gewährt. Walter Haas, Freiburg, verdanke ich den Artikel von Metzner 1983. Baeriswyl 2003. 14.11.2009 14:54:07 Uhr Villam que vocatur Friburg französischen le bourg weiter besteht: nicht «Ritterburg», sondern geschlossene, mehr oder weniger befestigte Siedlung. Freiburg ist ein solcher Ort, dessen Einwohner als Bürger gewisse Freiheiten, das heisst ein bestimmtes Mass an Selbstverwaltung und die Befreiung von gewissen Leistungen und Abgaben geniessen. So wie der Name der Stadt ist auch die Wahl des Titelheiligen für die vom Herzog errichtete Kirche mit dem Andenken der Vorfahren verbunden. Die Verehrung des heiligen Nikolaus von Myra38 hat sich in Süddeutschland seit der Mitte des 11. Jahrhunderts – noch vor der Überführung seiner Gebeine nach Bari (1087) – durch Förderung führender Adelsfamilien verbreitet, die der kirchlichen Reform nahestanden. Der Gründer von Freiburg im Üchtland hatte offenbar nicht vergessen, auf wen seine Güter und Rechte in Burgund zurückgingen. Seine Urgrossmutter Adelheid, die Gattin Rudolfs von Rheinfelden, und der jung verstorbene Bertold von Rheinfelden, der Bruder der Grossmutter, liegen in der Nikolauskapelle des Klosters St. Blasien im Schwarzwald bestattet.39 Diese wurde 1092 nach einem Neubau von Bischof Gebhard III. von Konstanz, einem Zähringer, geweiht.40 Der Bau einer Nikolauskirche in Freiburg durch Bertold IV. mochte dem Seelenheil der Vorfahren förderlich sein und konnte die Rechtmässigkeit der Zähringerherrschaft in der Nachfolge des Rheinfelder Grafenhauses, ja der burgundischen Könige, unterstreichen. Darüber hinaus mochte der heilige Nikolaus alle beschützen, die aus irgend einem Grund, im 77 Abb. 3 Die Topographie der Gründungsstadt Freiburg in Spornlage über dem Steilufer der Saaneschlaufe Dienst der Herrschaft oder als Kaufleute, den Weg über diesen neuen Ort nahmen.41 So neuartig das Wagnis einer Stadtgründung unabhängig von einer bestehenden Siedlung war – Bertold IV. stellte sich in die Tradition seines Vaters Konrad, der den zähringischen Anspruch westlich der Aare durchzusetzen wusste und sich als Erbe König42 Rudolfs von Rheinfelden verstand.43 38 39 40 41 42 43 Buch SKAM 36.indd 77 Stanislas Rück, Freiburg, verdanke ich den Katalog einer Ausstellung in Bari mit zahlreichen Forschungsbeirägen: Kat. Splendori. Jakobs 1968, 230–232, 267, 283; Jakobs 1973, 87–115; Jakobs 1996, 9–38. – Den Hinweis auf die von Rudolf von Rheinfelden dem heiligen Nikolaus entgegengebrachte Verehrung verdanke ich Jürg Tauber, Kantonsarchäologe Baselland, im Anschluss an seinen Vortrag an der Tagung. REC 1 1895, 72–82. Tüchle 1949, 24, 66 und 70; zur Nikolausverehrung in der Diözese, ausgehend von Hirsau: 127. Die Urkunde von 1157 (siehe oben bei Anm. 22) zu Gunsten der Klöster Hauterive und Hautcrêt zeigt, dass von Anfang an mit Handel und Wandel gerechnet wurde. – Zur Frage des Freiburger Nikolauspatroziniums: Utz Tremp 2005, 14–17. Die so eindeutig scheinende Unterscheidung zwischen einem rechtmässigen König – dem Salier Heinrich IV. – und einem negativ zu beurteilenden Gegenkönig geht wohl wesentlich auf die Geschichtsschreibung der deutschen Kaiserzeit des 19. Jahrhunderts zurück. Skoda 2004, 181–194, hier 191. 14.11.2009 14:54:08 Uhr 78 Bibliografie ASHF – Archives de la Société d’Histoire du Canton de Fribourg. Baeriswyl 2003 – Armand Baeriswyl, Stadt, Vorstadt und Stadterweiterung im Mittelalter. Archäologische und historische Studien zum Wachstum der drei Zähringerstädte Burgdorf, Bern und Freiburg im Breisgau (Schweizer Beiträge zur Kulturgeschichte und Archäologie des Mittelalters 30), Basel 2003. Berchtold 1841 – [Jean Nicolas Elisabeth] Berchtold, Histoire du Canton de Fribourg. Première partie, Fribourg 1841. Dimier 1949 – Marie Anselme Dimier, Amédée de Lausanne. Disciple de saint Bernard, Abbaye de Saint-Wandrille 1949. Fuchs/Raemy 1687 – Heliodore Raemy de Bertigny (éd.), Friburgum Helvetiorum Nuythoniae. Chronique Fribourgeoise du dix-septième siècle, Fribourg 1852. Guex 2005 – François Guex, Freiburg (Kanton). Kap. 2.1.2: Unter den Zähringern, in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS). Bd. 4, Basel 2005, 729–730. 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Doch ist auch in diesem Falle häufig das Bild der mittelalterlichen von der frühneuzeitlichen Stadt überlagert. Dort, wo Marktplätze archäologisch untersucht wurden, hat sich oft gezeigt, dass sie ihre Platzgestalt erst am Ende des Mittelalters oder in der Frühen Neuzeit erhalten haben.1 Diese bewusste Anlage und Gestaltung von kommunalen Plätzen, die «Entdeckung des Platzes», die Daniel Gutscher für Bern als Phänomen des 15. Jahrhunderts beschrieben hat,2 ist für den deutschsprachigen Raum bislang nur für einzelne Städte und noch kaum vergleichend untersucht worden.3 Verbunden mit dieser Forschungsaufgabe ist die methodische Frage, wie diese Platzanlagen, die zum Teil tiefe Eingriffe in den Stadtraum bedeuteten, im integrativen Zusammenspiel der Fächer untersucht werden können. Um die zu stellenden Fragen, die möglichen Beiträge der einzelnen Disziplinen und deren Grenzen zu diskutieren, ist zunächst der Begriff des «kommunalen Platzes» näher einzugrenzen. Beschrieben wird damit im Gegensatz zu den unter stadtherrlichem oder Einfluss geistlicher Institutionen entstandenen Plätzen jene, die von der Kommune bzw. vom Rat als dessen Vertretung bewusst angelegt wurden. Das Idealbild eines kommunalen Platzes verkörpert die Piazza del Campo in Siena, die mit ihrer gegen Ende des 13. Jahrhunderts einsetzenden Gestaltung den kommunalen Plätzen jenseits der Alpen auch zeitlich deutlich vorausging. Bemerkenswert am Sieneser Campo ist in diesem Zusammenhang aber weniger seine Gestalt, sondern vielmehr die durch Bauverordnungen und die diese überwachenden Behörden bzw. Personengruppen geprägte Anlage und mehr noch die darüber berichtenden Quellen.4 Als 1297 der Bau des Palazzo Publico in Angriff genommen wurde, bestimmte der Rat der Neun in der großen Bausitzung vom 10. Mai 1297, dass ein Ausschuss von Bürgern zur Überwachung des Baues gewählt werden sollte, zugleich wurden weitere Bauverordnungen erlassen. Zwei von diesen waren von grundlegender Bedeutung für die Gestaltung des Campo: Einerseits wurden Vorbauten an den platzseitigen Fassaden verboten, andererseits für Buch SKAM 36.indd 79 alle Neubauten an der Piazza der Bau von mit Säulchen untergliederten Fenstern, in Anlehnung an jene des Palazzo, vorgeschrieben. Gewollt war damit ein einheitlicher Frontverlauf der Fassaden entlang des Halbrundes des Campo wie auch deren möglichst einheitliche Gestaltung. Überwacht wurde dies – wie auch andere Bauverordnungen in der Stadt – von den ufficiali de l´ornata della città.5 So musste 1370 ein Laden an der Piazza del Campo «pro major pulcritudine campi» abgerissen werden – er ragte gut 40 cm über die Fassadenfront hinaus! Und noch 1465 wurde von dieser «Schönheitsbehörde» vorgeschlagen, dem Besitzer des Palazzo Sansedoni ein hohes städtisches Amt zu geben, damit er so in die Lage versetzt werde, seine Palastfassade mit den vorgeschriebenen Fenstern zu vollenden.6 Der Platz wurde in seiner Gestaltung also als Gesamtheit mit den angrenzenden öffentlichen wie privaten Bauten betrachtet und sollte sich in der Einheitlichkeit der Fassaden auch als ein in sich geschlossener Raum präsentieren. Sind wir für Siena dank der schriftlichen Überlieferung zu Bauverordnungen, deren Ausführung und Überwachung, aber auch dank Bildquellen und der erhalten Bausubstanz des Platzes gut über die Entstehung und Gestaltung der Piazza informiert, so stellt sich dem Versuch, vergleichbare Phänomene nördlich der Alpen zu erfassen und zu untersuchen, sogleich die Frage nach den zur Verfügung stehenden Quellen und den geeigneten Methoden in den Weg. Ein Blick in die bisherige Forschung zeigt zudem, dass für diesen Raum der Markt(-platz) als städtisches Zentrum – von Untersuchungen zu einzelnen Orten abgesehen – bislang kaum ein Thema vergleichender und überregionaler Untersuchungen gewesen ist.7 Ähnliches gilt für die einzelnen Bauelemente des Marktes bis hin zum Rathaus, zu dem zwar ein jüngerer Überblick vorliegt, in dem die Relation von Rathaus und Markt/ 1 2 3 4 5 6 7 Vgl. Untermann 2009. Gutscher 1999, 87; siehe dazu auch Untermann 2006a, 218. Albrecht 1993; Gleba 1998; Igel 2006; Klein 1997; Arnhold 1997; Untermann 2006a 217–219. Dazu noch immer Braunfels 1982, 93f.; siehe auch Uberti 1995, 191–195. Braunfels 1982, 96f. Ebd., 110. Einen guten, aber gerade für den nordalpinen Raum nicht immer gelungenen Ansatz bietet Calabi 2004. 14.11.2009 14:54:08 Uhr 80 Abb. 1 Greifswald, Markt um 1400. Platz aber nur in geringem Masse thematisiert wird.8 Zu Recht hat Matthias Untermann jüngst darauf hingewiesen, dass die Stadtbaugeschichte der Zeit um 1400 – aber wohl auch der folgenden Jahrzehnte – bislang kaum eine eingehendere Würdigung gefunden hat.9 II. Kommunale Plätze in deutschen Städten als Forschungsaufgabe Die Entstehung und Gestaltung städtischer Plätze als Teil einer ursprünglichen Stadtplanung, als (längerfristiger) Entwicklungsprozess oder als Neugestaltung innerhalb des bestehenden Stadtraums ähnelt letztlich den verschiedenen beschreibbaren Wegen der Stadtentstehung, spiegelt diese in gewissem Sinne im Kleinen wider.10 Stand letzterer Prozess, vor allem in der Frühphase, unter stadtherrlichem Einfluss, wenngleich auch in unterschiedlichem Masse mit Beteiligung städtischer Gruppen, so dokumentierte die Anlage kommunaler Plätze die städtebaulichen Vorstellungen des Rates bzw. der diesen dominierenden Gruppen. Daraus ergeben sich verschiedene Fragerichtungen, die zu einem Gesamtbild zusammenzuführen sind: Zu Beginn der Betrachtung stehen Form und Ausmass der Umgestaltung – damit verbunden die Frage, nach dem, was zuvor war, Zeitpunkt und Dauer der Umsetzung und schliesslich die dahinterstehenden Protagonisten und deren Intentionen. Beantworten, soweit dies möglich ist, lassen sich diese Fragen Buch SKAM 36.indd 80 Die Entdeckung des Platzes nur im Zusammenspiel verschiedener Quellentypen und der diese untersuchenden Disziplinen. Die Grenzen der Untersuchungsmöglichkeiten zeigen sich bereits im Blick auf die Entstehung kommunaler Platzanlagen im deutschsprachigen Raum. Die Frage, wie weit diese, der angeführten Definition entsprechend, schon vor dem 15. Jahrhundert entstanden,11 wäre sicherlich noch zu untersuchen, dürfte vermutlich aber auch an die Grenzen der schriftlichen Überlieferung zu diesem Aspekt führen. Städtische Plätze, vor allem Marktplätze, mit älteren Wurzeln existieren zahlreich, typisch sind sie beispielsweise für die Städte des Ostseeraums. Die umfangreichen archäologischen Untersuchungen, die seit den 1990er Jahren in den Städten der ehemaligen DDR stattgefunden haben, liefern zum Teil einen sehr guten Einblick in die sich über Jahrzehnte bzw. Jahrhunderte erstreckenden Entwicklungen und Wandlungen der dortigen Märkte und ihrer Bebauung.12 Diese bislang nur in Teilen oder Vorberichten publizierte umfangreiche Befundlage bietet sich geradezu als Ausgangspunkt zur fächerintegrativen Untersuchung des Phänomens Markt(-platz) an. Die häufig, aber nicht immer, bereits in der Gründungsphase festgelegten Plätze entwickelten ihre Gestalt erst über einen längeren Zeitraum in der Entwicklung und im Wandel ihrer kommunalen Funktionen und sind so – im Gegensatz zum geplanten und gestalteten kommunalen Platz – vielleicht eher als ein zunächst bewusst für verschiedene öffentliche Zwecke offen gelassener «Freiraum» zu betrachten. Archäologisch wie historisch gut untersucht ist der Greifswalder Markt, der durch das in den 1340er Jahren errichtete Rathaus in zwei Plätze, den kleineren Fischmarkt im Westen und den Grossen Markt im Osten, untergliedert wird (Abb. 1).13 Nach den archäologischen Befunden scheint das sich über die Breite von zwei Strassenblöcken erstreckende Areal schon bei der Absteckung des Strassenrasters für eine öffentliche Nutzung frei gelassen worden zu sein. Der erste belegbare Bau in diesem Bereich ist ein kurz nach 1266/67 errichteter hallenartiger Pfostenbau von gut 50 m Länge, der als Markthalle gedeutet wird.14 Der 8 9 10 11 12 13 14 Albrecht 2004. Knapp thematisiert wird dieser Zusammenhang von Meckseper 1982, 181–184; Meckseper 2003; Paul 1985, 100f.; Arnhold 1997. Untermann 2006a, 211. Zu diesen Prozessen siehe beispielsweise Stadt 2004; Baeriswyl 2003; Baeriswyl 2006; Untermann 2006b; Stercken 2006. Siehe Untermann 2006a, 219. Nur als Beispiele seien genannt Hoffmann 2005; Wieczorek 2005; Konze 2005; Plate 2008. Schäfer 2000,446f.; Schäfer 2004, 272f.; Igel 2002a, 26–30; Igel/Kiel 2004, 9; Igel 2008a. Schäfer 2004, 272. 14.11.2009 14:54:08 Uhr Die Entdeckung des Platzes Bau grosser steinerner Bürgerhäuser am Markt setzte ausweislich der archäologischen wie bauhistorischen Befunde frühestens in den 1270er, eher aber in den 80er und 90er Jahren desselben Jahrhunderts ein.15 Um 1300, als das erste Marktgebäude aus den 1260er Jahren anscheinend ausgedient hatte und verfallen war, wurde nördlich des späteren Rathauses eine später als «Alte Krämerbuden» bezeichnete, noch heute bestehende Marktbudenzeile errichtet, das Rathaus folgte dann in den 1340er Jahren. Darüber hinaus haben auf den Freiflächen der beiden so entstandenen Marktplätze keine massiven Bauten, die entsprechende Spuren im Untergrund hinterlassen hätten, bestanden.16 Nicht auszuschliessen sind natürlich ältere Strukturen, die von den «Alten Krämerbuden» oder dem Rathaus mit ihren Kellern überlagert wurden. An diesem Beispiel zeigt sich also eine Platzentwicklung im Wechselspiel von öffentlichen wie privaten Bauprojekten im Gegensatz zu der bewussten Platzgestaltung, die hier betrachtet werden soll. Die Anlage städtischer Plätze lässt sich für das 14. Jahrhundert auch unter dem Einfluss Karls IV. beobachten, zu denken ist dabei nur an die Prager Neustadt mit dem heutigen Karlsplatz,17 aber ebenso an den Nürnberger Hauptmarkt, der mitsamt der diesen akzentuierenden Frauenkirche nach 1349 an die Stelle des jüdischen Quartiers trat. Aber hier war das herrschaftliche Element, nicht das kommunale entscheidend.18 Mit dem Nürnberger Hauptmarkt wäre zugleich ein weiteres Phänomen angesprochen: Plätze oder Freiflächen, die an die Stelle jüdischer Siedlungsareale, insbesondere von Synagogen traten.19 Verstärkt ab dem 15. Jahrhundert setzte der Abbruch von Marktbuden und anderen Bauten der Marktareale ein, wodurch häufig erst der Charakter eines Platzes, auch bei den breiten Strassenmärkten entstand.20 Mit diesen Vorgängen muss aber nicht notwendig eine eigentliche Platzgestaltung im Zusammenhang von Platz und den ihn umgebenden bzw. akzentuierenden Bauten verbunden gewesen sein. Bereits das Beispiel Greifswald hat verdeutlicht, dass die Frage nach der Platzentstehung und -gestaltung nur im Zusammenspiel von archäologischer, historischer und nicht zu vergessen bauhistorischer Forschung untersucht werden kann, womit der Blick auf die methodischen Probleme dieser Zusammenarbeit gelenkt werden soll. Offensichtlich ist, dass die archäologischen Befunde kaum Hinweise auf die Protagonisten hinter Veränderungen im Stadtraum und deren Intentionen liefern können. Andererseits ist es zumindest problematisch, sofern überhaupt möglich, von den Schriftquellen allein auf die räumliche Buch SKAM 36.indd 81 81 Dimension dieser Veränderungen zu schliessen, zumal im Blick auf die zuvor bestehenden Raumstrukturen. Die notwendige Zusammenarbeit muss also die unterschiedlichen Aussagemöglichkeiten der archäologischen und schriftlichen Quellen, aber ebenso die unterschiedlichen Blickwinkel und Interpretationsansätze von Archäologie wie Geschichtswissenschaft beachten.21 Da für die Rekonstruktion der dreidimensionalen Strukturen natürlich die erhaltene aufgehende Bausubstanz von wesentlicher Bedeutung ist, kommt zudem der Bauforschung eine zentrale Rolle zu, sofern überhaupt an der Höhe Null eine Scheidelinie zwischen dieser und der Archäologie gezogen werden sollte.22 Die Chancen einer die archäologischen und historischen Quellen zusammenführenden Untersuchung sollen eingehender am Beispiel des Osnabrücker Altstadt-Marktes diskutiert werden. Dieser wurde in den 1980er und 1990er Jahren in grösserem Masse archäologisch untersucht,23 ist aber auch in den Schriftquellen, insbesondere den Stadtrechnungen des 15. und 16. Jahrhunderts, sehr gut zu fassen.24 III. Das Beispiel Osnabrück Die schon an anderen Orten vorgestellte Umgestaltung des Marktes der Altstadt Osnabrück von einem Strassen- und Gassensystem hin zu einem Platz soll hier nicht noch einmal im Detail nachvollzogen werden (Abb. 2 und 3).25 Anzuführen sind vielmehr jene Aspekte und Probleme, an denen sich die Chancen und Grenzen einer fächerübergreifenden Auswertung der archäologischen wie schriftlichen Quellen aufzeigen lassen. Die grundsätzliche Notwendigkeit dieser Zusammenführung ist bereits an der Forschungsgeschichte zum Osnabrücker Altstadtmarkt abzulesen: Der älteren stadtgeschichtlichen Forschung galt der Markt in seiner dreieckigen Grundfläche als ein schon seit dem 11. Jahrhundert aus einer Strassengabelung erwachsener Platz.26 Hinweise auf verschiedene Marktbuden im Bereich des Marktes waren zwar aus den spätmittelalterlichen Quellen bekannt, wurden aber nicht 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 Brandt/Lutze 2004, 32–38. Igel 2002a, 30. Siehe hierzu und zum folgenden Untermann 2009. Frieser/Friedel 1999. Untermann 2006a, 219; Untermann 2009. Ebd. Dazu immer noch wesentlich Wenskus 1979; siehe auch Igel 2008b. Zur Diskussion der Zusammenarbeit siehe Bauforschung 2000. Schlüter 1987; Schlüter 2001; Igel 2006. Siehe Eberhardt 1996, 81–103. Vgl. Igel 2002b; Igel 2006; Igel 2007, 199–207. So Planitz 1980, 94. 14.11.2009 14:54:09 Uhr 82 Die Entdeckung des Platzes Abb. 2 Osnabrück, Altstadt-Markt um 1400. Abb. 3 Osnabrück, Altstadt-Markt im 16. Jahrhundert. mit der Platzform in Zusammenhang gebracht. 27 Wie viele, sich allein auf den neuzeitlichen Stadtplan stützende Überlegungen zur frühen Stadtentwicklung wurde allerdings auch diese Vorstellung von einer archäologischen Grabung beerdigt. Überraschend traten 1984/85 praktisch mitten auf dem Marktplatz massive Steinkeller ans Tageslicht. Zugleich zeigte sich, dass das Areal nördlich dieser Keller bis ins 15. Jahrhundert für Bestattungen genutzt wurde, also kein Marktplatz, sondern ein Kirchhof war.28 Die Auflassung von Budenzeile und Friedhof, die sich ausgehend von den archäologischen Befunden in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts setzen lässt, gibt eine umfangreichere räumliche Veränderung im Bereich des heutigen Marktplatzes zu erkennen, die über den reinen Abriss einer Marktbudenzeile hinausging. Die Keller dieser Marktbuden lassen mit ihrer massiven Wandstärke eine auch im aufgehenden Baukörper steinerne und/oder zweigeschossige Ausführung möglich erscheinen – mehr als die Möglichkeit lässt sich aus den archäologischen Befunden freilich nicht erschliessen. In der urkundlichen Überlieferung werden diese Bauten als hallula oder niederdeutsch als gadem bezeichnet,29 was dem Begriff der Bude entspricht. Ein Hinweis auf die Bauweise, ob steinern oder Fachwerk, fehlt. Allerdings sind solche Angaben in der Osnabrücker Überlieferung ohnehin ausgesprochen selten und würden in diesem Falle als Unterscheidungskriterium auch nur sinnvoll erscheinen, wenn die einzelnen Buden dieser Zeile zwischen Marktstrasse und Marienkirchhof aus unterschiedlichem Baumaterial errichtet worden sein sollten. Zu fassen sind in den Quellen die Eigentümer und zum Teil auch Bewohner dieser Buden, darunter Goldschmiede.30 Die Witwe eines Hökers bewohnte in den 1330er Jahren eine ihr gehörende Bude, obgleich sie auch ein Haus in unmittelbarer Nähe zum Markt besass.31 Die Wahl des vermutlich kleineren Gebäudes am Markt liesse sich vielleicht mit den höheren von einem Haus zu erwartenden Mieteinnahmen als Teil ihres Lebensunterhaltes begründen. Andererseits deutet der Besitz von mindestens zwei Gebäuden in der Stadt auf ein gewisses Vermögen und legt damit auch nahe, dass die Buden am Markt trotz geringerer Grösse über eine angemessene Wohnqualität verfügt haben dürften. Damit enden die Überlegungen, die sich zur Gestalt und Nutzung dieser Budenzeile auf die Schriftquellen gründen lassen. Eindeutige archäologische Befunde zur Nutzung fehlen allerdings: Herdstellen im Keller können sowohl auf eine handwerkliche Nutzung wie auch auf Vermietung als Wohnkeller hinweisen; aufgefundene Handwerksabfälle gehören den Verfüllungsschichten der Baugruben und des Abrisses an, können also nicht sicher einem ursprünglichen Zusammenhang mit diesen Gebäuden zugeordnet werden.32 Im Blick auf den gesamten Bereich des Marktes verweisen die archäologischen Befunde auf eine Datierung in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts, darüberhinaus geben sie aber zudem eine umfassendere Veränderung der Raumstruktur zu erkennen, die neben der bereits genannten Budenzeile und dem südlichen Marienkirchhof auch den Bereich östlich des Chores von St. Marien betraf.33 Detaillierten Aufschluss über die Vorgänge enthalten die Rechnungen der Osnabrücker Altstadt: Für das Jahr 1486 Buch SKAM 36.indd 82 27 28 29 30 31 32 33 Stüve 1855, 341–350; Rothert 1938, 175f. Zur Nutzung als Versammlungsort siehe Igel 2009. Igel 2006, 206–209. Ebd., 208. Urkunden Marienkirche, 1333 April 16. Vgl. Igel 2002b, 177. Eine überfällige ausführlichere Untersuchung des Fundmaterials könnte aber auch in diesem Falle zu weiteren Ergebnissen führen. Schlüter 2001, 85–91. 14.11.2009 14:54:09 Uhr Die Entdeckung des Platzes verzeichnen sie den Abriss des Rathauses,34 das ausgehend von Steuerverzeichnissen und der urkundlichen Überlieferung an der Stelle des heutigen, ab 1487 errichteten Rathauses lokalisiert werden kann.35 In jenem und den folgenden Jahren wurden zudem weitere städtische Bauten im Bereich des Marktes abgerissen, andere vom Rat angekauft und ebenso abgebrochen, zugleich verschwanden die bisherigen Gassen aus den städtischen Mieteinnahmen. Da nicht alle Rechnungsjahrgänge dieser Jahre erhalten geblieben sind,36 bestehen aber auch hier Lücken, so dass möglicherweise nicht alle angekauften und abgerissenen Bauten greifbar sind. Dennoch erlaubt das Zusammenspiel der archäologischen Befunde mit den Stadtrechnungen neben der exakten, jahrgenauen Datierung der Abrisse auch eine weitgehende Erfassung des betroffenen Bereiches. Hinzu kommt der zeitliche Ablauf des Bauprozesses, der sich trotz einzelner Überlieferungslücken für das Rathaus über ein Vierteljahrhundert von 1487 bis 1512 verfolgen lässt und Baufortschritte wie auch -unterbrechungen zu erkennen gibt.37 Daraus ergeben sich Fragen an die sowohl räumliche wie zeitliche Rekonstruktion archäologischer Baubefunde: Welchen Aufschluss bieten Fundamente für die einstmalige aufgehende Bausubstanz, wenn es zu Unterbrechungen, Planveränderungen oder schlicht zur Aufgabe des Projektes kam – von der Datierung einmal ganz abgesehen. So wurde der unmittelbar vor dem Rathaus gelegene Ratsbrunnen ebenfalls bei den Grabungen erfasst (Abb. 4) und konnte in seiner Neugestaltung auch der Anlage des Marktplatzes am Ende des 15. Jahrhunderts zugeordnet werden. Allerdings gilt dies nur für die Brunnenröhre selbst – nach den Einträgen in den Stadtrechnungen erhielt diese 1517 zunächst ein hölzernes Schutzdach, ein Provisorium, das erst Jahrzehnte später gegen Ende des 16. Jahrhunderts von dem reich gestalteten Brunnenaufsatz abgelöst wurde.38 Nur aus der schriftlichen Überlieferung fassbar sind ebenso andere Elemente. So finden sich Pflasterungen, die archäologisch – da häufig später durch tieferreichende Erneuerungen der Platzoberfläche zerstört – nur begrenzt nachgewiesen werden können, in den Osnabrücker Rechnungen auch mit Nennung der Herkunft der Steine.39 Ähnliches gilt für Gebäude, die von späteren Neubauten überlagert wurden. Kaum auf archäologischem Wege erfassbar sind die beteiligten Personen, es sei denn durch Bauinschriften. Im Falle des Osnabrücker Rathauses benennen die Stadtrechnungen aber auch die entscheidenden Protagonisten innerhalb der städtischen Führungsgruppe: Drei Bürgermeister und zwei Ratsherren zahlten 1489 12 ½ Mark Buch SKAM 36.indd 83 83 Abb. 4 Osnabrück, Rathaus und Ratsbrunnen (Gerhard Berger 1607). Osnabrücker Münze, um dafür ihre Wappen in Kapitelle des Rathauses – dem Baufortschritt nach vermutlich Konsolsteine für Figuren an der Hauptfassade – schneiden und sich so als Bauherren in der Fassade verewigen zu lassen.40 Ebenso finden sich weitere Personen in den Stadtrechnungen, die mit Geldstiftungen zum Rathausbau und seiner Ausschmückung beitrugen und so auch ihre Nähe zum Rat dokumentierten.41 Hinzu kommt eine grosse Zahl der am Bau beschäftigen Handwerker bis hin zu den Tagelöhnern.42 Ihre Grenze erreichen die Osnabrücker Schriftquellen im Blick auf die Ideen und Absichten der führenden Ratsgruppe, darüber schweigen die Rechnungen, Ratsprotokolle fehlen aus dieser Zeit, allein die noch nicht durchgesehenen Urkunden zu den einzelnen Grundstückskäufen – soweit erhalten – könnten hier vielleicht noch weiterhelfen. Letztlich bleibt nur der Weg, aus den historischen und archäologischen Quellen das Vorher und das Nachher zu rekonstruieren und aus dem dazwischen erkennbaren zeitlich eingrenzbaren Pro- 34 35 36 37 38 39 40 41 42 Eberhardt 1996, 343: Item dat olde raithus was dale to brekene ... Igel 2006, 209f. Eberhardt 1996, 22. Ebd., 99–103; Igel 2007, 201–203. Ebd., 205. Eberhardt 1996, 213–256; Igel 2007, 205. Ebd., 204. Eberhardt 1996, 87. Ebd., 81–103. 14.11.2009 14:54:10 Uhr 84 Die Entdeckung des Platzes Abb. 5 Osnabrück, Altstadt-Markt mit Treppengiebelhäusern (Christian Ludolph Reinhold um 1780). zess Rückschlüsse auf mögliche Intentionen zu ziehen bzw. in den Kontext mit vergleichbaren Vorgängen zu stellen. In Osnabrück kann so die enge Verknüpfung von Rathausbau und Platzgestaltung herausgearbeitet werden, nicht aber, ob auch auf weitere Bauten eingewirkt wurde. Gerade am Altstädter Markt fällt eine ausgesprochen einheitliche Fassadengestaltung der südlichen Häuserzeile auf, deren Wurzeln ebenfalls in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts zurückreicht (Abb. 5). Rein archäologisch erfasst ist eine bewusste Verschwenkung der nördlichen Strassenfront östlich von St. Marien, womit der Blick auf deren Umgangschor von der Domimmunität aus freigestellt wurde (Abb. 6). Die drei Bürgermeister, die ihre Wappen in Kapitelle des Rathauses schneiden liessen, erscheinen zudem im selben Zeitraum in ihrem Amt als Kirchenräte auch als Bauherrn des monumentalen Kirchturms der Osnabrücker Katharinenkirche, der mit seiner Fertigstellung 1511 eine Höhe von über 100 m erreichte.43 Die Reaktion des Domkapitels auf diesen Bau verweist bereits auf Konkurrenzen zwischen Gruppen als zumindest einen Hintergrund dieser Bauprojekte. Die Domherren liessen schon ein Jahr vor der Fertigstellung des Buch SKAM 36.indd 84 Turmes von St. Katharinen einen Baumeister aus Bielefeld kommen, um den Südwestturm des Osnabrücker Doms zu begutachten. Kurz darauf wurde auf vierfacher Grundfläche ein massiver Neubau des Turms begonnen, der mit seiner Spitzhaube jene von St. Katharinen übertreffen sollte. Ein Ziel, das angesichts der aufkommenden Reformation und fehlender Stiftungen aus der Bürgerschaft um wohl nur wenige Meter misslang.44 Dass die Intentionen der städtischen Führungsschicht zumindest teilweise an das Domkapitel adressiert waren, das sich seit dem 15. Jahrhundert zunehmend von dieser abzuschliessen suchte, darauf könnten auch die Freistellung des Chores von St. Marien, der sich nun optisch der Domfreiheit und damit dem Dom gegenüberstellte, und das mutmassliche Programm der «Neun guten Helden» an der Rathausfassade, mit dem sich eine beanspruchte Gleichrangigkeit konnotieren liesse, deuten, auch wenn letzteres vielleicht nicht einmal vollständig ausgeführt wurde.45 43 44 45 Salzmann 1957, 46f.; Igel 2007, 207. Guntermann 2003, 93–102. Igel 2007, 203f. 14.11.2009 14:54:11 Uhr Die Entdeckung des Platzes 85 Abriss, der in der Folge auch weitere benachbarte Gebäude betraf und archäologisch gut zu erfassen ist, genannt. Auch hier ging es, wie im Fall der Marienkirche darum, eine Sichtbarkeit auf Distanz zu schaffen. Gleiches gilt für das Verhältnis von Rathaus und Marktplatz in Osnabrück, erst der vorgelagerte Platz ermöglichte die Fernsicht auf den Neubau, während das vorherige Rathaus nur aus der Enge der umgebenden Strassen wahrnehmbar war.47 Auf ähnliche Entwicklungen in weiteren Städten soll hier nur kurz hingewiesen werden, zeitlich nachfolgend wäre beispielsweise an den Rathausbau in Marburg zu denken,48 deutlich vorhergehend an den Neubau des Bremer Rathauses zu Beginn des 15. Jahrhunderts, das in das räumliche Spannungsfeld zwischen Markt und Domfreiheit gesetzt wurde, und schon damit die städtische Autonomie und den Herrschaftsanspruch des Rates dokumentierte.49 IV. Resümee Abb. 6 Osnabrück, Domfreiheit und Altstadt-Markt (um 1630). Angedeutet ist damit, dass ein Verständnis für die Hintergründe solcher räumlichen Um- bzw. Neustrukturierungen im städtischen Raum – soweit überhaupt – nur im Zusammenhang des gesamten Stadtraums und seiner gesellschaftlichen wie Verfassungsstruktur zu gewinnen ist. Verbunden ist damit neben der Berücksichtigung der verschiedenen archäologischen Befunde und historischen Quellengattungen auch die Einbeziehung und kritische Diskussion der erhaltenen Bildquellen. Auch wenn letztere für die spätmittelalterlichen Verhältnisse nur begrenzt aussagefähig sein dürften. Hinzu tritt nicht zuletzt die vergleichende Betrachtung von Platzgestaltungen, die sich nach bisherigem Forschungsstand durchaus als Phänomen des 15. Jahrhunderts betrachten lassen. Zeitlich parallel zu den Abrissarbeiten in Osnabrück findet sich in Bern 1489 seitens des Rates eine Verpflichtung an den Chorherrn Johannes Armbruster, sein Eckhaus gegenüber der Einmündung des Münstergässchens abzureissen: Soliches hus zu slissen sy dem Kichhof zu gut, denn so wurde der Blick auf die Münsterfassade freigestellt.46 Während die Osnabrücker Quellen schweigen, wurde hier, wenn auch knapp, der Anlass für den Buch SKAM 36.indd 85 Deutlich geworden ist, dass – jenseits von erhaltener Bausubstanz oder Bildquellen – nur über den archäologischen Weg ein einigermassen exaktes Bild der räumlichen Ausdehnung und der baulichen Gestalt erreichbar ist. Allerdings findet auch dieser Weg seine Grenze in der Überlieferung entsprechender Strukturen im Bodenarchiv und der Möglichkeit, diese überhaupt zu untersuchen. So bieten die Schriftquellen, trotz aller Unschärfen in Lokalisierbarkeit und Beschreibung, eine wichtige Ergänzung, im Spätmittelalter vielleicht sogar das eigentliche Grundgewebe, in das sich die archäologischen Befunde räumlich wie zeitlich einflechten lassen. Zumal, wenn die tatsächliche Nutzung und deren Wandel über einen längeren Zeitraum in Betracht gezogen werden soll. Zudem erlauben auch archäologische Befunde ohne erhaltene aufgehende Bausubstanz zunächst einmal nur eine zweidimensionale Rekonstruktion von Baustrukturen, die letztlich nur den Ausgangspunkt für Idealrekonstruktionen anbieten können. Mit den erwähnten Planänderungen, Umbauten, Aufgaben von Bauprojekten etc. sei auf die zeitliche Dimension verwiesen, für die die Archäologie im Vergleich zur schriftlichen Überlieferung häufig nur sehr ungenaue Datierungen anbieten kann, vor allem, wenn es nicht den Baubeginn, sondern die Niederlegung betrifft. 46 47 48 49 Gutscher 1999, 85. Siehe dazu auch Untermann 2009. Klein 1997. Albrecht 1993; Gleba 1998. 14.11.2009 14:54:11 Uhr 86 Bei der notwendigen und fruchtbaren fächerintegrativen Zusammenarbeit bleibt es also entscheidend, die aus den in ihrer Form verschiedenen Quellen folgenden unterschiedlichen Zugänge beider Disziplinen zu beachten, Buch SKAM 36.indd 86 Die Entdeckung des Platzes die besonders im Blick auf die räumlichen wie zeitlichen Dimensionen, wie sie in den Prozessen eines stadträumlichen Wandels in enger Verknüpfung stehen, zum Tragen kommen. 14.11.2009 14:54:11 Uhr Die Entdeckung des Platzes Bibliografie Quellen Urkunden Marienkirche – Niedersächsisches Landesarchiv, Staatsarchiv Osnabrück, Rep. 13a Nr. 5 – 1333 April 16. Darstellungen Albrecht 1993 – Stephan Albrecht, Das Bremer Rathaus im Zeichen städtischer Selbstdarstellung vor dem 30-jährigen Krieg (Materialien zur Kunst- und Kulturgeschichte in Nord- und Westdeutschland 7), Marburg 1993. Albrecht 2004 – Stephan Albrecht, Mittelalterliche Rathäuser in Deutschland. 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Diese postulierte Abhängigkeit wird nur selten in Frage gestellt.1 I. Definition Der Begriff der «gegründeten» Stadt beinhaltet nach allgemeiner Auffassung einen bewussten politischen und städtebaulichen Gründungsakt. Merkmale der Gründungsstadt sind: – Verleihung von Privilegien (bspw. Stadtrecht), welche die sozialen und wirtschaftlichen Abhängigkeiten regeln und die Gründungsstadt mit einem Sonderstatus auszeichnen. Sie sind Bestandteil des Gründungsakts, auch wenn sie nicht überliefert sind oder erst zu einem späteren Zeitpunkt vorliegen. – Eine regelmäßige Grundrissstruktur, die den Planungsakt widerspiegelt. – Ein Stadtgründer, der die Gründung initiiert. Die Stadterhebung, also die Rechtsverleihung an eine schon funktional städtische Siedlung, wird hingegen nicht als Gründung bezeichnet.2 II. Archäologisch-bauhistorische und historische Disziplin Bedingt durch ihre Quellen beschäftigen sich die beiden Disziplinen mit unterschiedlichen Aspekten der Gründungs- und Planstadt. Die Geschichtswissenschaft kann primär über ihre Quellen die rechtlichen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und religiösen Funktionen erschließen und im Idealfall über einen Bericht den Gründungsakt nachvollziehen. Meist kann sie aber keine Aussagen über die Lage bzw. die konkrete Bauform einer Planstadt machen, bis auf die Erwähnung einer Stadtmauer oder generell von Häusern. Über die Jahrzehnte haben Historiker Kriterien für die Definition von Stadt erarbeitet, modifiziert und neu formuliert, um den Prozess der Stadtwerdung zu beschreiben.3 Die archäologischen und bauhistorischen Quellen geben zunächst punktuell Auskunft über die bauliche Gestalt und architektonische Form eines durch die Unter- Buch SKAM 36.indd 89 suchungsfläche festgelegten Raumes innerhalb der Stadt, den Anfang der Besiedlung, ihre bauliche Entwicklung und ermöglichen meist weiterführende Aussagen zum wirtschaftlichen und sozialen Leben. Merkmalskataloge «städtisch» anzusprechender archäologischer Befunde und Funde wurden zwar erstellt,4 eine konkrete, systematische, übergreifende Überprüfung der Kriterien liegt bislang aber nur in wenigen Fällen vor.5 Beiden Disziplinen gemein ist, dass ihre Quellen sehr lückenhaft sind und deren Interpretation sich im stetigen wissenschaftlichen Fluss befinden. Während in der Geschichtswissenschaft kaum noch mit neuen Quellen zu rechnen ist, steht die Archäologie vor der entgegengesetzten Situation: Mit jeder Stadtgrabung werden neue Quellen erschlossen, die – ausgewertet – die Thesen der Archäologen wie Historiker modifizieren oder gar revidieren können. Archäologische Ausgrabungen in den Stadtkernen mittelalterlicher Gründungsstädte haben in den letzten Jahren die generelle Koppelung des historischen Gründungsakts oder ihres «städtischen Zustandes» an die Planstadt in Frage gestellt, da beispielsweise die Plananlage jünger als die aus den schriftlichen Quellen zu erschließende Stadtgründung oder ihr «städtischer Zustand» sein kann. Andererseits ist das Bild von Stadt bei Archäologen oftmals noch von der Idealstadt Karl Grubers6 geprägt, so dass meist keine Differenzierung zwischen Gründung und Plananlage stattfindet bzw. dieser Widerspruch nicht aufgelöst wird.7 1 2 3 4 5 6 7 Stercken 2006, 16, 24, 31; Untermann 2004, 14; Schadek 1990, 419. Mihm 2002, 131; LexMA 8 (1997) 21 s. v. Stadtgründung (F. B. Fahlbusch); Reinisch 1990, 126–127; Patze 1977, 168, 196; Strahm 1950; Hofer 1963, 85. Heit 1978; ders. 2004. Steuer 2004, bes. 33–35, 41–51; Hartmann u. a. 1991; dazu Steuer 1995 bes. 89; ders. 1986, bes. 228. Baeriswyl 2003; Piekalski 2001. Gruber 1952. Ausnahme: Baeriswyl 2003; Untermann 2004, 14. 14.11.2009 14:54:11 Uhr 90 Abb. 1 Heidelberg: 1 Peterskirche, 2 Planstadt (heutige Kernaltstadt), 3 Heiliggeistkirche, 4 Burg auf der Molkenkur, 5 Burg auf dem Jettenbühl (heutiges Schloss). III. Zwei Fallbeispiele 1. Heidelberg Heidelberg (Abb. 1), linksseitig im Tal des unteren Neckar gelegen, wird wegen seines symmetrischen Aufbaus als eine typische Planstadt angesehen.8 Die Planstadt, die heutige Kernaltstadt, erstreckt sich auf engem Raum zwischen Neckar und dem steilen Berghang des Königsstuhls. Zentrale Achse der Planstadt ist die linksufrige Fernstrasse. Diese gabelt sich beim Eintritt in die ummauerte Planstadt in zwei Längsstrassen (Hauptstrasse und Untere Gasse), um kurz vor dem Austritt aus der Stadt, wieder zusammengeführt zu werden. Von diesen Längsstrassen sowie einer weiteren, sich nicht über die volle Länge der Altstadt erstreckende Strasse (Ingrimstrasse), zweigen im nahezu rechten Winkel die Querstrassen ab. Zentral im Mittelpunkt der Planstadt wurde der Marktplatz angelegt, über den beide Längsstrassen führen und auf dem die Kirche der Planstadt, die Heiliggeistkirche (Abb. 1,3), errichtet wurde. Sie hatte anfangs den Status einer Kapelle und erhielt erst 1400 Pfarrrechte. Diese hatte zuvor allein die westlich ausserhalb der Planstadt gelegene Peterskirche (Abb. 1,1) inne, in deren Umkreis eine zugehörige Siedlung vermutet und als ältere Vorgängersiedlung zur Planstadt angesprochen wurde.9 Diese sogenannte Peterskirchen-Siedlung ist inzwischen archäologisch an verschiedenen Fundstellen nachgewiesen worden (Abb. 2).10 Kirche und Siedlung liegen erhöht auf dem Schwemmfächer des Klingenbaches, während sich die Planstadt auf den hochwassergefährdeten Nie- Buch SKAM 36.indd 90 Gegründet & geplant derterrassen des Neckars erstreckt.11 Oberhalb von Peterskirchen-Siedlung und Planstadt dominierten zwei Burgen das Neckartal: die untere Burg (das heutige Schloss) auf dem Jettenbühl (Abb. 1,5) sowie die obere Burg auf der sogenannten Molkenkur (Abb.1,4). Die gleichzeitige Existenz der Burgen ist erst seit 1303 aus den Schriftquellen ersichtlich. In den älteren Quellen wurde immer nur eine, nicht näher spezifizierte Burg erwähnt,12 weshalb über ihre zeitliche Rangfolge nur spekuliert werden konnte. Archäologische und bauhistorische Untersuchungen der letzten Jahre haben eine zeitliche Einordnung der beiden Burgen erlaubt: Eine Befestigung existierte auf der Molkenkur bereits im 12. Jahrhundert, während eine Burganlage auf dem Jettenbühl erst in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts errichtet wurde.13 Bis Ende des 20. Jahrhunderts stand vollkommen ausser Frage, dass die in den Schriftquellen erwähnte Stadt die Planstadt sei. Die Siedlung bei der Peterskirche wurde und wird als Burgweiler angesprochen und damit ein städtischer Charakter abgesprochen.14 Der Name Heidelberg erscheint erstmals in den 80er Jahren des 12. Jahrhunderts in Verbindung mit einer Burg, des castrum Heidelberg. Sie ist überliefert in der Lebensbeschreibung des Eberhard de Commeda (auch de Stalecke genannt),15 der sich als Knabe oft dort aufhielt. Eine Siedlung wird erstmals 1225 erwähnt, als der Wormser Bischof den Wittelsbacher Ludwig I. mit castrum in Heidelberg cum burgo ipsius castri belehnt.16 Seit seinen frühesten Erwähnungen ist Heidelberg als differenziertes Gemeinwesen zu erkennen. Ein 1196 als Zeuge genannter plebanus in Heidelberch17 lässt auf eine grössere kirchliche Gemeinde schliessen.18 In der Lebensbeschreibung des oben genannten Eberhard de Commeda wird von einer Armenfürsorge berichtet, was sich vermutlich auf Heidelberg bezieht. 19 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 Beispielsweise: Seidenspinner/Benner 2006, 61–63; Nitz 1999; Scheuerbrandt 1996, 49; Derwein 1940, 31. Schaab 1958, 258–259; ders. 1997, 17; ders. 1998, 193. Carroll-Spillecke 1993; Benner/Wendt 1996; Wendt/Benner 1997; Wendt 1997; Wendt/Benner 2001; Benner/Damminger 2005; dies. 2006. Schweizer 1996, 16. Schaab 1958, 258; Steinmetz 2008, 161–162. Wendt/Benner 1997, 27–46; Wendt/Benner 2002, 165–177. Anderer Meinung: Steinmetz 2008. Bspw. Carroll-Spillecke 1993, 45; Goetze 1996, 111; Damminger 2008, 82–85. Schneider 1962, caput IV, S. 54. Seine Vita wurde nach seinem Tode um 1220 vermutlich von einem Eberbacher Mönch verfasst. Das Original ist zerstört und ihr Inhalt über eine Abschrift von 1631 erhalten (ebenda S. 39–42). GLA 43/3056. Gudenus 1728, 50. Schaab 1998, 192. 14.11.2009 14:54:12 Uhr Gegründet & geplant 91 Abb. 2 Heidelberg. Archäologisch nachgewiesene Bebauung seit der Zeit vor und um 1200 (schwarz). Abb. 3 Heidelberg. Archäologisch nachgewiesene Bebauung seit dem 13. Jahrhunderts (schwarz), ältere, Bebauung (grau). Seit 1200 sind verschiedene Funktionen und Ämter für Heidelberg nachzuweisen: 1203 wird erstmals ein Schultheiss (scultetus de Heidelberg)20 genannt. 1214 ist der Sitz des pfalzgräflichen advocatus indirekt in Heidelberg nachzuweisen.21 Bürgerliches Selbstbewusstsein drückt sich im Gemeindesiegel aus, das erstmals – heute nicht mehr erhalten – für die Jahre nach 1217 überliefert ist. Im selben Jahr werden erstmals in einer Urkunde Heidelberger Bürger (burgenses) 22 genannt, ebenso 1220 (Heidelberg burgenses) 23 und 1223 (cives de Heidilberc) 24. In letzterer Urkunde erscheint ein archipresbiter de Heidilberc.25 Auf dem ältesten erhaltenen Siegel, auf einer Urkunde von 1229, bezeichnen sich die Bürger als (nostre) communitas (sigillo), auf einem anderen Siegel als (sigillo) civitatis nostre. Die Urkunde, an der letzteres Siegel hängt, datiert zwischen 1228 und 1233,26 in ihr wird indirekt erstmals eine Befestigung (munitiones) genannt, die 1235 namentlich (prope lictus Neckari infra murum civitatis) bezeugt ist.27 Ein Stadtrecht ist nicht überliefert.28 All diese Zeugnisse liessen für Historiker Heidelberg als ein städtisches Gemeinwesen erkennen, dessen Gründung den Staufern (Konrad von Staufen [1156– 1195], Philipp von Schwaben [1198–1208]), den Welfen (Heinrich der Ältere [1195–1211], Heinrich der Jüngere [1211–1214]) oder den Wittelsbachern (Ludwig I. [1214– 1228], Otto II. [1228–1253]) zugesprochen wurde.29 Seit den 1950er Jahren wurde durch die Untersuchungen des Historikers Meinrad Schaab Konrad von Staufen als Heidelberger Gründer etabliert. Zwar gibt es für diese Zuordnung keinen direkten Beleg, die städtische Struktur Heidelbergs im späten 12. Jahrhundert spräche aber nach Schaab für die Gründung nicht lange vor dieser Zeit und fiele somit in die Regierungszeit Konrads von Staufen, dem Halbbruder Friedrichs I. Barbarossa, an den 1156 die Rheinische Pfalzgrafschaft gelangte. Ferner sei nicht mit einer Initiative des Staufers Philipp von Schwaben oder des Welfen Otto IV. während des Thronstreits zu rechnen, der ihnen kaum Möglichkeiten für das umfangreiche Projekt einer Stadtgründung geboten hätte. Eine Gründung durch die Wittelsbacher, die seit 1214 das Amt des Rheinischen Pfalzgrafen bekleideten, sei zu spät, da zu diesem Zeitpunkt die städtischen Strukturen zu weit entwickelt gewesen wären.30 Dieser noch jüngst vertretenen Meinung31 wurde in den letzten Jahren vor allem von archäologischer Seite verstärkt widersprochen, woraus sich eine teilweise heftige Kontroverse zwischen beiden Disziplinen entwickelte. Eine Zusammenstellung und Durchsicht der archäologischen Dokumentation innerhalb der Stadt Heidelberg zeigte, dass die Besiedlung in der Planstadt nicht vor dem 13. Jahrhun- Buch SKAM 36.indd 91 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 Schneider 1962, caput V, S. 54. Da der Ort der Armenfürsorge nicht genannt ist, ist nicht auszuschliessen, dass es sich dabei auch um Bacharach gehandelt haben kann (ebenda S. 49). Kritisch dazu: Wendt/Benner 2001, 106–107. Würdtwein 1792, cap. IV, 37. Schaab 1958, 255. Gudenus 1728, 100. Gudenus 1728, 114. Gudenus 1728, 128. Gudenus 1728, 128. Dahlhaus 1999, 120. Gudenus 1728, 141–142, 183. Siehe allerdings: Goetze 2002. U. a. Wolf 1956, 148–151; Ricker 1954a; bes. Ricker 1954b; Derwein 1940, 29–30; Derwein 1939, 88–89; Schöll 1939, 108; Pfaff 1902, 63; Häusser 1845, 52, 54, 59. Schaab 1958, 273–276; ders. 1997, 9–22 bes. 20–21; Scheuerbrandt 1996, 49–50; Steinmetz 2008, 163–166. Steinmetz 2008; Finke 2005, 23. 14.11.2009 14:54:12 Uhr 92 Gegründet & geplant auf das Phänomen einer ‹städtebaulichen› Zäsur bzw. einer topographischen Siedlungsverlegung zu beziehen» sei.37 Die Ansprache als präurbane Siedlung ist dabei in jüngster Zeit von Historikern angenommen worden.38 Mit der Ansprache als präurban wird aber weiterhin Urbanität nur mit der Planstadt verbunden. Abb. 4 Chemnitz: 1 Benediktinerkloster, 2 Nikolaikirche, 3 Johanniskirche, 4 Planstadt, 5 Jakobikirche. dert einsetzte (Abb. 3).32 Die Archäologen Achim Wendt und Manfred Benner vertraten deshalb Ende der 1990er Jahre die Meinung, dass die Planstadt auf die Regierungszeit Ludwig I. von Wittelsbach (1214–1228) zurückgehen müsste.33 1999 ordnete der Historiker Joachim Dahlhaus das heraldische Motiv des Adlers auf den überlieferten Heidelberger Stadtsiegeln des 13. Jahrhunderts nicht wie bisher dem Amt des Pfalzgrafen zu, sondern bezog es auf den König bzw. das Reich und sah darin ein Indiz für eine Stadtgründerschaft Philipps von Schwaben (1198–1208).34 In Reaktion darauf modifizierten die Archäologen ihre These und schlossen die beginnende Umsetzung der Plananlage in der Zeit Philipps von Schwaben oder der Welfen zwischen 1195 und 1214 nicht mehr aus. Mit den vorläufigen Ergebnissen der jüngsten Grabung werden hingegen wieder die Wittelsbacher als Gründer der Planstadt favorisiert.35 Meinrad Schaab vertrat auf Grundlage der schriftlichen Quellen weiterhin die Meinung, dass Heidelberg schon vor dem frühen 13. Jahrhundert einen städtischen Zustand erreicht hatte. Da er die archäologischen Quellen als zu lückenhaft ansah, blieb er bei der frühen Datierung der Planstadt und koppelte damit seine Gründungsstadt weiterhin an die Planstadt.36 Die Archäologen sprechen von einer präurbanen Siedlung oder einem suburbium, das «wichtige Schritte in der Entwicklung zu einer städtischen Verfassung bereits unternommen hatte», während die Anlage einer Planstadt keinen rechtlichen oder verfassungsmässigen Neuanfang bedeutete, sondern «zunächst einmal nur Buch SKAM 36.indd 92 2. Chemnitz Chemnitz (Abb. 4) am Rande des Erzgebirgbeckens in der Talaue des Flusses Chemnitz gelegen, gilt mit seinem ovalen Stadtgrundriss als planmässige Stadtanlage.39 Im Zentrum der Planstadt liegen der Markt und die städtische Pfarrkirche St. Jakobi (Abb. 4,5). Die südlich davon verlaufende Johannisgasse teilt die Planstadt in ein nördliches und ein südliches Areal. Ersteres wird von einem rechtwinkligen Strassenraster bestimmt, in das sich weder Markt und Pfarrkirche noch die westlichen und östlichen Randbereiche willig einfügen. Das südliche Stadtareal weicht in seiner Ausrichtung um 15° bis 20° vom nördlichen ab und wird von der einzigen von West nach Ost durchlaufenden Strasse dominiert, der Langen Gasse, von der rechtwinklig Strassen abzweigen. Im Jahre 1143 wird der Name Chemnitz (locus Kameniz) erstmals in einer Urkunde im Zusammenhang mit dem dortigen Benediktinerkloster genannt.40 Das Kloster,41 etwa 1,5 km nördlich der späteren Planstadt auf einem Geländevorsprung am westlichen Talrand der Chemnitzaue gelegen (Abb. 4,1), war von Lothar III. wohl 113642 gegründet worden.43 1143 bestätigte Konrad III. die Stiftung seines Vorgängers und nahm das Kloster in seinen Schutz. Ferner erlaubte und bestimmte er, dass ein Markt mit allen Freiheiten eingerichtet werden solle, dessen Abgaben das Kloster erhalten solle.44 Den Bewohnern (incole) der Marktsiedlung gewährte Konrad 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 Wendt/Benner 1997, 17–26, 47–60. Keramikmaterial der «Übergangszeit» liegt zwar vor, es sei aber als verlagerte Funde «aus Schwemmschichten oder Gräbern des Spitalsfriedhofs aufzufassen. Sämtliche konkreter greifbaren Siedlungsbefunde enthalten Material des jüngeren Keramikhorizonts» (ebenda S. 21–23). Carroll-Spillecke 1993, bes. 45. – Kritisch zu den archäologischen Befunden: Schaab 1998, 195–212. Zur genauen Argumentation siehe Dahlhaus 1999, bes. 119–124. Benner/Damminger 2005, bes. 235. Schaab 1998, 212. Wendt/Benner 2001, 115. Weinfurter 2005, 104, 106. Schlesinger 1952, 59. Cod. dipl. Sax. II/6, Nr. 302, S. 263. Zur Archäologie: Geupel 1990; ders. 2002. Schlesinger 1952, 13 Anm. 1, 85–87. In jüngeren Urkunden als Stifter genannt: Cod. dipl. Sax. II/6, Nr. 302, S. 263, (Anhang Necrologium des Benedictinerklosters zu Chemnitz) S. 481. Cod. dipl. Sax. II/6, Nr. 302, S. 263. 14.11.2009 14:54:12 Uhr Gegründet & geplant III. Zollfreiheit im gesamten Reich. Sie standen nach dem Historiker Walter Schlesinger aber noch unter der Immunität des Klosters, weshalb die Marktsiedlung nicht als Stadtgründung angesprochen werden könne.45 Eine Stadt ist erstmals im ältesten erhaltenen Zinsregister des Klosters zu fassen. Es wird auf den Beginn des 13. Jahrhunderts datiert und listet fünfzehn Personen de civitate auf. 46 Diese civitas wird allgemein mit der Planstadt gleichgesetzt, während die Marktsiedlung bislang nicht lokalisiert werden konnte. Zu ihrem Standort gibt es zahlreiche Spekulationen.47 Die ältere Forschung vor Schlesinger verband den stellenweise unregelmässigen Grundriss der Planstadt mit älteren, vorplanstadtzeitlichen Siedlungsstrukturen und identifizierte sie mit der Marktsiedlung.48 Walter Schlesinger sah 1952 keinen Anhaltspunkt aus dem Marktprivileg überhaupt eine Marktsiedlung abzuleiten. Er deutete die Plananlage als – nicht überlieferten – städtischen Gründungsakt, den er aufgrund seiner Unregelmässigkeit als früh ansprach. Im Vergleich mit anderen pleißenländischen Städten schrieb er die Gründung Friedrich Barbarossa zu und datierte sie auf 1165.49 Der Historiker Karl Heinz Blaschke lokalisierte hingegen 1967 die Markt- bzw. Kaufleutesiedlung ausserhalb der Planstadt, in der Nähe der Chemnitzerfurt um die Nikolaikirche (Abb. 4,2),50 da seine Forschungen den unmittelbaren Zusammenhang zwischen NikolausPatrozinien, dem Schutzheiligen der Kaufleute, und den frühen Kaufleutesiedlungen aufgezeigt hatten.51 Schlesingers Datierung der Gründungsstadt wurde in den 1960er Jahren von dem Archäologen Heinz-Joachim Vogt in Frage gestellt, da er im Bereich der Planstadt vor dem 13. Jahrhundert keine wesentlichen archäologischen Befunde wie Funde antraf.52 Ebenso wurde 2002 der Umkreis der Nikolaikirche als Standort der Marktsiedlung von archäologischer Seite ausgeschlossen, da keine in diese frühe Zeit gehörenden archäologischen Befunde oder Funde die These bestätigen konnten.53 In Reaktion darauf hielt der Historiker Manfred Kobuch 1983 zwar an der von Schlesinger durch Analogieschlüsse postulierten Gründung der Rechtsstadt durch Friedrich Barbarossa fest, meinte aber, es müsste sich folglich bei der Planstadt in der Talaue um eine Stadterweiterung, vermutlich Philipps von Schwaben (1198– 1208), handeln, während die Gründungsstadt an anderer Stelle liegen müsse.54 Gegen eine Gleichsetzung der von Schlesinger postulierten Gründungsstadt Barbarossas mit der Planstadt spräche neben der archäologischen Datierung die Größe der Planstadt von 30 ha, die im Vergleich Buch SKAM 36.indd 93 93 mit anderen Gründungsstädten des 12. Jahrhunderts ungewöhnlich gross sei, des weiteren ihr Grundriss, der erst charakteristisch für die Zeit um (bzw. nach) 1200 sei. Ferner erkläre sich die kleine Flur der Planstadt mit ihrer Errichtung erst nach der bäuerlichen Aufsiedlung der Region während der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, als keine grösseren Landflächen für das Umland der Stadt mehr vorhanden waren.55 Den Zeitpunkt des Gründungsaktes korrigierte Kobuch in die Spätphase der Regierungszeit Friedrich Barbarossas, in die Jahre nach 1170.56 Im Gegensatz zu Schlesinger ging Kobuch von der Existenz der Marktsiedlung aus und lokalisierte sie im hochwasserfreien Areal um die Johanniskirche (Abb. 4,3).57 Verschiedene Indizien sprachen nach Kobuch dabei für eine ältere Zeitstellung von Kirche und Platz. Zum einen sei es die hohe Bedeutung, die der Johanniskirche im 13. Jahrhundert zukam. So wird sie 1264 explizit als Kirche der Stadt ausserhalb der Mauern bezeichnet und noch vor der Marktkirche (innerstädtische Jakobikirche) genannt.58 Die Patronatsrechte nahm bis 1264 Margarete wahr, Tochter Friedrich II. und Ehefrau des wettinischen Landgrafen Albert. Da das Kaiserhaus im pleißenländischen Reichsterritorium in Dörfern und für Kaufleute keine Kirchen stiftete und die Kirche der älteren Marktsiedlung auf Klostergrund gestanden haben müsse, konnte nach Kobuch St. Johannis nur als Stadtkirche errichtet worden sein.59 Die Zugehörigkeit von drei Rodungsdörfern der Zeit nach 1160 zur Pfarrei St. Johannis deute nach Kobuch ebenfalls auf ein hohes Alter der Kirche. Ferner spräche die topographische Bezeichnung «Sitzeplan» in 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 Schlesinger 1952, 24–25. Schlesinger 1952, 10 Anm. 2, 25–26. Ausführlich dazu bis 1983: Kobuch 1983, 139–144. Schlesinger 1952, 59–79; Fassbinder 2006, 14–15. Bernstein 1927/28, bes. 50 (Langgasse, Herrengasse und Johannisvorstadt), Laudeley 1933/34, 6–18 (vor 1143 Händlertreffpunkt auf dem Kapellenberg bei der Nikolaikirche, identifiziert die Planstadt mit der Marktsiedlung von 1143). Schlesinger 1952, 79–97. Blaschke 1967, 282, 314, 324–326; ders. 2002, 32; Kobuch 1983, 143–144. Blaschke 1967, 273–337. Vogt 1969, 251–253; ders. 1990, 14–15. Kobuch 2002, 26; Geupel 2002, 119, 127 Anm. 76. Kobuch 1983, 151–157. Kobuch 1983, 145–146; ders. 2002, 28–31. Als weitere Begründung seiner These führt er 2002 an, dass die Trockenlegung der sumpfigen Talaue erst mit der Einführung der wasserbautechnischen Kenntnisse im Pleissenland im 13. Jahrhundert durchgeführt worden sein konnte. Kobuch 1983, 147–148. Tritt in der archivalischen Überlieferung seit dem 15. Jahrhundert als Vorstadt auf (Kobuch 1983, 148). Cod. dipl. Sax, II/6, Nr. 2, S. 2 (… ius patronus, quod in sancti Johannis extra muros ac forensi in civitate Kemniz ecclesiis habuimus, …). Schlesinger 1952, 66. Kobuch 1983, 148–150; ders. 2002, 28–29. 14.11.2009 14:54:12 Uhr 94 Gegründet & geplant Abb. 5 Chemnitz. Archäologisch nachgewiesene Bebauung um die Mitte des 12. Jahrhunderts (schwarz). Abb. 6 Chemnitz. Archäologisch nachgewiesene Bebauung seit dem zweiten Drittel (?) des 12. Jh. bis um 1200 (schwarz), ältere, Bebauung (grau). unmittelbarer Nähe der Johanniskirche für einen älteren Marktplatz, da Plätze mit der Bezeichnung Plan «vielerorts als Stätten frühen Marktverkehrs und als Zentren frühstädtischer Siedlungen» nachzuweisen seien.60 Kobuch sah also in der Chemnitzer Geschichte eine mehrstufige Stadtentwicklung, in der er den Zusammenhang zwischen Gründungs- und Planstadt auflöste: Auf die Gründung der Marktsiedlung von 1143, die er im Umfeld der Nikolaikirche lokalisierte, folgte die Gründung einer unbefestigten Rechtsstadt nach 1170 um die Johanniskirche, die im frühen 13. Jahrhundert in die Talaue verlegt und als Planstadt errichtet wurde.61 2002 modifizierte er die These. Den Rechtsstatus der von Schlesinger angenommenen Stadtgründung Barbarossas bei der Johanniskirche, an der er schon 1983 Zweifel geäussert hatte,62 revidierte er. Er stellte diese Gründung durch Barbarossa zwar nicht in Frage, sprach sie aber als frühstädtische Phase an, während erst mit der Neugründung der Planstadt in der Talaue der Status einer Vollstadt mit vollem Stadtrecht erreicht worden sei.63 Ein Stadtrecht bzw. ein volles Stadtrecht wurden sowohl von Schlesinger als auch Kobuch vorausgesetzt, obwohl es nicht überliefert worden ist.64 Kobuch verband damit die Planstadt wieder mit der Gründungsstadt, in dem er erst die Rechtsstadt als «vollwertige» Stadt anerkannte. Im selben Kolloquiumsband (2002), in dem der Historiker Kobuch sein mehrstufiges Stadtentwicklungsmodell modifizierte, betrachteten die Archäologen Klaus Wirth und Volkmar Geupel die Siedlungsentwicklung von Chemnitz aus archäologischer Sicht.65 Nach den jüngsten archäologischen und bauhistorischen Befunden begann die systematische Besiedlung der Planstadt im letzten Viertel des 12. Jahrhunderts. Ältere bauliche Strukturen – zwei Schwellriegelbauten und ein Backofen – liessen sich bislang nur im nordöstlichen Bereich der Planstadt nachweisen (Abb. 5). Eines der Häuser ist nach einem Dendrodatum zwischen 1130 und 1150 errichtet worden. Die Bauten standen erhöht auf einer Bank aus Flussschotter über der sumpfigen Talaue und werden von der Auswerterin Frauke Fassbinder als Gehöft ohne baulichen Bezug zur späteren Planstadt angesprochen. Die Bauten wurden vor, vielleicht erst bei der Errichtung der Stadtmauer abgerissen.66 Buch SKAM 36.indd 94 60 61 62 63 64 65 66 Kobuch 1983, 150–151. Kobuch 1983, 157–158. Kobuch 1983, 147 Anm. 13. Kobuch 2002, 32. So auch Kobuch 2002, 32. Kobuch 2002; Wirth 2002. Kobuch geht in seinem Aufsatz aber nicht auf die archäologischen Ergebnisse von Wirth ein, sondern zitiert stattdessen den Archäologen Volkmar Geupel, der aber im selbigen Band (Geupel 2002, 118) eine ältere Datierung der Stadtanlage in die Regierung der Spätphase Friedrich Barbarossas oder Heinrich VI. wie Wirth vertritt. Zur archäologischen Siedlungsentwicklung ebenfalls Fassbinder 2006, aber ohne Einarbeitung des Tagungsbandes von 2002 (siehe Kobuch 2002; Geupel 2002; Wirth 2002). Fassbinder hängt ihre Interpretation und Datierung stark an die historischen Auslegungen (vor allem Schlesinger und Kobuch) und archivalischen Quellen (bspw. Erstnennung der Stadtmauer). Fassbinder 2006, 67, 82, 87, 179. 14.11.2009 14:54:12 Uhr Gegründet & geplant Seit dem letzten Viertel des 12. Jahrhunderts wurde die Planstadt realisiert (Abb. 6). Einzelne Schritte des Stadtausbaus lassen sich mit Hilfe der verschiedenen Datierungsmethoden rekonstruieren: Das älteste nachgewiesene Bauwerk der Planstadt ist die Pfarrkirche St. Jakobi. Ihr ergrabener erster Bau wird stilistisch in das letzte Drittel des 12. Jahrhunderts datiert.67 Daneben stellen bislang Strukturen der Zeit um 1200 die ältesten Befunde dar. Es handelt sich um Lehmentnahmegruben, Abfallgruben, Kulturschichtreste und Gruben mit mehrschichtigen Holzfundamenten. Die ergrabene älteste Holzfundamentierung am Holzmarkt (Verlängerung der Johannisgasse, heute Rosenhof 2/Markt 19) datiert dendrochronologisch ins späte 12. Jahrhundert (1192d). Zahlreiche Hölzer mit Fälldatum aus den 1180er Jahren, die für die Errichtung von Häusern und Strassen verwendet wurden, legen aus archäologischer Sicht ebenfalls eine einsetzende Besiedlung in dieser Zeit nahe, da eine ausschliesslich sekundäre Nutzung wenig wahrscheinlich ist.68 Ferner wird der heute noch stehende untere Teil des Roten Turms stilistisch in diesen Zeitraum gesetzt. Allerdings schwanken die Angaben zwischen dem späten 12. Jahrhundert, der Zeit um 1200 und dem ersten Drittel des 13. Jahrhunderts.69 Die Stadtmauer ist gegen den Roten Turm gesetzt worden, muss folglich jünger sein. Urkundlich wird sie erstmals 1264 erwähnt.70 Seit dem Beginn des 13. Jahrhunderts nehmen die dendrodatierten archäologischen Befunde, wie Holzhäuser und Strassenunterbauten zu (Abb. 7). Die Strassen wurden – sicher aufgrund des sumpfigen Untergrunds – aufwändig fundamentiert. Gräben entlang der Strassenseiten sorgten für die Entsorgung des Schicht- und Oberflächenwassers.71 Im ersten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts wurde die Lange Gasse in dieser Weise erbaut. Gleichzeitig sind im nördlich angrenzenden Bereich drei Holzhäuser archäologisch nachgewiesen. Ein oder zwei Jahrzehnte später wurde die im rechten Winkel von der Lange Gasse abzweigende Kronengasse angelegt. Im gleichen Zeitraum setzte nach den derzeitigen Befunden im Bereich nördlich der Pfarrkirche St. Jakobi die Anlage und Bebauung der Strassen ein.72 In dem oben genannten Kolloquiumsband kamen also Historiker und Archäologen in der Interpretation der Befunde zu gegensätzlichen Ergebnissen bzw. widersprachen sich. Die Lokalisierung der Marktsiedlung bei der Nikolaikirche schlossen die Archäologen aus, da bisher in ihrem Umkreis weder Befunde noch Funde einer frühen Buch SKAM 36.indd 95 95 Abb. 7 Chemnitz. Archäologisch nachgewiesene Bebauung seit dem 13. Jahrhundert (schwarz), ältere, Bebauung (grau). Zeitstellung angetroffen wurden,73 während die Historiker auf diesen Standort beharrten.74 Die archäologischen Befunde des 12. Jahrhunderts in der Planstadt wurden unterschiedlich beurteilt: Für den Historiker Manfred Kobuch waren die archäologischen Erkenntnisse nicht «wesentlich»,75 der Archäologe Klaus Wirth war hingegen der Meinung, dass die Strassen der Planstadt «auf älteren Siedlungsspuren, d. h. auf besiedeltem Gelände errichtet wurden».76 Auf Grundlage der unterschiedlichen Bewertung der archäologischen Quellen ist für den Historiker die Gründungsstadt Friedrich Barbarossas nicht identisch 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 Gegen die Datierung ohne überzeugende Argumentation Kobuch 1983, 154–156; ders. 2002, 31–32. Er wollte den Sakralbau zur Aufrechterhaltung seiner These um 1200 datieren. Diese späte Datierung ist stilkritisch aber mehr als fragwürdig: Magirius 1989, 63; Geupel 2002, 121; Denkmale 1978, 398–400. Wirth 2002, 106. Er wird als Hof eines Ministerialen interpretiert. Geupel 2002, 119; Herling 1998, 175–182; Wirth 2002, 104. Cod. dipl. Sax. II/6, Nr. 2, S. 2. Wirth 2002, 88: «Die Straßen bestanden aus einer Fundamentlage aus Rundhölzern und teilweise sekundär verwendeten Bauholz mit aufliegenden Ästen, Reisigbündeln und Holzabfällen, die von Rollierungen aus unterschiedlich großen Feld- und Kieselsteinen bedeckt waren. Oberflächen- und Schichtwasser floß in Sickergräben, die die Straßenkörper beidseits flankierten und deren Wände man mit Flechtwerk ausgekleidet hatte.» Wirth 2002; Fassbinder 2006. Blaschke 2002, 22; Kobuch 2002, 26. Geupel 2002, 119. Kobuch 2002, 31. Wirth 2002, 105. 14.11.2009 14:54:13 Uhr 96 mit der Planstadt.77 Die Archäologen meinten zwar, dass die dendrochronologischen Daten der archäologischen Befunde dieser These entsprächen, aber aus der grossen Anzahl von Hölzern mit Fälldatum aus den 1180er Jahren sowie der Datierung der Jakobikirche sei doch Friedrich Barbarossa oder Heinrich VI. als Initiator der Stadtgründung in der Talaue anzusehen.78 Letztendlich war für Kobuch Chemnitz «eine Planstadt in der späten Form des Meridiantyps mit ausgeprägter Querachse im Zuge des Marktes, deutlichen rechten Winkeln und strenger Parallelität der Strassen».79 Dieser Auffassung widersprach Wirth: «Die Summe der Einzelbeobachtungen widerspricht einer kompletten, alle Bereiche einer Stadt umfassenden Plananlage des ausgehenden 12./frühen 13. Jahrhunderts und der Zuweisung zu einem vordefinierten Meridiantyp».80 Von archäologischer Seite wurde deshalb ein sukzessiver Ausbau der Planstadt über ein, zwei Jahrhunderte vorgezogen.81 IV. Eine unüberbrückbare Differenz? Wie kommt es zu diesen sich widersprechenden Aussagen? Liegt es daran, dass beide Disziplinen etwas zusammen bringen wollen, was nicht oder nicht immer zusammen gehört? Archäologie und Geschichte meinen mit ihren unterschiedlichen Quellen und Methoden dasselbe zu beschreiben, die gegründete Planstadt bzw. die geplante Gründungsstadt, deren hypothetische Zusammengehörigkeit sie – als einen sich mehr oder weniger bedingenden Vorgang betrachtend – nicht in Frage stellen. Von historischer Seite wird nicht selten die Aussagefähigkeit archäologischer Quellen geleugnet, während sich Archäologen oftmals darauf beschränken, einfach Gegründet & geplant die Interpretationen der Historiker zu widerlegen, ohne ihre eigenen Quellen selbst zu erklären und damit ernst zu nehmen. Im Falle von Chemnitz widerlegen zwar die Archäologen die historische Datierung, stellen aber weiterführend die auf ihr fussenden historischen Modelle nicht in Frage. Ebenso wird in Heidelberg das Modell der Gründungs-/Planstadt nicht wirklich hinterfragt. In Konsequenz der bisherigen Erkenntnisse beider Disziplinen müsste die historisch zu fassende Stadt des späten 12. Jahrhunderts identisch mit der archäologisch ergrabenen Siedlung um die Peterskirche sein. Diese frühe Stadt müsste aber nicht als präurban, sondern als (früh)städtisch angesprochen werden. Das Phänomen der Planstadt wäre damit keine Voraussetzung der Stadtwerdung, wie von historischer Seite postuliert, sondern stellt, wie von Achim Wendt beschrieben, erst einmal nur eine städtebauliche Zäsur dar. Planstädte sind keine Erfindung des 12. und 13. Jahrhunderts.82 Ältere Planstädte oder Stadtplanungen sind beispielsweise in Leopoli, das heutige Cencelle, Winchester oder dem planmässigen Ausbau Haithabus ergraben, in literarischen Vorstellungen von Idealstädten83 überliefert oder in den Kathedralstädten des 10. und 11. Jahrhunderts untersucht.84 Was sich aber um 1200 zu ändern scheint, ist die Wahrnehmung der Zeitgenossen: Während zuvor die Gestalt einer Stadt noch nicht fest definiert zu sein scheint, entwickelt sich im 12. Jahrhundert eine feste Vorstellung davon, wie eine Stadt auszusehen habe. Sie wird im 13. Jahrhundert zu einem «must have», zu einem Kriterium für Stadt, das man haben will oder haben muss, um sich als Stadt zu fühlen und von aussen als solche anerkannt zu werden. 77 78 79 80 81 82 83 84 Buch SKAM 36.indd 96 Kobuch 2002, 28–29, 32. Wirth 2002, 107; Geupel 2002, 122. Kobuch 2002, 31. Wirth 2002, 105. Geupel 2002, 121; Wirth 2002, 105; Fassbinder 2006, 189. Mann 1988, 681–687. Kugler 1986; Rosenau 1974. Hirschmann 1998. 14.11.2009 14:54:13 Uhr Gegründet & geplant Bibliografie Quellen Cod. dipl. Sax. II/6 – Hubert Ermisch (Hg.), Codex diplomaticus Saxoniae regiae. 2. Hauptteil, Band 6: Urkundenbuch der Stadt Chemnitz und ihrer Klöster, Leipzig 1879. 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Selbst wenn die Bauten (Gebäude, Stadtmauern, Türme etc.) oder auch Zeugnisse aus dem Alltagsleben vergangener Epochen obertägig oft nur bruchstückhaft erhalten sind, zeichnet viele dieser Städte heute ihre reiche, nicht selten hervorragend konservierte archäologische Substanz aus. Ausgrabungen in zahlreichen Stadtkernen Baden-Württembergs haben dies in den vergangenen Jahren durch Aufsehen erregende Funde und Befunde deutlich gemacht. Der archäologische Beitrag zur Stadtgeschichte reicht vielfach vor die ältesten schriftlichen Überlieferungen zurück und birgt häufig entscheidende Informationen über die Entstehung einer Stadt und ihre frühe Geschichte. Für die Folgezeit ergänzen und verdeutlichen die Bodenzeugnisse Nachrichten aus Schriftquellen und können so zu einem neuen Verständnis historischer Prozesse führen. Den im Boden tradierten Spuren kommt innerhalb historischer Siedlungsareale eine herausragende Bedeutung als Geschichtsquelle zu. Die Bodenurkunden sind vielfältigen Eingriffen ausgesetzt, die ihre Aussagekraft schmälern oder sie gar zerstören. Angesichts erheblicher Verluste ist der Schutz dieser «unterirdischen Stadtgeschichte» von grosser Bedeutung. Ausgrabungen, wie sie in vielen Städten in den letzten Jahren durchgeführt wurden, sind nur die zweitbeste Lösung, denn auch sie zerstören – wenn auch kontrolliert – den archäologischen Bestand und damit historische Quellen. Die unter wissenschaftlichen und heimatgeschichtlichen Zielsetzungen durchgeführten archäologischen Grabungen sind immer wieder Anlass zu Konflikten zwischen Stadterneuerung, Bauherren und Archäologischer Denkmalpflege – insbesondere dann, wenn es nicht möglich war, die archäologischhistorischen Zielsetzungen langfristig in Planungsverfahren einzubinden. Anfang der 1990er Jahre wurde der erste Erhebungsschritt des «Archäologischen Stadtkatasters» abgeschlossen und den Städten übergeben. Bei diesem Bear- Buch SKAM 36.indd 99 beitungsstand waren die archäologisch bedeutsamen Flächen innerhalb der mittelalterlichen Städte und in ihrem unmittelbaren Umfeld nur summarisch ausgewiesen worden. Für die Erstellung eines differenzierten Katasterwerkes musste eine vertiefte Bearbeitung erfolgen. Voraussetzung für den qualifizierten Schutz und Erhalt der archäologischen Kulturdenkmale und zugleich Bedingung für eine Konfliktminimierung ist eine möglichst umfassende Kenntnis über Lage und Bedeutung der archäologischen Flächen innerhalb mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Stadtareale. Hierzu werden archäologische Funde und Befunde, historische Schrift- und Bildquellen, Karten und Pläne sowie kommunale Bauakten ausgewertet und in Text und thematischen Plänen zusammengefasst. Als Ergebnis erhalten sowohl die Stadtplanung als auch die Denkmalpflege einen qualifizierten Überblick über die archäologisch relevanten Zonen. Die Erhebungen können bei der Aufstellung von Flächennutzungs- und Bebauungsplänen, projektierten Stadtteilsanierungen und sonstigen Planungsverfahren als qualifizierte Unterlage herangezogen werden. Ein Stadtkataster bildet die Grundlage, um archäologisch relevante Bereiche im Rahmen von denkmalbezogenen Stellungnahmen schnell und fachlich hinreichend zu benennen. Für die Denkmalpflege stehen dabei der Schutz und Erhalt der unterirdischen Geschichtszeugnisse im Vordergrund. Daher besteht bei jeder in den Boden eingreifenden Baumassnahme die Notwendigkeit der frühzeitigen Abstimmung mit der Archäologischen Denkmalpflege. Auf diesem Weg sollte es gelingen, die Belange der Stadterneuerung und der Denkmalpflege einvernehmlich aufeinander abzustimmen, dass künftig die «Urkunden im Boden» entsprechend ihrer Bedeutung als oft einmalige Quellen zur Stadtgeschichte gewürdigt werden. 1 Die konsequente Zusammenarbeit von Archäologen und Historikern ist innerhalb des Projektes «Archäologischer Stadtkataster Baden-Württemberg» Programm. Die Arbeitsweise kann am aktuellen Beispiel Offenburg gezeigt werden. 1 Bräuning 2000. 14.11.2009 14:54:13 Uhr 100 Ausgangssituation bei der Bearbeitung des Archäologischen Stadtkatasters Offenburg Bereits mit Beginn des Stadtkataster-Projekts stand Offenburg auf der Prioritätenliste, da diese historisch bedeutsame Stadt in der südlichen Oberrheinebene, die sich dynamisch entwickelt, aus archäologischer Sicht ein weitgehend unbeschriebenes Blatt war. Die Frage nach den Anfängen der Stadt Offenburg steht seit dem beginnenden 19. Jh. im Mittelpunkt der stadtgeschichtlichen Forschung, ohne dass bisher eindeutig geklärt werden konnte, wer Offenburg wann gründete.2 Erstmals vertrat Johann Baptist Kolb im frühen 19. Jh. die These von der Gründung Offenburgs durch die Zähringer: Der sagenhafte königliche Missionar Offo aus England soll nach einer aus dem 16. Jh. überlieferten Sage Offenburg im Jahr 605 als Niederlassung für Mönche gegründet haben. Herzog Berthold III. von Zähringen (1111–1122) habe begonnen, aus der (nicht nachgewiesenen) Burg dieses Offo und aus Kinzigdorf eine Stadt auszubilden, die Herzog Konrad II. von Zähringen (l122–1152) mit Befestigungsanlagen versehen habe.3 Die These von der Zähringer-Gründung, für die es keine urkundlichen Nachweise gibt, prägte bis in jüngste Zeit die Diskussion. In den 1930er Jahren gaben ihr Ernst Hamm, Theodor Mayer und Karl Gruber neue Impulse.4 Otto Kähni stellte in einem 1953 erschienenen Aufsatz die Gründung Offenburgs ebenfalls in einen neuen Zusammenhang mit der Absicherung der zähringischen Hausmacht. Allerdings setzte er das Gründungsdatum schon in die 2. Hälfte des 11. Jh., wofür er eine Schenkungsnotiz in einer um 1101 ausgestellten Papsturkunde heranzieht, die als Ausstellungsort in loco Offinburc nennt; hier wird zugleich der Ort erstmalig erwähnt.5 Die von Kähni angeführte Schenkungsnotiz wurde 1969 von Hans Harter aufgrund paläographischer wie inhaltlicher Merkmale allerdings auf einen deutlich späteren Zeitpunkt – wahrscheinlich um 1139, datiert und damit der Gründungszeitraum in der ersten Hälfte des 12. Jh. bestätigt.6 Eine These über die Anfänge der Stadt Offenburg, die der Zähringer-Gründung rigoros widersprach, stellte 1968 Karlleopold Hitzfeld auf.7 Davon ausgehend, dass der Grundherr auch immer der Stadtgründer gewesen sei, versuchte er nachzuweisen, dass nur der Strassburger Bischof als Stadtgründer in Frage komme, was sich allerdings durch nichts belegen lässt. 8 Ein allgemeines Problem der Diskussion um die Gründung Offenburgs Buch SKAM 36.indd 100 Archäologischer Stadtkataster Offenburg ist die mangelhafte Quellenlage. Weder für die Zähringer noch für den Strassburger Bischof als Gründer liegen urkundliche Belege vor. Unabhängig von der Person des Gründers – Strassburger Bischof oder der Zähringerherzog – kann immerhin als gesichert gelten, dass sich die frühmittelalterliche Siedlung im 12. Jh. zu einem Marktort mit lokaler Bedeutung entwickelt hatte, dessen Ausbau bis zur Stadtwerdung sich allerdings noch längere Zeit hinziehen sollte. Die Ersterwähnung Offenburgs in einer Schenkungsnotiz um 1101 (in loco Offinburc)9 bezeichnet lediglich die Siedlung, ohne dass mit dem Begriff locus ein Hinweis auf dessen rechtliche Qualität oder eine Siedlungsform verbunden wäre. Aus archäologischer Sicht liess sich bis vor einigen Jahren ausser einigen Fundbeobachtungen zur römischen Vergangenheit der Stadt, die grösstenteils Batzer in den 1930er Jahren machte, nur wenig zur Stadtgründung und -entwicklung Offenburgs beitragen. Dem Stadtgrundriss von Offenburg ist bei der Diskussion zur Gründungsgeschichte der Stadt schon früh der Charakter einer Geschichtsquelle beigemessen worden. Die zu keinen brauchbaren Ergebnissen führende und daher bereits abgeschlossene Diskussion um das «Zähringerkreuz» wurde jüngst erneut aufgenommen. Klaus Humpert versuchte die geometrische Konstruktion der Stadt auf eine Vermessung zurückzuführen, der ein Basisgerüst zugrunde liegt.10 Ihm zufolge soll ein im Längenverhältnis frei (beliebig?) gewähltes Basisrechteck den Ausgangspunkt für die weiteren Messungen bilden. Als «Gründungsachse» soll nach Humperts Meinung die Flucht entlang der Hauptstrasse festgelegt worden sein. Durch mehrere Zirkelschläge konstruiert er darauf ein Rechteck von 1400 Fuss Länge und 1100 Fuss Breite, das sich an drei Eckpunkten annähernd mit ehemaligen Standorten von Stadttoren deckt. Diese Konstruktion gliedert er durch Querachsen, Mittelachsen und Diago- 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Eine Zusammenfassung der Forschungsdiskussion um die Gründung Offenburgs bei Hillenbrand 1990, 11–30 mit allen relevanten Literaturnachweisen. Kolb 1816, 19–35. Gruber 1937, 33f.; Mayer 1935; Neudruck in: Mayer 1959, 350ff.; Hamm 1932; Hillenbrand 1990, 19ff. WUB 1, Nr. 260; vgl. Kähni 1953, bes. 217ff. Harter 1969, darin speziell zur Datierung 228ff. Hitzfeld 1968. Eine kritische Beurteilung der These Hitzfelds findet sich bei Hillenbrand 1990, 24f. Kähni 1953. Humpert/Schenk 2001, bes. 200–253. 14.11.2009 14:54:13 Uhr Archäologischer Stadtkataster Offenburg 101 Abb. 1 Titelblatt des Archäologischen Stadtkatasters Offenburg. nalen, um zu einer Streifeneinteilung zu gelangen, die in etwa den Baublöcken der Stadterweiterung entspricht. Durch aufwendige Berechnungen wird der (massgeblich von der Topographie bestimmte) Verlauf der Stadtbefestigung nachvollzogen, wobei teilweise Baufluchten des frühneuzeitlichen Wiederaufbaus als Fixpunkte herangezogen werden, die nicht den mittelalterlichen Gegebenheiten entsprechen. Nach Humpert soll erst nach «der Ausrichtung der Stadtanlage im Raum und der Festlegung des Befestigungsrings die Hauptstrasse als erste Binnenstruktur im Grundriss der neuen Stadt bestimmt» worden sein.11 Die auf kompliziertem Weg gewonnene geradlinige Geometrie des Grundrisses wird durch Bogenradien überformt und der Situation im Stadtbild angepasst. Abweichungen von der angeblich festgelegten geometrischen Struktur werden als «spielerische Varianten» erklärt,12 was den Sinn einer Vermessung grundsätzlich in Frage stellt. Zu diesem in der Öffentlichkeit stark rezipierten Stadtgründungsentwurf ist grundsätzlich kritisch anzumer- Buch SKAM 36.indd 101 ken, dass zur Berechnung des Vermessungsmodells der aktuelle Katasterplan herangezogen wurde, der selbst schon erhebliche Abweichungen zum ältesten masshaltigen Stadtplan von Nussbaum aus den Jahren 1848–50 aufweist (Abb. 2). Der aktuelle Katasterplan kann nicht, wie postuliert, in die Zeit vor dem Stadtbrand von 1798 zurückprojiziert werden, da durch archäologische Aufschlüsse und Bauforschungen teilweise erhebliche Veränderungen in den historischen Baufluchten offensichtlich geworden sind. Der Nachweis von planerischen Elementen im Stadtgrundriss ist keineswegs so spektakulär wie von Humpert programmatisch herausgestellt; das Fluchten und die Streckenmessung bei Planungen im Mittelalter sind seit langem wissenschaftliches Allgemeingut und unbestritten. Die Anlage eines Basisrechtecks als Grundlage eines Messsystems für eine Stadtgründung ist dagegen reine Fiktion und durch keine historischen Quel- 11 12 Ebd., 231. Ebd., 253. 14.11.2009 14:54:15 Uhr 102 Archäologischer Stadtkataster Offenburg Abb. 2 Plan der Stadt Offenburg von Geometer Johann Adam Nussbaum, aufgenommenen zwischen 1848 und 1850 (Stadt Offenburg). Buch SKAM 36.indd 102 14.11.2009 14:54:16 Uhr Archäologischer Stadtkataster Offenburg len belegt. Humperts Feststellung, dass bei dem von ihm bearbeiteten Städten alle Vorstädte und die Hofstätteneinteilung Bestandteil der Ersteinmessung sind und die Tortürme in die Gründungsphase einer Stadt gehören,13 ist schlicht ahistorisch. Sein Modell der Siedlungsentwicklung Offenburgs beruht auf willkürlichen Setzungen, es ignoriert die topographische Situation sowie die chronologische Dimension der Stadtentstehung und ist trotz aufwendiger Illustrierung nicht nachvollziehbar. Die Bearbeitung des Archäologischen Stadtkatasters Offenburg Ein erster archäologischer Stadtkataster wurde nach etwa neunmonatiger Bearbeitung durch den Verfasser und Uwe Schmidt 1998 als Typoskript der Stadt Offenburg übergeben. In der Praxis stellte sich rasch heraus, dass es ein wichtiger Impuls für die lokale Stadtgeschichtsforschung war.14 In der Folge kam es aufgrund einer grösseren Sensibilität zur konsequenten archäologischen Begleitung von innerstädtischen Baumassnahmen in einer Zeit mit erheblichem Veränderungsdruck im Stadtgebiet. Im Jahr 2005 wurde daher angeregt, den aktualisierten Stadtkataster nach den mittlerweile standardisierten Kriterien der Reihe zu drucken. Dies kam aufgrund des grossen Zuwachses an Quellen sowohl im archäologischen als auch im historischen Teil einer Neubearbeitung gleich. Innerhalb der Schriftenreihe «Archäologischer Stadtkataster BadenWürttemberg» erschien der Offenburger Kataster 2007 als Band 33 (Abb. 1).15 Kernstück der Arbeit sind sechs Karten, die im Massstab 1:2500 vorgelegt sind. Karte 1 übernimmt die Gliederung des Untersuchungsgebietes und signiert die archäologisch relevanten Bereiche. Karte 2 weist die vor- und frühgeschichtlichen sowie die mittelalterlichen/frühneuzeitlichen Fundstellen aus. In Karte 3 sind alle lokalisierbaren historischen Gebäude eingetragen: Befestigungsanlagen, städtische und kirchliche Einrichtungen, Einrichtungen der Sozialfürsorge und des Gesundheitswesens, Einrichtungen der städtischen Infrastruktur (Wasserversorgung und Verkehr), Ökonomiegebäude und wirtschaftlich genutzte Bauten (z.B. Mühlen und Gasthäuser). Bei der Bodeneingriffskarte (Karte 4a) wird eine exakte Bestandsaufnahme der erhaltenen archäologischen Substanz durchgeführt. Dabei wurden Bodeneingriffe (Unterkellerungen, Tiefgaragen etc.) aus den kommunalen Bauakten und Archivbeständen erhoben. Dem Offenburger Kataster ist als weitere Karte eine Zusammenstellung der historischen Keller beigefügt (Karte 4b), weil diese die Stadtstruktur vor der Zerstö- Buch SKAM 36.indd 103 103 rung 1689 spiegeln. Karte 5 ist eine auf der Grundlage des heutigen Katasterplans erstellte Entzerrung des zwischen 1848 und 1850 von Geometer Johann Adam Nussbaum aufgenommenen Plans der Stadt Offenburg. Dieser Plan tradiert weitgehend unverändert die historischen Strukturen des Wiederaufbaus nach 1689 und die zugrunde liegenden mittelalterlichen Strukturen (Abb. 2). In einem Textteil werden diese Karten erläutert. Im Untersuchungsbereich wurden insgesamt 83 archäologische Fundstellen (Lesefunde, Sondagen, Plangrabungen) erfasst, die vom Neolithikum über die römische Epoche bis zu einem Schwerpunkt in Mittelalter und Neuzeit reichen. Der zweite Grundpfeiler ist die Erhebung zur historischen Topographie der Stadt. Während sich die erste Bearbeitung vorwiegend auf publiziertes Material stützte, unternahm Andre Gutmann die Bearbeitung der Ratsprotokolle, unter der Fragestellung, ob diese Angaben zur Baugestalt oder zur Lokalisierung von historischen Liegenschaften in der Stadt enthalten. Als besonders ergiebig erwiesen sich dabei die so genannten Kontraktenprotokolle, in denen Vertragsabschlüsse protokolliert wurden. In den frühneuzeitlichen Schriftquellen wurden oftmals zur Ortsbeschreibung benachbarte Anwesen genannt, die für unsere Fragen relevant waren. Auf diesem Weg konnten insgesamt 147 Objekte für die historische Topographie erfasst und zum grossen Teil auch kartiert werden. Diesen positiven Erhebungen der archäologischen und historischen Substanz wird eine Karte von Bodeneingriffen gegenübergestellt, die auf der Auswertung von Bauakten fusst. Dies ist notwendig, um Bereiche mit grossflächigen Störungen zu ermitteln. In der Abwägung dieser Erhebungen lassen sich denkmalpflegerisch relevante Bereiche ansprechen. Nicht alle erfasste Bodeneingriffe sind jedoch als «Fehlstellen» anzusprechen, so sind spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Keller ihrerseits als Kulturdenk- 13 14 15 Ebd., 255. Jenisch/Schmidt 1998. Jenisch/Gutmann 2007. Heinrich Meyer, Stadt Offenburg, steuerte viele wertvolle Informationen, insbesondere zu historischen Kellern und bauhistorischen Untersuchungen in der Stadt bei und koordinierte die Zusammenarbeit zwischen Denkmalpflege und der Stadt. Die digitalen Karten wurden von der städtischen Mitarbeiterin Friderike Sandfort umgesetzt. Stadtarchivar Dr. Wolfgang Gall und seine Mitarbeiter unterstützten die Bearbeitung durch Hinweise und die Bereitstellung von Abbildungsvorlagen. Die redaktionelle Bearbeitung des Manuskripts übernahm Valerie Schoenenberg, die Endredaktion und das Layout lag in den Händen von Dr. Alois Schneider und Dr. Birgit Kulessa, Landesamt für Denkmalpflege Esslingen. Den Umschlag hat Brigitte Ruoff, Stuttgart, gestaltet. 14.11.2009 14:54:16 Uhr 104 Archäologischer Stadtkataster Offenburg Abb. 3 Offenburg, Am Marktplatz 1. Römischer Spitzgraben als über 3,5 m tiefe und ca. 5 m breite Verfärbung in der Baugrubenwand. male zu charakterisieren. Insbesondere dann, wenn sich in der Lage von Kellern eine frühere Stadtstruktur ermitteln lässt – im Fall von Offenburg der Strassenverlauf vor der Zerstörung 1689. Der erste masshaltige Plan der Stadt Offenburg des Geometers Nussbaum aus der Mitte des 19. Jh. dokumentiert demnach den Zustand des Wiederaufbaus nach 1689 und lässt sich nur bedingt in eine frühstädtische Zeit zurückprojizieren. Der Stadtkataster Offenburg stellt mittlerweile die viel genutzte planerische Grundlage für denkmalrelevante Verfahren im Stadtgebiet dar. Ergebnisse zur Siedlungsgeschichte Offenburgs Im Offenburger Stadtgebiet wird seit langem eine römische Siedlung vermutet, obwohl bis vor wenigen Jahren nur relativ wenige aussagekräftige Belege vorlagen. Bereits 1615 wurden römischen Funde aus Offenburg geborgen. 1778 gelang die spektakuläre Bergung eines Soldatengrabsteins, 1840 wurde ein römischer Meilenstein entdeckt, der als Beleg für den Bau einer Kinzigtalstrasse im Jahr 73/74 n. Chr. gilt, die von Strassburg (Argentorate) nach Rottweil (Ara Flaviae) führte. Bis 1840 suchte man die römische Siedlung im Westen der Stadt, im Bereich nördlich der Okenstrasse, wo man 1759/60 auf Fundamente stiess, die sich jedoch mittlerweile als Reste der Stadtbefestigung erwiesen. Die Lage und der Charakter der römischen Siedlung in Offenburg waren lange umstritten. Die Deutungen reichten von der Einordnung als Kastell mit Lagerdorf Buch SKAM 36.indd 104 (canabae) über die Vermutung einer dörflichen Siedlung (vicus) bis zur Annahme von mehreren Gutshöfen (villae rusticae) in Streulage. Ein wichtiger Schritt war die systematische Erfassung der 31 bis dahin bekannten römischen Fundstellen im Stadtgebiet durch Manuel Yupanqui.16 Jüngste Untersuchungen schufen mit spektakulären Entdeckungen Klarheit in der bisherigen Diskussion. Die Freilegung eines Spitzgrabens an der Kornstrasse brachte erstmals einen sicheren Beleg für eine römische Wehranlage im Stadtgebiet (Abb. 3). Das Kastell lag demnach unmittelbar am Westrand des Stadthügels an der ebenfalls archäologisch erfassten römischen Strasse bei einer Furt durch bzw. einer Brücke über die stark mäandrierende Kinzig (Abb. 4A). Die Wehranlage des 1. Jh. wurde im 2. Jh. durch eine zivile Siedlung abgelöst, die sich am Kreuzungspunkt dieser Verkehrswege entwickelte. Das römische Strassendorf (vicus) war geprägt durch regelmässige Streifenparzellen, in denen mit der Schmalseite zur Strasse hin orientierte Fachwerkbauten errichtet wurden. Zu einer frühmittelalterlichen Besiedlung Offenburgs liegen bislang nur sehr wenige Erkenntnisse vor. Im Zuge dieser Erfassung konnten nun immerhin einige Fundstellen katalogisiert werden, die sich an der offenbar weiterhin genutzten Römerstrasse aufreihen (Abb. 4B). Bereits 1846 hat man im Südosten der Stadt das merowingerzeitliche 16 Yupanqui 2000. 14.11.2009 14:54:17 Uhr Archäologischer Stadtkataster Offenburg 105 Gräberfeld «Im Krummer» entdeckt.17 Es lieferte Funde des 6. und 7. Jh. n. Chr. und ist ein eindeutiger Beleg für die Besiedlung der Offenburger Gemarkung im Frühmittelalter. Auf oder in unmittelbarer Nähe der alamannischen Siedlung entstand später, möglicherweise im Zuge des fränkischen Herrschaftsausbaus in der Ortenau, ein neuer Verwaltungs- und Wirtschaftsstandort: Das nördlich der heutigen Altstadt liegende Kinzigdorf. Bei verschiedenen Ausgrabungen ergaben sich Hinweise auf diese ab dem 10./11. Jh. in den Schriftquellen nachgewiesene Siedlung. An der Okenstrasse 15 fand sich frühmittelalterliche Keramik und an der Wasserstrasse 10a wurde ein Grubenhaus dieser Zeit erfasst. Die wenigen archäologischen Spuren der Siedlung Kinzigdorf zeigten sich alle nördlich des ehemaligen römischen vicus (Abb. 4B). Im 10. Jh. scheint Kinzigdorf nach den Schriftquellen eine befestigte Siedlung (oppidum) gewesen zu sein und als Mahlstatt (publicus mallus), d.h. Versammlungsort oder Gerichtsstätte, gedient zu haben. Die Siedlung blieb bis 1504 rechtlich und räumlich von Offenburg getrennt, ehe sie durch ein Privileg König Maximilians I. an die Reichsstadt Offenburg überging. Zu diesem Zeitpunkt bestand Kinzigdorf nur noch aus wenigen Gebäuden.18 Losgelöst von der oben dargestellten Diskussion um die Person des Gründers, kann als gesichert gelten, dass sich die frühmittelalterliche Siedlung im 12. Jh. zu einem Marktort mit lokaler Bedeutung entwickelt hatte, dessen Ausbau bis zur Stadtwerdung sich allerdings noch längere Zeit hinziehen sollte. Die Ersterwähnung Offenburgs erfolgte in einer Schenkungsnotiz um 1101 (in loco Offinburc).19 Aus dem Jahr 1148 hören wir dann von der Beilegung eines Rechtsstreits zwischen dem Kloster St. Peter im Schwarzwald und seinen zähringischen Schenkern apud castrum Offinburc.20 Der singuläre Beleg einer Burg Offenburg wurde in der Forschung bislang unterschiedlich gedeutet, ein archäologischer Nachweis einer Burganlage in Offenburg ist bislang nicht zu erbringen. Insofern muss die Frage nach dem castrum Offinburc unbeantwortet bleiben.21 Die Wahl des Ortes für die Verhandlung einer zähringischen Streitsache, unter Vermittlung eines zähringischen Ministerialen und mit Beteiligung weiterer Adliger aus dem zähringischen Umfeld, darf immerhin als Indiz für eine hervorgehobene Stellung der Zähringer in Offenburg bereits Mitte des 12. Jh. gesehen werden. Innerhalb des Stadtgebietes lassen sich die Siedlungsspuren des 12. Jh. nachweisen und räumlich begrenzen (Abb. 4B, 3). Auf den charakteristischen Hof- Buch SKAM 36.indd 105 Abb. 4 Entwicklung des Siedlungs- und Strassengefüges von Offenburg auf der Grundlage archäologischer und kartographischer Befunde. A Römische Zeit 1 Spitzgraben Kastell, 2 Vicus. B Frühmittelalter/ Hochmittelalter 1 Gräberfeld «Im Krummer», 2 Kinzigdorf, 3 Marktgründung an der Langen Strasse. C Frühe Stadt im 12./13. Jh. D Stadterweiterung im 13. Jh. stätten der frühen Stadt stand ein an der Strasse orientiertes, in Holzbauweise errichtetes Haus, das meist (teil-) unterkellert war. Im Hofbereich dieser Anwesen liegen teilweise Brunnen und Wirtschaftsgebäude. Das erste dieser Gebäude wurde an der Vitus-Burg-Strasse erkannt. Mittlerweile fanden sich diese Fachwerkbauten jedoch auch an anderen Stellen in der Stadt. Bei der Grabung an der Lange Strasse wurden gleich mehrere benachbart liegende Holzbauten nachgewiesen, deren Hofstätten durch 17 18 19 20 21 Kähni 1976, 30f.; Wagner 1908, 249. Urkunde aus dem Generallandesarchiv, D 1093 (1504 Aug 21); Kähni 1953, 219. WUB 1, Nr. 260. Der entsprechende Bericht mit der Erwähnung ist im sogenannten «Rotulus Sanpetrinus», einem Schenkungsverzeichnis des 12./13. Jh. aus St. Peter im Schwarzwald, enthalten, vgl. Fleig 1908, 118, Nr. 142. Vgl. auch Hillenbrand 1990, 27f. 14.11.2009 14:54:18 Uhr 106 Archäologischer Stadtkataster Offenburg Abb. 5 Offenburg. Grabungsfläche Kesselstrasse 13 von Nord. Im Hofbereich des ehemaligen Amtsgerichts wurde auf einer Fläche von 450m2 die mittelalterliche und neuzeitliche Bebauung Offenburgs untersucht. Zäune getrennt und im rückwärtigen Bereich durch eine Wirtschaftsgasse erschlossen waren. Vier benachbarte, teilunterkellerte Gebäude lagen auch an der Strohgasse/ Glaserstrasse. Bisher fanden sich Baustrukturen des 12. Jh. nur westlich der Hauptstrasse. Die vermutlich in römische Zeit zurückreichende Trasse der Lange Strasse scheint die wichtigste Strasse des frühen Ortes gewesen zu sein. Von ihr bogen in regelmässigen Abständen Nebengassen ab. Die Abzweigung Kloster-/Spitalstrasse führte von der Lange Strasse zur Kinzig (Abb. 4C). Die Gestalt der frühen Stadt scheint von diesen sich verzweigenden Strassen mit dazwischen gespannten Gassen geprägt zu sein. In die erste Hälfte des 13. Jh. fällt wohl auch der innere Ausbau des frühen Marktortes (Abb. 4D). Als neue Hauptverkehrsachse wurde die Hauptstrasse trassiert, an der sich dann alle neu errichteten, markanten öffentlichen Bauten orientieren sollten. Vermutlich wurde dabei auch der nördliche Zugang zur Stadt verlegt, denn den nördlichen Abschluss der Hauptstrasse bildete seither das gänzlich neu angelegte Neue Tor, während sich ein aufgegebenes älteres Tor vermutlich noch auf die in römische Zeit zurückreichende Strasse bezogen hat. Buch SKAM 36.indd 106 Zu beiden Seiten der Hauptstrasse wurden rechteckige bis nahezu quadratische Baublöcke ausgewiesen, deren Grundrissstruktur sich klar von den sich verzweigenden Strassen mit den dazwischen liegenden langgestreckten Baublöcken des älteren Marktorts abhebt. Bezeichnenderweise finden sich im Bereich des «Neubaugebietes» um die neue Marktstrasse alle bedeutenden Bauten der sich emanzipierenden Stadt. Der Kreuzungsbereich von Hauptstrasse, Kornstrasse und Fischmarkt erhielt durch die Konzentration mehrerer für die Verwaltung und das Wirtschaftsleben wichtiger Einrichtungen einen klaren Zentrumscharakter an dieser Stelle, auch wenn sich die Mehrzahl davon erst im 15. und 16. Jh. schriftlich fassen lässt. Dazu gehören das Rathaus mit der Kanzlei, dessen Vorgänger, die 1265 erwähnte Dinglaube (Gerichtshaus) sich möglicherweise an gleicher Stelle befand, das Salzhaus und das dahinter liegende, um 1300 gegründete St. Andreasspital, das Stadtwirtshaus (Pfalz) mitten auf der Strasse und, nördlich davon auf der gegenüberliegenden Seite, wahrscheinlich das städtische Kaufhaus. An dieser Kreuzung dürfte sich in der Frühzeit der Stadt ein grosser Teil des Marktgeschehens abgespielt haben. 14.11.2009 14:54:18 Uhr Archäologischer Stadtkataster Offenburg 107 Abb. 6 Offenburg, Kesselstrasse 13. Frühneuzeitliches Pulverhorn aus Hirschgeweih mit der Darstellung eines bärtigen Mannes. Abb. 7 Befestigungsplan von Strasser, um 1678. Der Grundriss und die Wehranlagen von Offenburg sind schematisiert dargestellt. Eine der ersten Grabungen nach Übergabe des ersten Stadtkatasters fand an der Kesselstrasse 13 statt, die hier exemplarisch vorgestellt werden soll (Abb. 5). Während frühere Untersuchungen baubegleitend durchgeführt wurden, legte man bei dieser Untersuchung grossflächig städtische Siedlungsspuren (Keller, Gruben, Latrinen) frei, die sich im Stadtgebiet ab dem 13. Jh. ausgebildet haben. Im Hofbereich des ehemaligen Amtsgerichts wurde insgesamt eine Fläche von 450 m2 archäologisch untersucht. Die gefundenen Siedlungsspuren und Kulturschichten reichen bis ins 13./14. Jh. zurück. Wenige Gruben (etwa zur Lehmentnahme, für Vorräte oder Latrinen) des 13./l4. Jh. bezeugen die Ausbauphase der hochmittelalterlichen Stadt. Zwei Erdkeller oder Gruben, drei Keller sowie zwei Latrinen sind jedoch ein reicher Beleg für die enge spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Bebauung. Sie wurden mit Bauschutt und Abfall des 16./17. Jh.. verfüllt. Zwei dieser Keller waren noch über die ursprünglichen Backsteintreppen zugänglich. Die Kellerwände waren zum grössten Teil mit Holz verkleidet. Nur entlang der Zugänge vermauerte man Back- und Hausteine. Die zahlreichen Funde in den Verfüllschichten, hier am südlichen Altstadtrand, deuten auf eine Hafnerwerkstatt hin. Renaissancezeitliche Ofenkacheln mit Graphitüberzug lassen eine komfortable städtische Wohnnutzung erkennen. Einschneidendes für die bauliche Entwicklung des Areals muss sich bereits vor dem grossen Stadtbrand ereignet haben. Da bislang keine Spuren des grossen Feuers gefunden wurden, befand sich hier bei Ausbruch des Brands wahrscheinlich eine Brachfläche inmitten der Stadt. Vom 17. bis ins 19. Jh. änderte sich dieser Zustand kaum. Das Hofareal blieb frei von grösseren Bauten. Noch zu Beginn unseres Jahrhunderts sind dort, wo im späten Mittelalter Fachwerkhäuser über Kellern standen, in den historischen Plänen Gärten verzeichnet. Buch SKAM 36.indd 107 14.11.2009 14:54:19 Uhr 108 Aus der Grabung liegen grosse, stratigraphisch geborgene Fundmengen an spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Keramik vor. Darunter ein umfangreicher Komplex früher Malhornkeramik, Steinzeug und Ofenkacheln, Model für Kachel und Figuren sowie Nuppengläser. Als besonderes Stück ist ein frühneuzeitliches Pulverhorn aus Hirschgeweih mit Darstellung eines bärtigen Mannes (Abb. 6) zu erwähnen. An der Anlage der Marktstrasse richteten sich der in den späten 1240er Jahren vollendete Bau der Stadtbefestigung und die Standorte der Stadttore und Türme aus. Die Standorte der südlichen Stadttore, Kinzigtor und Schwabhauser Tor, sind wohl Neuanlagen im Bereich älterer Tore. Bei dem um 1430 erstmals erwähnten Neutor am nördlichen Ende der neu angelegten Marktstrasse ist zu vermuten, dass es als Folge einer Verlegung des Nordzugangs in die Stadt nach Osten neu errichtet wurde. Dies beruht auf der oben erklärten Annahme, die präurbane Marktsiedlung habe sich zumindest teilweise an der alten Römerstrasse befunden, die in der Nordwestecke der Stadt im Bereich der Kreuzung von Wasserstrasse und Prädikaturstrasse in die Stadt eintrat. An dieser Stelle wäre demzufolge der ursprüngliche Nordzugang in das Siedlungsareal der Marktsiedlung zu erwarten (Abb. 4C). Die Anlage der breiten Marktstrasse im städtischen Gefüge im 13. Jh. machte jedoch eine Verlegung des Tores nach Osten nötig. Über den Ausbau der spätmittelalterlichen Wehranlage im 17. Jh. sind wir durch verschiedene Chronisten und zeitgenössische Pläne vergleichsweise gut unterrichtet. 1639 kam es zu intensiven Schanzarbeiten um die Stadt, um die bestehende Wehranlage der neuen Wehrtechnik anzupassen. Auch nach dem Dreissigjährigen Krieg versuchte man die Stadt mit Bastionen schützend zu umschliessen. Der so genannte Strasser-Plan hält den bis 1678 erreichten Bauzustand fest (Abb. 7). Ein Entwurf desselben Planverfassers zeigt die weitere Planung des Festungsausbaus, die allerdings nur in geringen Teilen realisiert wurde. Dies zeigt, dass historische Pläne nicht immer Realität abbilden, sondern auch Planungen darstellen können, die nicht, oder nur teilweise ausgeführt worden sind. Buch SKAM 36.indd 108 Archäologischer Stadtkataster Offenburg Schlussbemerkungen Die historischen Forschungen zur Siedlungsgeschichte von Offenburg stützen sich auf archäologische Quellen, Schriftzeugnisse und historische Karten. Demnach erfolgte die Siedlungsentwicklung in mehreren Phasen. Eine römische Ansiedlung, die aus einem Kastell des 1. Jahrunderts hervorging und sich später zu einem vicus entwickelte, wurde Ende des 3. Jahrhunderts verlassen. Die hochmittelalterliche Siedlung Kinzigdorf entwickelte sich nördlich der Ruinenstätte entlang der alten Überlandstrasse. Die eigentliche Entstehung der Stadt erfolgte ebenfalls nicht in einem Zug. Zunächst entstand ein Strassenmarkt entlang der Langen Strasse, von dem eine weitere Strasse zur Kinzigfurt abzweigte. Der dreiecksförmige Zwischenraum wurde durch hangparallele Strassen erschlossen. Erst im 13. Jahrhundert wurde der Siedlungsraum westlich der Hauptstrasse in das Stadtgebiet eingeschlossen und gesamthaft befestigt. Die Zusammenarbeit von zwei Geschichtswissenschaftlern, die mit Schriftquellen bzw. archäologischen Quellen an diesem Projekt arbeiten, hat sich zunächst nicht unproblematisch gestaltet. Zunächst mussten die Beteiligten die Sprache des Partners verstehen lernen, nicht immer waren die Schlussfolgerungen durch den Kollegen voll umfänglich nachvollziehbar. Strittig war nicht zuletzt die Frage, wo die Grenzen der Interpretation liegen. Für den mit Schriftquellen arbeitenden Historiker war es neu, siedlungsgeschichtliche Erkenntnisse eindeutig auf einer Karte zu verorten, was aus archäologischer Sicht selbstverständlich scheint. Noch weitreichender war der Versuch, die gemeinsam entwickelten Siedlungsphasen im Plan darzustellen, besteht doch die Gefahr, dass sich ein Modell in den Köpfen der Betrachter als Realität festsetzt. Wir haben uns letztlich doch dafür entschieden, weil in der denkmalpflegerischen Praxis solche Bilder notwendig sind, um vor Ort Überzeugungsarbeit für die Erhaltung der archäologischen Substanz zu leisten. Aus der Diskussion ergaben sich erweiterte quellenkritische Überlegungen und neue Fragestellungen, die jede der Teildisziplinen weitergebracht haben. Trotz aller Diskussionen hat sich im Endeffekt gezeigt, dass das Zusammenwirken beider Disziplinen mehr ist als die Summe der Einzelergebnisse. 14.11.2009 14:54:19 Uhr Archäologischer Stadtkataster Offenburg 109 Bibliografie Bräuning 2000 – Andrea Bräuning (Bearb.), Bausteine Archäologischer Stadtkataster. Archäologische Informationen aus Baden-Württemberg 42 (Stuttgart 2000). Fleig 1908 – Edgar Fleig, Handschriftliche, wirtschafts- und verfassungsgeschichtliche Studien zur Geschichte des Klosters St. Peter auf dem Schwarzwald, Freiburg i. Br. 1908. Gruber 1937 – Karl Gruber, Die Gestalt der deutschen Stadt, Leipzig 1937. Hamm 1932 – Ernst Hamm, Die Städtegründungen der Herzöge von Zähringen (Veröffentlichungen des Alemannischen Instituts Freiburg l), Freiburg i. Br. 1932. Harter 1969 – Hans Harter, Eine Schenkung der Herren von Wolfach an das Kloster Alpirsbach, in: Ortenau 49 (1969), 225–244. Hillenbrand 1990, Eugen Hillenbrand – «Unser Fryheit und alt Harkommen». Mittelalter in Offenburg und der Ortenau, Offenburg 1990. Hitzfeld 1968 – Karlleopold Hitzfeld, Das Rätsel über die Anfänge der Stadt Offenburg. Das Ende der Zähringerlegende, in: Ortenau 48 (1968), 119–141. Humpert/Schenk 2001 – Klaus Humpert/Martin Schenk: Die Entdeckung der mittelalterlichen Stadtplanung: das Ende vom Mythos der gewachsenen Stadt, Stuttgart 2001. 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Kreise Konstanz, Villingen, Waldshut, Lörrach, Freiburg, Offenburg, Tübingen 1908. WUB 1 – Württembergisches Urkundenbuch, Bd. 1, Stuttgart 1849. Yupanqui 2000 – Manuel Yupanqui, Die Römer in Offenburg. Eine archäologische Spurensuche (Werkstattbericht aus dem Archiv und Museum 5), Offenburg 2000. Abbildungsnachweis 1–6 Jenisch/Gutmann 2007 7 Österreichisches Staatsarchiv, Kriegsarchiv II b 42-900 Buch SKAM 36.indd 109 14.11.2009 14:54:19 Uhr Buch SKAM 36.indd 110 14.11.2009 14:54:19 Uhr Interferenzen bei der Erforschung städtischer Handwerks- und Sozialtopographien 111 Gerson H. Jeute Interferenzen bei der Erforschung städtischer Handwerks- und Sozialtopographien am Beispiel der Doppelstadt Brandenburg an der Havel Vorbemerkung Die Erforschung der mittelalterlichen Geschichte Ostdeutschlands ist naturgemäss bestimmt durch den sich im 12. und 13. Jahrhundert vollziehenden ethnischen Wandel der Bevölkerung in der Region. Auf die einheimischen slawischen Stämme trafen westliche Zuwanderer, und im Zuge der folgenden Assimilierung verschwand das slawische Element fast gänzlich. Die Forschung hat hier in der letzten Zeit enorme Fortschritte gemacht, die das traditionelle Bild von Unterdrückung und Ausrottung der «Slawen» durch die «Deutschen» zwar nicht umkehren, jedoch erheblich korrigieren. Demnach gab es während der hochmittelalterlichen Ostsiedlung oder Transformation eine starke Beteiligung der Slawen am Landesausbau, und ethnische Differenzen auf Grund nationaler Herkunft spielten, im Gegensatz zu den sozialen und rechtlichen, kaum eine Rolle.1 Erst im Laufe des späten Mittelalters wurde unter wirtschaftlichem Druck die ethnische Herkunft in den Zunftstatuten thematisiert.2 Auf der archäologischen Seite hat sich in den letzten Jahren die Erkenntnis bekräftigt, dass eine ethnische Zugehörigkeit allein anhand der materiellen Kultur, insbesondere in Übergangszeiten, nicht erkennbar ist. So müssen für den ländlichen Raum neben archäologischen Funden auch Ortsname, Ortsform und Ortsgrösse betrachtet werden, um Aussagen darüber zu treffen, ob der einzelne Ort eher slawisch oder deutsch geprägt war.3 Die Stadt, als ein Motor der hochmittelalterlichen Ostsiedlung und des Landesausbaus spielt eine besondere Rolle, nicht zuletzt, da sie als kommunale Rechtsstadt ein vollkommen neues Element in die Region brachte. Nachdem ostdeutsche Städte von der sich in den 1970er und 80er Jahren europaweit etablierenden Mittelalterarchäologie zunächst nur gestreift wurden, setzte ein kaum vergleichbarer Boom archäologischer Tätigkeiten in Stadtkernen seit der deutschen Wiedervereinigung 1990 ein. Der Bedarf an Sanierungen und Neubauten führte zu zahllosen bauvorbereitenden, baubegleitenden und Notbergungsgrabungen und brachte bzw. erbringt stetig eine Fülle an archäologischen Erkenntnissen, deren voll- Buch SKAM 36.indd 111 ständige Auswertung wohl noch Jahrzehnte in Anspruch nehmen wird.4 Besonders wertvoll sind archäologische Befunde und Funde bekanntlich dort, wo schriftliche Quellen fehlen, so bei Fragen von Vorgängersiedlungen und frühstädtischer Entwicklung sowie insbesondere bei topographischen Fragen, wie Erweiterungsphasen oder der Lokalisierung von Handwerk und Gewerbe. Als ein nicht unwichtiges methodisches Problem zeichnet sich ab, dass bei einer ständigen Vergrösserung der archäologischen Datenbasis, die Bedingungen für Forschung und Lehre kontinuierlich schlechter werden. Nach der Schliessung der ur- und frühgeschichtlichen Lehrstühle an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald und der Humboldt-Universität zu Berlin im Jahr 2009 wird es voraussichtlich keine Mittelalterarchäologie in Nordostdeutschland mehr geben. Ebenso wird die Landesgeschichte zurückgedrängt. Gab es zum Ende der 1990er Jahre noch gemeinsame Lehrveranstaltungen durch Eike Gringmuth-Dallmer (Lehrstuhl für Ur- und Frühgeschichte) und Winfried Schich (Lehrstuhl für Landesgeschichte) an der Humboldt-Universität zu Berlin, so steht seit der Schliessung der Landesgeschichte 2003 nur noch ein Colloquium zum interdisziplinären Austausch zu Verfügung, das nun seit 2008 immerhin als Landesgeschichtliches Forschungscolloquium an der Landesgeschichtlichen Vereinigung für die Mark Brandenburg e.V. fortgeführt werden kann. Die Schwerpunkte liegen weiterhin auf den Fachrichtungen Geschichte, Archäologie und Kunstgeschichte im Zeitraum des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Brandenburgs und seiner Nachbarn. 1 2 3 4 In diesem Sinn mit unterschiedlicher Betonung: Brather 1993; Brather 1996; Brather 2005; Brather/Kratzke 2005; Jeute 2005; Jeute 2006a; Jeute 2007a; Jeute 2007d; Schich 1977; Schich 1980; Schich 1987a und viele andere. Vgl. dazu Schich 1994; Bulach 2006. Schich 1977; Schich 1987a; Brather 1993. Gleiches gilt auch für das ländliche Handwerk, vgl. Jeute 2007a. Dalitz/Müller 1997; Müller 2008. Für die Stadt Brandenburg sind erfreulicherweise bereits einige Grabungen vorgelegt worden: Biermann/Frey 2000; Biermann/Riederer/Kloss 2002; Borchert/Müller 1997; Jeute 2007e; Jungklaus 1997; Jungklaus/Dalitz 2006; Müller 1997; Müller/Specht 2002; Niemeyer 2006; Rathert 1997; Schaake 2008. 14.11.2009 14:54:19 Uhr 112 Interferenzen bei der Erforschung städtischer Handwerks- und Sozialtopographien Interferenztraditionen in der Germania Slavica-Forschung Interdisziplinäres Arbeiten hat in der Region durchaus Tradition. So gründete sich 1977 am Friedrich-MeineckeInstitut der Freien Universität Berlin die «Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Germania Slavica» (IAG), deren Ziel es war, den Prozess des ethnischen Wandels im Rahmen der hochmittelalterlichen Ostsiedlung im slawisch-deutschen Kontaktgebiet zu untersuchen.5 Die Fragestellungen an die anderen Disziplinen, wie Mittelalterarchäologie,6 Ortsnamenforschung, Siedlungsgeographie, Rechtsgeschichte und Kunstgeschichte, gingen dabei, in Orientierung an ältere landeskundliche Arbeiten (vor allem Rudolf Kötzschkes und Walter Schlesingers), von der Geschichte aus. Die wichtigsten Personen der IAG waren neben Wolfgang H. Fritze und Winfried Schich noch Eberhard Bohm, Felix Escher, Wolfgang Ribbe und Adriaan von Müller sowie aus dem Umfeld Anneliese Krenzlin, Heinz Quirin und Walter Schlesinger. Ebenfalls bestand Kontakt zu Wissenschaftlern aus Polen und der DDR. Der Begriff «Germania Slavica» war durch Walter Schlesinger, und mehr noch durch Wolfgang H. Fritze, als Parallele zur Germania Romana von Theodor Frings geprägt worden. Räumlich bezeichnete er demnach die im historischen Sinn ostmitteldeutschen Länder, d. h. Mecklenburg, Pommern, Westpreussen, Brandenburg, SachsenAnhalt, Sachsen und Schlesien. Es handelt sich um jenes Gebiet, in dem die slawische Bevölkerung sprachlich allmählich germanisiert wurde.7 Im Vordergrund stehen die räumlichen Neustrukturierungen auf sozialer, wirtschaftlicher, territorialer, religiöser und siedlungstechnischer Ebene, die letztlich zur sprachlichen Assimilierung geführt haben. Vorreiter solcher ganzheitlichen Forschungen waren u. a. der Archivar Franz Engel und der Namenkundler Max Bathe. Als methodisch wegweisend ist die konsequente Erstellung und Nutzung von Karten, insbesondere von Synthesekarten anzusehen.8 Für ihre Forschungen haben die Mitglieder der IAG, insbesondere aber Winfried Schich bei seinen Untersuchungen zum Havelland und zur Zauche sowie zur Entwicklung des Städtewesens ganz selbstverständlich neben den historischen Quellen auch onomastische und archäologische herangezogen.9 Eine Eingrenzung erfolgte lediglich durch die damals geringe archäologische Datenbasis. Die Zahl der archäologischen Baubegleitungen war in den 1970er und 80er Jahren um ein vielfaches geringer als heute, die personelle und materielle Ausstattung nur schwach und auch die rechtlichen Möglichkeiten waren sehr begrenzt. Buch SKAM 36.indd 112 Man blieb in hohem Masse auf ehrenamtliche Mitarbeit angewiesen. Die meisten der wenigen publizierten Grabungsergebnisse wurden nur als Vorberichte und zudem oftmals in abgelegenen Heimatkalendern veröffentlicht. In den letzten 15 Jahren ist die Datenmenge, insbesondere im städtischen Bereich, enorm angestiegen (s.o.). Vieles landet jedoch unbearbeitet in den Magazinen und bleibt somit vorerst unbekannt.10 Während Befunde noch am ehesten ihren Weg in die Vorberichte finden, werden einzelne Funde oder Fundensembles nur selten genannt. Die zahlreichen kleinteiligen Erdaufschlüsse bieten zudem weitere Probleme. Sie führen oft zu Schlussfolgerungen, die sich später an anderer Stelle nicht verifizieren lassen. Dies bietet dem Historiker, der darauf weiterführende Untersuchungen aufbauen möchte, keine sichere Datenbasis. Weiterhin treten Probleme bei Fragen nach dem Alter der Objekte auf. Während der Historiker seinen Quellen jahrgenaue Datierungen entnehmen kann, ist dies für den Archäologen nur selten möglich. Die Möglichkeit der jahrgenauen Datierung mittels Dendrochronologie besteht erst seit wenigen Jahrzehnten und ist zudem abhängig von einer guten Funderhaltung. Hölzer mit ausreichendem Durchmesser müssen die Zeit in feuchtem Milieu überdauert haben, was insbesondere im trockenen märkischen Sand selten vorkommt. Die weit verbreitete Datierungsmöglichkeit – über keramische Beifunde – schafft eine Genauigkeit von ca. 25 Jahren. Die herkömmliche Betrachtung der Keramik nach formenkundlichen Aspekten ist mittlerweile einer Analyse der Warenarten und ihres prozentualen Anteils in unterschiedlichen Phasen gewichen. Damit werden Phasenübergänge automatisch grösser. Sie nähern sich somit zwar der historischen Realität, lassen sich jedoch schlechter mit einem konkreten Datum verbinden. Zudem benötigt man eine grosse Datenmenge und feinstratifiziertes Material, dass vor allem von kleinen Erdaufschlüssen nicht erbracht werden kann. 5 6 7 8 9 10 Zu den Zielen und Ergebnissen der IAG vgl. Fritze 1980 (Vorwort) sowie Schich 2003; allgemein zur Geschichte der Germania Slavica-Forschung und zur aktuellen Sichtweise Brather/Katzke 2005. So Schich 2003, 281. Es bleibt allerdings noch zu fragen, ob es eine Mittelalterarchäologie im heutigen Verständnis in den 1970er Jahren in West-Berlin und der DDR überhaupt gab, ohne dass damit die Leistungen der Archäologen, insbesondere sei hier Adriaan von Müller genannt, in irgendeiner Form geschmälert würden. Nach Schich 2003, 273–274, im folgenden auch 277. Schich 1977; Schich 1987a; ebenso Brather 1993. So zitiert Schich 1977; Schich 1987a; Schich 1987b; Schich 1987c auch Publikationen der Archäologen Otto Felsberg, Klaus Grebe, Eike GringmuthDallmer, Joachim Herrmann, Günter Mangelsdorf oder Adriaan von Müller. Beispiele zur Problematik: Dalitz/Müller 1997; Jeute 2006b, 47 Abb. 5; Jeute 2007a, 15–22; Müller 2008. 14.11.2009 14:54:19 Uhr Interferenzen bei der Erforschung städtischer Handwerks- und Sozialtopographien 113 Abb. 1 Alt- und Neustadt Brandenburg in der Aufnahme von Hedemann 1722/24, Karte gewestet. Überleitung Ein Grund für die Beschäftigung mit der Handwerks- und Sozialtopographie liegt unter anderem darin, dass für die Untersuchung der ländlichen nichtagrarischen Produktion im Land Brandenburg ein städtischer Vergleich benötigt wurde.11 Da es diesen bislang noch nicht gibt, lag es nach jahrelanger Beschäftigung mit der Stadtgeschichte nahe, den Hauptort des westlichen Brandenburgs, die Stadt Brandenburg an der Havel zu wählen (Abb. 1), wo zudem seit über 15 Jahren eine exzellente Stadtarchäologie tätig ist. Die Fragestellungen gelten zunächst einmal der Nachweisbarkeit der verschiedenen Handwerke und Gewerbe sowie ihrer topographischen Verteilung im Stadtgebiet, denn diese Angaben bieten die schriftlichen Quellen leider nicht bzw. nur in begrenztem Masse. Weiterhin soll die zeitliche Entwicklung sowie die Beziehung zu sozialen Aspekten betrachtet werden. der Havel als slawisches Stammeszentrum der Heveller.13 Das ansässige Fürstengeschlecht dehnte seine Macht bis zur Oder aus. Die Eroberung der Burg durch König Heinrich I. im Winter 928/929 und die Einrichtung eines Missionsbistums 948 hatten nicht dauerhaft Bestand, da der Lutizenaufstand 983 die deutsche Herrschaft und das Christentum wieder beseitigte. Erst 1157 kam die Burg durch ein Erbe erneut und endgültig in deutsche Hände. Der letzte slawische Herrscher, Pribislaw-Heinrich, war – wie vielleicht auch schon sein Vorgänger – zum Christentum übergetreten und berief eine Prämonstratensergemeinschaft an die St. Gotthardkirche im suburbium auf dem der Brandenburg gegenüberliegenden Ufer. Diese siedelten sich in unmit- 11 12 Abriss der Stadtentwicklung Zunächst ein kurzer geschichtlicher Überblick zur Entwicklung der Stadt Brandenburg an der Havel.12 Im 9./10. Jahrhundert etablierte sich die Brandenburg auf einer Insel in Buch SKAM 36.indd 113 13 Jeute 2005, 160; Jeute 2007a, 95–98, 139–146; Jeute 2007c. Siehe auch DSB II, 2000; Schich 1993a; Schich 1993b; Tschirch 1928; zur Entwicklung aus bau- bzw. kunstgeschichtlicher Sicht Bodenschatz/Seifert 1992; Cante 1994. Zu den ersten Ergebnissen der Grabungen seit den 1960er Jahren siehe Grebe 1991 (mit geschichtlicher Zusammenfassung); eine Aufarbeitung erfolgt jetzt durch Kerstin Kirsch. Die folgende Darstellung orientiert sich im Wesentlichen an Schich 1993a; Schich 1993b. 14.11.2009 14:54:20 Uhr 114 Interferenzen bei der Erforschung städtischer Handwerks- und Sozialtopographien Abb. 2 Ansicht der Altstadt Brandenburg mit Marienkirche auf dem Berg von 1582. telbarer Nachbarschaft zu einer Siedlung von Kaufleuten mit dem Namen Parduín an. Beide Ansiedlungen wurden später zum Kern der Altstadt Brandenburg. Pribislaw hatte bereits 1127/30 dem späteren Markgrafen Albrecht dem Bär die Zauche, einen Landstrich, der unmittelbar südlich an die Brandenburg anschloss, zum Patengeschenk für dessen Sohn Otto gemacht. Der Askanier Albrecht wurde 1150 Nachfolger von Pribislaw und nannte sich ab 1157 marchio Brandenburgensis sowie die Brandenburg das «Haupt der Mark» (1197 caput Marchie). Die Burg wurde jedoch zwischen einem Burggrafen als Vertreter des Königs, dem Markgrafen und dem Bischof aufgeteilt. Spätestens 1165 entstand an der Stelle der Burg auf der Insel (Dominsel) die Domkirche St. Peter, zu der die Prämonstratenser, seit 1161 zum Domkapitel erhoben, umzogen. Die vor Ort ansässigen Slawen wurden teilweise in den Kietzen angesiedelt. Das Triglawheiligtum auf dem Harlunger Berg (Marienberg) Buch SKAM 36.indd 114 war wohl schon unter Pribislaw niedergelegt und vor 1166 durch eine Marienkirche (Abb. 2) ersetzt worden. Neben den beiden Vorgängersiedlungen der Altstadt entwickelte sich in den 1170er Jahren auf der Neustadtseite das Stutzdorf, eine bäuerliche, deutsche Siedlung, welche, als die Neustadt 1196 erstmals genannt wurde, wohl bereits durch die grosszügige Stadtplanung umstrukturiert worden war. Ab der Mitte des 13. Jahrhunderts waren beide Städte bereits komplett und mit allen Elementen einer mittelalterlichen Stadt ausgebildet, d.h. es gab je eine Pfarrkirche, eine Bettelordensniederlassung, ein Spital, eine Stadtbefestigung, den Markt mit einem Rathaus sowie ab dem 14. Jahrhundert auch Schulen. Während jedoch die Altstadt bis in die Neuzeit hinein ein agrarisches Element behielt, musste die Neustadt nach und nach umliegende Ackerflächen aufkaufen. Die Stadtgründungen führten auch zu Veränderungen der Verkehrswege. Ein Damm 14.11.2009 14:54:21 Uhr Interferenzen bei der Erforschung städtischer Handwerks- und Sozialtopographien und eine Brücke wurden errichtet und damit ältere Furten aufgegeben. Durch den Damm konnte einerseits die gestaute und umgeleitete Wasserkraft für den Betrieb von Mühlen (1323–24 erstmals erwähnt) genutzt werden, andererseits musste die Havelschiffahrt über einen Schleusengraben, 1315 als «Flutrinne» erwähnt, um die Neustadt herum geleitet werden. Die Markgrafen richteten sich nach ihrem Rückzug aus der Burg am Rande der Neustadt einen eigenen Hof (bis 1286) ein, und auch die markgräfliche Münze wurde verlegt, wovon die platea monetariorum (Münzenstrasse, 1305) zeugt. Mit der geistlichen Dominanz der Dominsel und dem Verkauf der Kietze an die Städte erhielt Brandenburg seine typische und dauerhafte dreigliedrige Gestalt. Die Neustadt, doppelt so gross wie die Altstadt, hatte ihre Konkurrentin im 14. Jahrhundert bereits wirtschaftlich überflügelt. Für gemeinsame rechtliche Belange wurde vor 1348 auf der Langen Brücke zwischen beiden Städten das gemeinschaftliche Schöffengremium (Schöppenstuhl bzw. rathus beyder stede) eingerichtet, welches später gerichtlicher Oberhof für die märkischen Städte und für alle Gerichte in der Mark Brandenburg wurde. An der Spitze des städtischen Handwerks und Gewerbes standen die Viergewerke mit den Bäckern, Knochenhauern, Schuhmachern und Wollwebern. Ihnen folgten Schneider, Kürschner, Schuhflicker, Leineweber, Schmiede, Böttcher und Weissgerber sowie die Weingärtner in der Altstadt. Neben den Slawen, die in den Kietzen der Fischerei nachgingen, wurden ab 1322 Juden in beiden Städten genannt, die man nach dem Berliner Hostienschändungsprozess von 1510 für längere Zeit aus der Mark vertrieb. An ihrem Wohnsitz in der Altstadt errichtete man eine Fronleichnamskapelle. Während die Doppelstadt bis zum 19. Jahrhundert nicht über die Stadtmauern hinaus wuchs, dehnte sich ihr Weichbild durch die Niederlegung von umliegenden ländlichen Siedlungen und den Aufkauf von Ackerflächen beträchtlich aus. Die wirtschaftliche Blüte wird auch durch die Errichtung von Ziegeleien und den Neubau der Kirchen im 14. Jahrhundert deutlich. Die Diversifizierung der Mühlen führte im 15. Jahrhundert zu Walk-, Säge und Lohmühlen unmittelbar vor den Toren. Durch die Nähe zu Wittenberg drang die Reformation sehr früh nach Brandenburg, 1536 in die Neustadt, 1538 in die Altstadt, jedoch erst 1555 in das Domkapitel. Die Klöster wurden in Armenhäuser und Spitäler umgewandelt, der Weinberg zum städtischen Friedhof. Einzig Buch SKAM 36.indd 115 115 die Wallfahrtskirche auf dem Marienberg blieb, zwar sehr stark verfallen, den Brandenburgern noch lange und tief in Erinnerung. So erschien sie stets auf zeitgenössischen Gemälden, gelegentlich auch in einem besseren Zustand dargestellt. Erst 1722/23 wurde sie auf königlichem Befehl hin abgebrochen. Seit dem 16. Jahrhundert setzte ein wirtschaftlicher Niedergang ein, der durch den Dreissigjährigen Krieg verstärkt wurde. Hinzu kamen militärische Eingriffe in das bürgerliche Selbstverständnis, wie die Einrichtung der kurfürstlichen Garnison, bis hin zur Anordnung der Vereinigung beider Städte durch König Friedrich Wilhelm I. So tagte ab 1715 der Magistrat der «Kur- und Hauptstadt» Brandenburg im Rathaus der Neustadt, das Rathaus der Altstadt wurde in eine Brachentmanufaktur umgewandelt. Der Dombezirk auf der Insel sollte erst 1929 zur Stadt kommen. Teile der Stadtbefestigung fielen erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ab der Mitte des Jahrhunderts setzte dann eine verstärkte Industrialisierung der Stadt ein, die bis heute verkehrsgünstig zwischen Berlin und Magdeburg gelegen ist. Methodisches Vorgehen Da die Datenbasis für die Fragestellung zum städtischen Handwerk und Gewerbe sehr gering ist, muss alles herangezogen werden, was Hinweise auf nichtagrarische Produktion und den sozialen Status der Bewohner bietet. Somit geraten die Forschungsergebnisse der einzelnen Disziplinen, wie Geschichte, Archäologie, Bauforschung und Kunstgeschichte, automatisch in das Blickfeld. Eine umfangreiche und detaillierte Überlieferung an mittelalterlichen Katastern und Steuerbüchern, wie aus den Hansestädten und den oberdeutschen Zentren gibt es für die Stadt Brandenburg a. d. Havel nicht. Somit bleibt alles ein sehr kleinteiliges Puzzle, das jedoch schon erste Ergebnisse liefern kann.14 Zunächst wurden historische Arbeiten und schriftliche Quellen herangezogen. Hier gibt es eine sehr gute Aufarbeitung, vor allem durch den einstigen Stadtarchivar Otto Tschirch, der zum Jubiläum der Stadt 1928/29 eine noch heute wichtige Chronik in zwei Bänden vorlegte. Ergänzt wird dies nun durch Werke von Winfried Schich 14 Der aktuelle Stand der Aufnahme ist das Jahr 2003, später gewonnene Ergebnisse werden zwar gelegentlich berücksichtig, jedoch erst in einer späteren Runde detailliert aufgenommen. 14.11.2009 14:54:21 Uhr 116 Interferenzen bei der Erforschung städtischer Handwerks- und Sozialtopographien sowie die Neubearbeitung des Deutschen Städtebuches. Neue archäologische Grabungsergebnisse führen zu neuen Interpretationen der historischen Quellen, die wiederum neue archäologische Fragestellungen erbringen.15 Ein interessantes, zeitgenössisches Werk ist ein Lehrbuch für die Lateinschule aus dem Jahre 1679.16 Hier wird zwar literarisch, aber durchaus mit wahrem Kern die Stadt beschrieben und Handwerke im Gebiet zwischen beiden Städten aufgezählt: «als da sind Weissgerber, Lohgerber, Hartkarter, Fuller, Schwerdtfeger, Kleinschmiede, Nagelschmied, Circkelschmied, Kupferschmied, KammMacher, Töpfer. Überdem ... ein Bortenwickler und Koch, welcher zugleich Torten- und Pasteten-Bäcker ist.» Archäologische Hinweise aus diesem Stadtteil fehlen bislang leider noch, jedoch sollte der Band einmal systematisch ausgewertet werden. Der Autor, Joachim Fromme (1640–1690), war Rektor der Neustädtischen Schule und wandte sich mit seiner Publikation gleichermassen der Heimatkunde der eigenen Stadt wie auch der Vermittlung der lateinischen Sprache zu. In seinem Buch zeigt ein Schüler einem Ortsfremden Sehenswürdigkeiten und Bauwerke der Stadt und spricht über Mode, Sitten und Gebräuche. Die Neuherausgabe des Werkes über 50 Jahre später durch Caspar Gottschling wurde zudem mit Anmerkungen zur barocken Stadterneuerung versehen. Für die Untersuchung ebenso herangezogen werden müssen die Regesten des Domkapitels bzw. des Domstiftes,17 das ja auch Beziehungen zu beiden Städten pflegte, die jedoch nur sehr verstreut in den Urkunden vorhanden sind. So werden Warenlieferungen von Handwerken aus der Doppelstadt, aber auch von ausserhalb erwähnt. Es finden sich Abrechnungen mit Gerüstmachern, Zinngiessern und Ziegelbrennern. In allen Fällen fehlen leider die – aus archäologischer Sicht wichtigen – topographischen Angaben. Beispielsweise werden für die Jahre 1347, 1358 und 1372 Salzeinfuhren über den Zoll der Neustadt erwähnt, und das, obwohl dieser bereits seit dem 12. Jahrhundert über Parduín bzw. die Altstadt erfolgte, wo sich auch ein Salzhaus (heute Strasse Am Salzhof) befand.18 Weiterhin wird ein Tabernakelschreiner erwähnt, der im Auftrag des Domkapitels arbeitete, jedoch bleibt fraglich, ob dieser aus Brandenburg kam oder von ausserhalb. Nicht nur die Quellen selbst, sondern auch ihre Unterzeichner geben interessante Aufschlüsse. Als das älteste steinerne Gebäude in der Stadt wurde bislang die Überlieferung eines «Ghiso ut dem Steenhuse» aus dem Jahre 1342 angesehen. Es handelte sich dabei wohl um das sogenannte Ordonnanzhaus Buch SKAM 36.indd 116 neben dem Altstädtischen Rathaus (Abb. 5/10). Die Sichtung der Regesten zeigen nun für das Jahr 1316 einen «Nikolaus und dessen Sohn aus dem Steinhaus». Vier Jahre später wird die Unterschrift präzisiert durch den Eintrag «Bürger aus der Neustadt Brandenburg». Welches Gebäude damit gemeint ist, vielleicht ein frühgotisches Haus (Abb. 5/11) im Zentrum der Stadt am Katharinenkirchplatz, bleibt fraglich. Auch wenn sich damit die früheste Existenz von privaten steinernen Gebäuden in der Stadt um eine Generation zurück verschiebt, so bleiben diese doch Ausnahmen bis in die Frühe Neuzeit. Eine deutlichere Interferenz gibt es bei einem anderen Beispiel. Eine glasierte Marienkachel wurde durch Klaus Grebe am Rande der Neustadt aus einem Töpfereiabfall geborgen. Ein identisches, jedoch unglasiertes Stück stammt aus Wiesenburg am Flämingrand. Diese über ca. 30 km laufenden Beziehungen werden in umgekehrter Weise durch schriftliche Quellen gestützt. So erhielt am 19. Juli 1529 der Küchenmeister Joachim Rone vom Domstift 1 1/2 Gulden für den Kauf von Töpfen in Wiesenburg. Bereits 1488 erscheinen in den Rechnungsbüchern wöchentliche Ausgaben für Töpfe.19 Wichtige Grundlagen für topographische Fragen sind stets Altkarten, Kataster und Register. Als ältester detaillierter Stadtplan ist die sehr genaue Karte von Christoph Gottlieb Hedemann aus dem Jahre 1722 zu nennen (Abb. 1).20 Zur Berechnung der steuerlichen Abgaben erstellt verzeichnet sie öffentliche Gebäude sowie private Grundstücke, einschliesslich der an ihnen haftenden Brauereigerechtigkeit. Der zugehörige Katasterband listet zwar verschiedene Angaben, wie den Namen des Besitzers oder die Steuerhöhe auf, leider jedoch keine Berufe. 15 16 17 18 19 20 Tschirch 1928; eine Darstellung der Stadtgeschichte u. a. auch in der Einleitung zu Eichholz 1912. Die jüngeren Darstellungen insbesondere bei Schich 1993a; Schich 1993b; DSB II, 2000. Zu den Diskussionen wischen Archäologen und Landeshistorikern beispielsweise Dalitz/Müller 1997; Schich 1997. Ebenso intensiv am Dialog beteiligt ist Helmut Assing. Nach Bodenschatz/Seifert 1992, 84–87, hier 86. Regesten I, 1998; der zweite Teil ist derzeit im Druck. Regesten I, 1998, 7, 133, 149, 207; Jeute 2007a, 62 mit Lit. Zu den Steinhäusern: Eichholz 1912, 179; Regesten I, 1998, 94-101; zur Marienkachel: Jeute 2007a, 78 Anm. 5 sowie 77 Abb. 26. Hedemannplan 1722/24. Die Karte hat erfreulicherweise 1995 einen massstäblich vergrösserten Nachdruck erfahren und liegt seit 1998 auch in digitaler Form vor (vgl. Petsch 1998). Mittlerweile ist eine ältere Karte bekannt geworden, die im Zuge des Dreissigjährigen Krieges 1631 in Schweden entstand. Sie wird demnächst durch Joachim Müller u. a. ausgewertet. Dargestellt ist vor allem der Befestigungsring, dagegen fehlen Strassen und Parzellen weitgehend. Verschiedene dargestellte Festungswerke, die im Stadtbild bislang nicht erkannt werden konnten, deuten darauf hin, dass hier weniger der Ist-Zustand, als vielmehr ein Planungsstadium für eine Festung dargestellt wurde. 14.11.2009 14:54:21 Uhr Interferenzen bei der Erforschung städtischer Handwerks- und Sozialtopographien 117 Abb. 3 Ausschnitte aus dem Bürgerverzeichnis der Altstadt Brandenburg von 1656. Im Wesentlichen nur Namen bietet ein Verzeichnis aus dem Jahre 1656 (Abb. 3). Einige interessante Spalten nennen aber auch Personen, die aufgrund ihres hohen Alters nicht mehr aus der Stadt fort können oder krank und gebrechlich sind. Vielfältige Möglichkeiten der Auswertung bietet das Adressbuch von 1806, in dem nun erstmals Handwerker und Berufe verzeichnet sind. Für eine Rückschreibung ins Mittelalter ist allerdings Vorsicht geboten. Zu schnell änderten sich in der Vergangenheit die Wohnsitze der Handwerker. Auch die Fortführung eines Geschäftes durch die Familie war nicht immer gegeben. Es wird für die Kartierung der Angaben aus dem Adressbuch auch vorausgesetzt, dass die Nummerierung der Grundstücke der des erwähnten Hedemannplanes entspricht. Tatsächlich wurde eine strassenweise Nummerierung in Brandenburg erst am Ende des 19. Jahrhunderts vorgenommen.21 Sehr gut erkennbar wird durch das Adressbuch der hohe Anteil von 15 % an Ackerbürgern in der Altstadt Buch SKAM 36.indd 117 (Abb. 4). Das entspricht den Werten mittlerer und kleinerer märkischer Städte, obwohl Brandenburg a. d. Havel insgesamt zu diesem Zeitpunkt noch als Grossstadt gerechnet werden kann. Als ein weiteres Beispiel sei hier auf die Textilberufe verwiesen. Sie waren vor allem in der Neustadt eher randständig angesiedelt. Besonders interessant ist die Kartierung, der als «Schutzjuden» bezeichneten jüdischen Einwohner. Sie sind im gesamten Stadtgebiet, vorrangig im Zentrum bzw. an den Hauptstrasse zu finden (Abb. 4). Eine Ghetto-Bildung ist nicht zu erkennen. In der als Judengasse bezeichneten Strasse im Norden der Neustadt sind sie nicht oder nicht mehr ansässig. Erst 50 Jahre später wird hier eine Mikwe erwähnt. Bislang wenig ausgewertet, da oft ungenau sind zeitgenössische Gemälde und Zeichnungen. Ausgerech- 21 Bürger Rolla 1656; Adress-Buch 1806. 14.11.2009 14:54:22 Uhr 118 Interferenzen bei der Erforschung städtischer Handwerks- und Sozialtopographien Abb. 4 Sozialtopographie von Alt- und Neustadt Brandenburg. net die älteste Stadtansicht aus dem Jahr 1582, ist nach neuen baukundlichen und archäologischen Erkenntnissen besonders detailgetreu (Abb. 2).22 Die Ansicht wurde von der Pfarrkirche der Altstadt (St. Gotthardt) aus aufgenommen, zeigt Teile der Altstadt mit Pfarrhaus und Pfarrgarten sowie den Marienberg mit der St. Marienkirche. Bislang nahm man an, dass es sich beim dargestellten Turm auf der linken Seite um den Plauer Torturm am Ortsausgang nach Magdeburg handelte. Die Darstellung wäre somit stark verzerrt gewesen und der Turm hätte einen Aufbau, der sich baukundlich nicht bestätigen lässt. Bei Baubegleitungen entlang der Kommunikationsstrasse Buch SKAM 36.indd 118 der ehemaligen Stadtmauer stiess man jedoch auf Fundamentreste, die diesem – bislang unbekannten – Turm zuzuweisen sind. Bestätigung findet die Zeichnung auch in dem grossen Gebäude zwischen den beiden Türmen.23 Der Dachstuhl wurde bei der Sanierung ebenfalls baukundlich untersucht und auch hier liess sich der seltsame, 22 23 Tschirch 1928, Frontispiz; Die Abbildung stammt aus einer Chronik von Zacharias Garcaeus, dem damaligen Stadtschreiber der Altstadt Brandenburg. Müller 2006, 103–105. Es handelt sich um ein grosses Giebelhaus als Kernbau mit flankierenden, strassenseitigen Flügelbauten sowie einem rückwärtigen Zwischenbau. Die linke Dachhälfte stammt aus dem Jahre 1512, die rechte aus der Zeit nach 1379/d. 14.11.2009 14:54:23 Uhr Interferenzen bei der Erforschung städtischer Handwerks- und Sozialtopographien 119 Abb. 5 Markante Gebäude der Stadt Brandenburg, 1–4: Kirchen, 5–6: Rathäuser, 7–8: Schulen, 9–12: Bürgerhäuser, alle im selben Massstab. Buch SKAM 36.indd 119 14.11.2009 14:54:25 Uhr 120 Interferenzen bei der Erforschung städtischer Handwerks- und Sozialtopographien Archäologische Ausgrabungen Abb. 6 Ausgrabung Brandenburg-Altstadt, Ritterstraße 100, Arbeitsstelle eines urkundlich belegten Nagelschmiedes, Mitte 19. Jahrhundert. zur Strasse giebelständige Mittelteil bestätigen.Einige der Fachwerkhäuser im Vordergrund, wie zum Beispiel das Schulhaus der Altstadt (Abb. 2, linker Rand, vgl. auch Abb. 5/8) stehen noch heute. Bauforschung Eine Reihe von Gebäuden konnte bislang baukundlich untersucht werden. Die ältere kunst- und bauhistorische Forschung hat sich auf die Kirchenbauten (Abb. 5/1–4) konzentriert, was bei der Vielzahl an Kirchen in der mittelalterlichen Stadt Bandenburg verständlich ist. Von den einst acht Kirchen stehen heute noch sieben, welche damit «die grösste und geschlossenste Kirchenlandschaft aller märkischen Städte» bilden.24 Zudem stellen sie wichtige Zeugnisse für die frühe Siedlungsentwicklung dar, da sie fast nie an andere Ort verlegt wurden und in den historischen Quellen immer greifbar sind. Ein weiterer Aufschwung in der Bauforschung setzte aber vor allem in den letzten Jahren durch den verstärkten Sanierungsbedarf sowie den Einsatz der Dendrochronologie ein.25 Mittlerweile sind durch entsprechende Baumassnahmen zahlreiche baukundliche Untersuchungen auch an Bürgerhäusern (Abb. 5/5–12) vorgenommen worden. Diese lassen sich korrelieren und ergänzen mit den wenigen schriftlichen Nachrichten, wie über den erwähnten Gido oder Nikolaus und dessen Sohn aus dem neustädtischen Steinhaus. Das Altstädtische Rathaus (Abb. 5/5) und das benachbarte Ordonnanzhaus (Abb. 5/10) sind inzwischen aufwendig saniert worden, andere Gebäude, wie das Neustädtische Rathaus (Abb. 5/6) oder private Häuser im Zentrum (Abb. 5/9 und 11) stehen nicht mehr und lassen sich heute nur noch über Ausgrabungen wiederentdecken. Für das aufgehende Mauerwerk sind dann die älteren kunstgeschichtlichen Beschreibungen besonders wertvoll. Buch SKAM 36.indd 120 Andere Gebäude und ihre Bauweisen sind durch archäologische Grabungen bekannt geworden. Aus der Phase der ersten Stadterweiterung der Altstadt stammt ein bäuerliches Hallenhaus in der Plauer Strasse. In der Altstädtischen Fischerstrasse wurden erstmals parzellenübergreifende Untersuchungen möglich. Während dort in der Anfangsphase der Besiedlung im 13. Jahrhundert noch zwei gleichrangige Gebäude standen, rückten beide Parzellen in der Folgezeit stärker zusammen, und zu einem Haupthaus gesellte sich ein deutlich kleineres Nebenhaus.26 Für die meisten Gebäude in der Stadt ist bis weit in die Frühe Neuzeit ein Lehmfachwerk anzunehmen. Angeziegelter Lehmbewurf weist archäologisch ebenfalls darauf hin.27 Die Zahl der archäologischen Untersuchungen im Stadtkern ist wie erwähnt bereits stark angestiegen. Im Wesentlichen ist jeder Stadtteil erfasst. Jedoch handelt es sich bekanntlich vorrangig um Baubegleitungen oder Bauvorbereitungen, bei denen Umfang und wissenschaftliche Fragestellungen durch die Baumassnahmen vorgegeben werden. Sehr viele Untersuchungen fanden lediglich im Strassen- und Vorderhausbereich statt. Es fehlen jedoch die Höfe und weitere grundstücksübergreifende Massnahmen. Als bislang grössten Flächen sind vor einigen Jahren der Markt der Neustadt sowie jüngst mehrere daran anschliessende Parzellen komplett ausgegraben worden. Derzeit erfolgt eine Auswertung der Grabung vom Neustädtischen Markt.28 Es zeigt sich bereits, dass das Fundspektrum eher einfach und ohne übermässig viele herausragende ratsherrliche Objekte ist. Erstmals wurden nun auch von universitärer Seite Grabungen im Stadtkern vorgenommen. In einer Forschungs- und Lehrgrabung der Humboldt-Universität zu Berlin sind in der Ritterstrasse 100 in den Jahren 2006 und 2008 sowohl Vorderhaus-, als auch Hofbereich gegraben worden. Für das Mittelalter zeigt sich eine einfache Bebauung der Parzelle, welche nach dem Hedemannplan 24 25 26 27 28 Müller 2007, 62; ebenso Schich 1994/1995, 65, demnach Brandenburg im Mittelalter rein äusserlich das Bild einer Bischofsstadt bot. Grundlegend zur Baugeschichte: Eichholz 1912; moderne Untersuchungen: Bodenschatz/Seifert 1992; Cante 1994; Kurze 1993; Müller 1999/2000; Müller 2003; Müller 2006; Müller 2007; Nolte 1993. Müller 1999/2000; Müller/Specht 2002. Müller 1999/2000; Jeute 2007b; Jeute 2007e. Die Aufarbeitung der Befunde erfolgt durch den Ausgräber Wolfgang Niemeyer, die Bearbeitung der mittelalterlichen Keramik und Kleinfunde durch Katrin Frey und Felix Biermann, der neuzeitlichen Funde durch Gerson H. Jeute sowie der Tierknochen durch Peggy Morgenstern. 14.11.2009 14:54:25 Uhr Interferenzen bei der Erforschung städtischer Handwerks- und Sozialtopographien 121 von einem grossen Eckgrundstück abgetrennt wurde und dabei ihre Brauereigerechtigkeit verlor. Das Fehlen jeglicher frühneuzeitlicher Befunde deutet auf ein mehrfach beobachtetes Abplanieren von Siedlungsschichten in jüngerer Zeit. Vermutlich wurde das Material für den Bau von Dämmen u. ä. verwendet. Im Hofbereich der Parzelle Ritterstrasse 100 fanden sich erst wieder Handwerksspuren des 19. Jahrhunderts (Abb. 6). Handwerks- und sozialtopographische Nachweise Das mittelalterliche Handwerk in der Stadt verteilt sich folgendermassen (Abb. 9): Im Hochmittelalter finden wir einige technische Gruben und Buntmetallverarbeitung im Bereich der Siedlung Parduín, der erwähnten Vorgängersiedlung der Altstadt. Aus dem Bereich der Neustadt liegen bislang keine Nachweise vor. Für das Spätmittelalter haben wir eine gleichmässige Verteilung sowohl in der Altstadt als auch in der Neustadt. In der Frühen Neuzeit ändert sich das Bild. Während in der Altstadt auch weiterhin das Handwerk in allen Teilen verbreitet ist, sich sogar Eisen- und Buntmetallverarbeitung an zentralen Plätzen findet, ist das Handwerk in der Neustadt stärker im Randbereich zu finden. Der Kern der Neustadt muss demnach eher von den finanzkräftigen Kaufleuten bewohnt gewesen sein. Archäologisch schwer nachzuweisen sind Gastwirtschaften und Brauereien. Die schriftliche Überlieferung dazu setzte erst spät ein. 1325 erhielten die Bürger der Neustadt das Braumonopol im Umkreis von drei Meilen. In der Altstadt entstand vermutlich aus der Tradition des Reihebrauens heraus im Jahre 1473 eine Brauergilde. Die Braugerechtigkeit ist wie erwähnt auf dem Hedemannplan von 1722 verzeichnet. An einigen Stellen in der Stadt deuten spezielle Feuerstellen auf Standorte von Braupfannen (Altstädtischer Markt), ebenso wie Darren (Wallstrasse) mit grossen Mengen an Getreide (Abb. 7/1 und 2). Ob die Nutzung jedoch für den Eigenbedarf oder für ein Gewerbe erfolgte, lässt sich gerade vor dem Hintergrund der Tradition des Reihebrauens nicht mehr nachweisen. Archäologische Hinweise auf Gastwirtschaften können auch charakteristische Fundzusammensetzungen geben. Aus der Lindenstrasse in der Neustadt stammen zahlreiche Wasserflaschen des 18. Jahrhunderts sowie Pfannen, Deckel und das Fragment einer Wärmeschale.29 Leider sind bislang kaum frühneuzeitliche Inventare bekannt, so dass ein Vergleich noch schwerfällt. Andere Buch SKAM 36.indd 121 Abb. 7 Handwerks- und Gewerbenachweise aus der Stadt Brandenburg, 1–2: Brauereigewerbe, 3: Eisengewinnung/-verarbeitung, 4–6: Buntmetallverarbeitung, 7–8: technische Anlagen, 9: Horngewinnung, 10: Knochenverarbeitung, ohne Maßstab. Hinweise kann die Bauforschung durch spezielle Kellergewölbe und rampenartige Kellerzugänge erbringen, wie sie aus zentralen Bereichen beider Städte bekannt sind, beispielsweise aus der Plauer Strasse 11–12 (Abb. 8). Dort wurden unmittelbar an der Strasse liegende, flach gedeckte Kellerräume freigelegt, die mit zahlreichen Wandnischen sowie Fenstern und einer Treppe zur Strasse ausgestattet waren. Eine weitere Tür führte ins Innere des Hauses. Die gesamte Anlage wird als Kauf- oder Schenkkeller des 16. Jahrhunderts gedeutet.30 Die Metallverarbeitung lässt sich archäologisch am häufigsten durch Schlackenfunde nachweisen (Abb. 9). Die früheste schriftliche Erwähnung von Schmieden kennen wir aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Drei 29 30 Jeute im Druck. Müller 2006, 101–102; Niemeyer 2006, 195–200. 14.11.2009 14:54:26 Uhr 122 Interferenzen bei der Erforschung städtischer Handwerks- und Sozialtopographien Abb. 8 Ausgrabung Brandenburg-Altstadt, Plauer Straße 11/12, Rekonstruktion einer Kelleranlage. Schmiedemeister pfändeten ihre Werkstätten, wobei auch Arbeitsgeräte genannt wurden, wie ein grosser Amboss, grosse Speerhaken und Nageleisen, zwei Blasebälge, Hämmer und Zangen.31 In der Plauer Strasse, d. h. an zentraler Stelle in der Altstadt, wurden über 25 kg Schlacke gefunden, darunter Schmiedeschlacken, aber auch Verhüttungsschlacken (Abb. 7/3). Dies scheint für die Innenstadt ungewöhnlich, jedoch war für den Schmied der Verdienst an einer Ausfallstrasse sicherlich besser als in einer Sackgasse. Schmiedeessen lassen sich bekanntlich archäologisch nur schwer nachweisen, da sie als Hochessen nach ihrer Auflassung schnell wieder abgebaut wurden. Mittelalterliche Hinweise gibt es jetzt aus der Ritterstrasse 96 in der Altstadt. Aus der Neustadt ist eine gasbetriebene Schmiede des 19. Jahrhunderts bekannt. Ihr Fundort an einer Ausfallstrasse korrespondiert mit dem Standort eines Postgebäudes in dieser Zeit32 Es ist also denkbar, dass hier die Postpferde neu behuft und Postwagen für ihren weiteren Weg repariert wurden. Die Verteilung der Schlackenfunde in beiden Städten zeigt eine Vielzahl an Fundplätzen (Abb. 9), so dass nicht anzunehmen ist, dass es sich stets um den Standort einer Schmiede gehandelt hat. Wahrscheinlicher sind hier Bau- und Reparaturarbeiten an Häusern und anderen Einrichtungen, bei denen Schlacken anfielen. Ethnogra- Buch SKAM 36.indd 122 phische Parallelen zeigen, wie schwierig der Nachweis solcher, meist sehr einfachen Eisenverarbeitungsplätze sein kann. Die flachen Arbeitsgruben erhalten sich vor allem im Strassenbereich nicht lange. Zudem sind vor allem in der Neuzeit durch umfangreiche Erdbewegungen für Aufschüttungen und Strassenbefestigungen zahlreiche Schlacken verlagert worden. Zu den wichtigen Nachweisen der Buntmetallverarbeitung gehört ein Fundkomplex aus der Münzenstrasse in der Neustadt. Möglicherweise ist er sogar mit der markgräfliche Münze von 1305 in Verbindung zu bringen. Neben graphittongemagerten Fragmenten von Schmelztiegeln gibt es wenige Schlacken, vor allem aber Buntmetallschrott unter den Funden. Am Beispiel der Pauliner Strasse zeigt sich auch, wie kleinräumig oftmals die Erdaufschlüsse bei archäologischen Baubegleitungen sind und wie stark der Nachweis von Handwerk dem Zufall überlassen ist. Neben einem Tiegelfragment deuten Feuerstellen auf die Buntmetallverarbeitung (Abb. 7/4 und 7). An vielen Stellen wurden lediglich Feuerstellen und technische Öfen gefunden, die multifunktional waren (Abb. 7/7 und 8). Ohne aussagekräftige Beifunde, wie Gussformen oder Produktionsabfall bleibt eine konkrete Ansprache meist fraglich. Auf dem Markt der Altstadt wurde eine Buntmetallschmelze ergraben, die in das 16./17. Jahrhundert datiert.33 Zu dieser Einrichtung, die durch Rauch und Lärm die Lebensqualität in der Stadt sicherlich eingeschränkt hat, gibt es Parallelen aus anderen mittleren und kleineren brandenburgischen Städten. Baukundlich in das Jahr 1380 datiert ist eine Gussform mit anhaftenden grünlichen Partikeln (Abb. 7/6). Sie stammt aus einem Gerüstloch des Rathenower Torturmes und diente nach Deutung der Finder vermutlich dem Guss von Kanonenkugeln.34 Nur wenige Hinweise gibt es zur Knochen- und Geweihverarbeitung. Ein Fund aus dem Brückenbereich über die Havel lässt vermuten, dass sich die Werkstatt oberhalb des Überganges auf der Altstadtseite befand. Andere Nachweise sind oftmals einzelne Funde, so auch Knochenfragmente, aus denen Knöpfe oder Paternosterperlen gearbeitet wurden (Abb. 7/10). Von einer Massenproduktion kann also nicht die Rede sein. An einem Fragment aus der Neustadt lässt sich sehr gut die Herstellungsweise 31 32 33 34 Schulz 1993, 179. Freundl. Mitt. J. Müller/Brandenburg (zur Ritterstrasse) und R. Bräunig/Berlin (zur St. Annenstrasse). Jeute 2007a, 144 mit Lit. Holst/Holst 1997/98. 14.11.2009 14:54:26 Uhr Interferenzen bei der Erforschung städtischer Handwerks- und Sozialtopographien 123 Abb. 9 Handwerkstopographie von Alt- und Neustadt Brandenburg. erkennen. So wurde der Knopf offenbar von beiden Seiten herausgebohrt bis ein Steg in der Mitte stehen blieb. Eine Besonderheit ist der Fund zahlreicher Hornzapfen, darunter solche von Schaf und Ziege sowie von jungen Rindern. Man würde dabei vermutlich zunächst an eine Gerberei denken. Schnittspuren an den Hornzapfen (Abb. 7/9) lassen jedoch erkennen, dass hier das Horn gewonnen wurde, welches wohl sehr leicht mit einem Messer vom Zapfen getrennt werden kann. Der Fundplatz in der Strasse Am Temnitz liegt in unmittelbarer Nähe zum markgräflichen Hof des 13. Jahrhunderts, der später zu einem Dominikanerkloster umgewandelt wurde. Buch SKAM 36.indd 123 Während Glasproduktionsnachweise völlig fehlen, gibt es wenige Hinweise auf Töpfereien. Die bislang einzige im Stadtgebiet erkannte Ofenanlage befand sich unmittelbar an der Stadtmauer und wurde auf den überplanierten Resten der alten Stadtbefestigung errichtet. Sonstige Nachweise liefern Töpfereiabfälle. Aus der Frühen Neuzeit stammt die heimische Produktion von helltoniger, bleiglasierter Irdenware, für die man bislang einen Import angenommen hat, und aus dem 19. Jahrhundert liegen Funde einer unglasierten Graukeramikproduktion vor, wie sie bislang aus Polen und Ungarn bekannt ist. Alle Befunde liegen im Randbereich der Neustadt, jedoch sind an den ent- 14.11.2009 14:54:27 Uhr 124 Interferenzen bei der Erforschung städtischer Handwerks- und Sozialtopographien Abb. 10 Städtisches Handwerk und Gewerbe in Brandenburg. sprechenden Stellen in der Stadtmauer keine (ehemaligen) Öffnungen zu erkennen. Somit scheidet die Wassernähe als Grund für eine Anlage am entsprechenden Ort eher aus. Der Handel mit Produkten lässt sich ebenfalls archäologisch belegen, wie am Beispiel der identischen Marienkacheln aus der Neustadt und aus Wiesenburg gezeigt wurde. Seltener sind herausragende Objekte, wie eine Limoger Schnalle aus der Mühlentorstrasse, die über verschiedene Wege in die Stadt gekommen sein kann.35 Ausblick Als vorläufiges Fazit lässt sich sagen, dass jetzt eine Reihe Handwerke und sozialer Gliederungsmöglichkeiten aus der Stadt Brandenburg vorliegen, die differenzierte Aussagen zulassen, wenngleich es für eine im Mittelalter grosse Stadt noch zuwenig Nachweise sind. Die Viergewerke und wichtigen Innungen, wie Bäcker, Fleischer, Schuster und Schneider lassen sich bislang archäologisch nicht belegen. Wichtig ist nun auch ein Vergleich mit anderen Städten in der Region, wie beispielsweise Prenzlau oder Cottbus sowie darüber hinaus (Abb. 10). 35 Buch SKAM 36.indd 124 Grebe/Mangelsdorf 1983. 14.11.2009 14:54:28 Uhr Interferenzen bei der Erforschung städtischer Handwerks- und Sozialtopographien Bibliografie Adress-Buch 1806 – Stadtarchiv Brandenburg a. d. 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Havel 1928. Abbildungsnachweis 1 Hedemann 1722/24 2 Tschirch 1928 (Frontispiz) 3 Bürger Rolla 1656 (GStA) 4, 9, 10 Karte: G. H. Jeute 5 Eichholz 1912 6 Foto: G. H. Jeute 7 Fotos: G. H. Jeute, J. Müller; Zeichnungen: G. H. Jeute, S. Dalitz 8 Niemeyer 2006, 197, Abb. 27 14.11.2009 14:54:28 Uhr Form und Funktion 127 Clemens Joos und Frank Löbbecke Form und Funktion Historische und bauarchäologische Untersuchungen zum Münsterchor in Freiburg im Breisgau Das Münster «Unserer Lieben Frau» in Freiburg im Breisgau ist ein gutes Beispiel dafür, dass das Zusammenspiel verschiedener historischer Disziplinen befruchtend, ja sogar unerlässlich sein kann. Denn die Bau- und Nutzungsgeschichte des Münsters wäre ohne Zusammenschau der archivalischen und baulichen Überlieferung nicht nachvollziehbar, da einerseits für zahlreiche Fragen Schriftquellen gar nicht zur Verfügung stehen und andererseits die funktionale Bedeutung baulicher Gegebenheiten oft nicht auf den ersten Blick erkennbar ist. Am Beispiel der Funktion und Form des Münsterchors soll dies im Folgenden aus historischer und baugeschichtlicher Perspektive erläutert werden. I. Das Freiburger Münster1 war im Mittelalter Pfarrkirche, herrschaftliche Eigenkirche, «Bürgerkirche» und schliesslich, seit 1456/1464 auch Universitätskirche – aber keine Kathedrale. Der Chor war Bestattungsort, Ort für Gericht und Rechtsgeschäfte und selbstverständlich Ort der Liturgie. Seit dem letzten Drittel des 13. Jahrhunderts nahm sich die Bürgerschaft zunehmend des Unterhalts und der Ausgestaltung des Münsters durch die Stiftung von Ausstattungsstücken und Kaplaneien an. Dies führte im Verlauf des Spätmittelalters zu einer langsamen «Kommunalisierung»2 der Kirche als Gebäude und Institution. Ein Betrachter, der um 1450 vom Langhaus nach Osten geblickt hätte, hätte ein Meer von Altären, Ewig LichtAmpeln,3 Zunftkerzen und Grabplatten überblickt. Infolge dieser Entwicklung besteht über das Freiburger Münster seit dem Spätmittelalter eine gute archivalische Überlieferung. Sie umfasst Gedenkbücher (Jahrzeitbuch/Anniversarien), pragmatische Schriftlichkeit (Urbarien, Rechnungen) sowie Urkunden und Akten, die bis jetzt allerdings nur unzureichend erschlossen sind.4 Im Lauf der Zeit nimmt die Quellendichte beständig zu. Anderseits schweigen die Quellen auch zu wesentlichen Fragen, die den Zeitgenossen nicht überlieferungswürdig erschienen oder keiner schriftlichen Regelung bedurften. Vor allem über die Anfänge des Münsters sind Schrift- Buch SKAM 36.indd 127 quellen rar. Gerade einmal zwei Erwähnungen charakterisieren den ersten Bau, das «konradinische» Münster, als aecclesia (1146)5 und oratorium (1186).6 Am Anfang des «bertoldinischen» Münsters, dem spätromanischen Neubau der Pfarrkirche zu Beginn des 13. Jahrhunderts (Bau II), steht die Nachricht, der letzte Herzog von Zähringen Bertold V. sei 1218 hier beigesetzt worden. Sie ist erst verhältnismässig spät, aber aus gut informierter Quelle bezeugt.7 Die Wahl des Begräbnisorts ist dem Historiker ein wertvoller Hinweis auf das herrschaftliche Selbstverständnis und die Nähe eines Herrschers zu einer Institution, ganz besonders, wenn sich damit der Bruch mit einer Tradition verbindet. Denn das Erbbegräbnis der Zähringer hatte sich bis dahin im Kloster St. Peter auf dem Schwarzwald befunden. Die Entfremdung des Herzogs von dem Kloster zeichnete sich indes schon länger ab: Keine Schenkung und kein einziges Privileg von ihm sind für St. Peter überliefert, während er Stadt und Burg Freiburg zunehmend als Herrschaftszentrum ausbaute.8 Der Übergang vom Kloster zur Kirche als Begräbnisort ist ein frühes Beispiel für einen Verlagerungsprozess, der beim Adel in späteren Jahrhunderten häufig zu beobachten ist.9 Die Markgrafen von Baden verlegten beispielsweise seit 1391 ihre Grablege vom Zisterzienserinnenkloster Lichtenthal in die Stadtkirche Baden-Baden, die 1453 zur Stiftskirche aufgewertet wurde.10 Was für das Kloster eine Krise bedeutete,11 dürfte den Neubau des Freibur- 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 Becksmann/Kobler/Kurmann 1996; Schadek 1990; Müller 1970; Stutz 1901. Zum Begriff: Blickle 1985, bes. 97; Lorenz 2008, 200f. Albert 1908. Im Stadtarchiv Freiburg und Erzbischöflichen Archiv Freiburg, Depositum Münsterarchiv. Die wichtigsten Dokumente bis zum Jahr 1500 sind erschlossen in den URM, Auszüge aus den Münsterrechnungen sind (allerdings nicht frei von Lesefehlern) gedruckt bei Flum 2001, 132–158, das Jahrzeitbuch ist ediert von Butz 1983, Teil B. URM Nr. 2 (1146 Dez 3–4, o.O.). Blattmann 1991, Bd. 2, 536 Art. 2, vgl. Bd. 1, 193f., 326; Weber u.a. 1969, 164. Weber u.a. 1969, 169, vgl. zum Verfasser XLI–XLVI; Nachweis der seither erschienenen Literatur bei Krimm 2007. Zotz 2001, 77f. Spieß 2000, 100–107. Schwarzmaier 1995; Schwarzmaier 2005, 115f. Zettler 2001, 125–128; Butz 2002, 45f. 14.11.2009 14:54:28 Uhr 128 ger Münsters um 1200 erst eigentlich veranlasst haben. An den Vorbildern von Strassburg und Basel, dem alten territorialpolitischen Konkurrenten im Breisgau,12 orientiert, dokumentierte der Herzog mit dem Kirchenbau seine herrschaftlichen Ambitionen am Oberrhein. Über Baubeginn und -fortschritt schweigen die Schriftquellen allerdings; und so ist auf dieser Grundlage auch die Frage kaum zu beantworten, wie weit der Bau vorangekommen war, als der Herzog 1218 kinderlos verstarb. 13 Erst aus dem Jahr 1503 stammt eine zuverlässige Lokalisierung des Herzogsgrabs zu Freiburg im Breisgey im chor durch Ladislaus Sunthaym, Historiograph König Maximilians. 14 Nur indirekt bezeugt ist eine Jahrzeit für den Herzog durch eine Urkunde von 1438, aus der hervorgeht, dass bei dieser Gelegenheit die Priesterschaft singend und betend über das Grab schritt.15 Daraus ist abzuleiten, dass es sich bei dem Herzogsgrab um ein Bodengrab handelte. Die herrschaftliche Prägung, die der Chor durch das Grab erhielt, zeigt sich auch in seiner Nutzung als Gerichtsort, auf die möglicherweise auch die Ikonographie des Raums abgestimmt wurde. 16 In einer Eventualverfügung sicherte die Pfalzgräfin Klara von Tübingen 1356 der Freiburger Bürgerschaft gewisse Vergünstigungen zu, unter anderem wenn sie von des gerihtes wegen als ein herre oder eine frou zu Friburg in dem münster zuo Friburg uf dem kor rihtet umb eigen und umbe erbe. 17 Zwar wurde die Gräfin kurze Zeit später von ihrem Onkel aus der Herrschaft gedrängt.18 Doch spricht aus der Formulierung die Selbstverständlichkeit, mit der im Chor Gericht gehalten wurde. Entscheidungen über «Eigen und Erbe», zu denen vermutlich noch das Blutgericht und Fälle des «Huldverlusts» des Stadtherrn hinzutraten, waren Gegenstände des einmal jährlich stattfindenden Grafengerichts, das bis zum Ende der Herrschaft der Grafen über die Stadt Bestand hatte. Daneben gab es ein Schultheissengericht, das auf dem Kirchhof des Münsters zusammentrat und später die Funktion des Grafengerichts übernahm, bis es seinerseits infolge der Verpfändung des Schultheissenamtes an die Stadt mit dem Gericht des Rates amalgamierte. 19 Das Grafengericht tagte öffentlich im Beisein der gesamten Gerichtsgemeinde; für das Nichterscheinen bei diesem Gericht sah der Stadtrechtsentwurf von 1275 Sanktionen vor.20 Das Münster war eine Versammlungsstätte, die solche Öffentlichkeit zuliess. Ausserdem sass Graf Egen IV. auch in seiner Funktion als Landgraf in Únser Frowen múnster ze Friburg [...] offenlich ze geriht, so bezeugt zum Buch SKAM 36.indd 128 Form und Funktion Jahr 1362.21 In dieser herrschaftlichen Funktion haben sich die Grafen auch in vier Steinskulpturen am Westturm des Münsters darstellen lassen. Eine dieser Figuren hat den Gestus des Richters eingenommen, die Beine übereinandergeschlagen und das Schwert in der Scheide darüber gelegt. Mit der anderen Hand weist sie auf eine Adlerspange an der Brust, die als Anspielung auf die Herzöge von Zähringen gedeutet wird. Offenbar wollte der Graf mit dieser Darstellung zur Legitimation seiner Herrschaftskonzeption (Anspruch auf den ganzen Breisgau) und Herrschaftspraxis (im Gericht) auf das Vorbild der Zähringer verweisen.22 Die Rechtsprechung am Grab des letzten Zähringers könnte eine ganz ähnliche rechtssymbolische und herrschaftspolitische Funktion besessen haben. Auch für andere Rechtshandlungen wurde das Münster genutzt: 1298 tagte ein geistliches Gericht unter Vorsitz des Konstanzer Dompropstes Konrad wegen eines Streits um die Kirche St. Walburg in Waldkirch in choro ecclesie parrochialis Friburg. 23 Ebenso wurden Vertragsabschlüsse im Münster beurkundet. 1437 bestätigte der päpstliche Notar Johannes von Surse die Besetzung einer Pfründe in novo choro prope sacristiam.24 1434 vollzog sich die Wahl eines anderen Kaplans vor dem Notar Johannes Ysenli in choro ecclesie parochialis maioris.25 Allerdings war der Chor nicht der einzige Ort dafür, sondern konkurrierte mit anderen Örtlichkeiten innerhalb26 und 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 Zotz 1995. Vgl. aber aus kunsthistorischer Sicht Becksmann 1991. Parlow 1999, 418f., Nr. 645. URM Nr. 530 (1438 Sep 27, Freiburg). Becksmann 2005, 18–22, vgl. 25f. URM Nr. 163 (1356 Dez 24, Freiburg). Butz 2003. Schwineköper 1965, 17. Blattmann 1991, Bd. 2, 668, Art. 69: [...] Swenne der herre heizet gebieten den burgern gemeinlich fûr sich ze ge riht, swer daz hoerit, unde nût en kumit, der ist dem herrin sehzig schillinge schuldig (1275 Jul, Freiburg). Dambacher 1864, 108–110 (1362 Sep 14, Freiburg). Butz 2002, Bd. 1, 143–148, 283. Hefele 1940–1958, Bd. 2, 298f., Nr. 245 ([1298 nach Mai 27] Freiburg); ungenau: URM Nr. 57. URM Nr. 528 (1437 Okt 13, Freiburg). URM Nr. 513 (14 34 Aug 4, Freiburg). URM Nr. 604 (1450 Apr 22, Freiburg): in medio sacristie ecclesie parochialis maioris. Hefele 1940–1958, Bd. 1, 203f., Nr. 229, URM Nr. 36 (1269 Nov 14, Freiburg): in cimiterio ante fores parrochialis ecclesie Vriburg[ensis]; Nr. 39 (1273 Jun 9, Freiburg): in curia viceplebanorum ecclesie parochialis in Friburg; 361 (1403 Apr 5, Freiburg): an dem kilchof; Nr. 377 (1407 Feb 22, Freiburg): im Pfarrhof; Nr. 497 (1432 Aug 3, Freiburg): in vico ante domum seu stubam consorcii vulgariter «Zuo dem Riter» nuncupatam ex opposito monasterii Beate Virginis Marie sitam; Nr. 505 (1433 Dez 22, Freiburg): in domo fabrice ecclesie parochialis Beate Marie Virginis, Nr. 693 (1459 Apr 26, Freiburg): in cimiterio parochialis ecclesie Beate et semper gloriose Virginis Marie prope ianuam curiam parochialem respicientem, etc. 14.11.2009 14:54:28 Uhr Form und Funktion ausserhalb27 der Kirche. Manche Beurkundungen im Münster lassen überhaupt keine nähere Lokalisierung zu.28 Seit etwa 1300 traten neben den Münsterpfarrherrn und seine vier Vikare, die sogenannten «Vierherren», Kapläne auf privat gestifteten Benefizien. Die wachsende Zahl von Klerikern an der Kirche gab dem Münster auch seinen Namen: Wenn man recht sieht, ist erstmals 1314 von Stiftungsgeld an Unsere Frouwen bu ze Friburg an das münster die Rede, womit die Pfarrkirche als Ort einer Klerikergemeinschaft charakterisiert wird. 29 Spätestens seit 1352 zeichnen sich Versuche seitens des städtischen Rats ab, Einfluss auf diese Kleriker zu gewinnen,30 die zum Erlass der Präsenzstatuten von 1364 führten.31 Sie regelten wesentliche Bereiche der Lebens- und Amtsführung sowie des Zusammenwirkens der Kapläne und verliehen ihnen den Rechtsstatus einer geistlichen Körperschaft, sodass von nun ab von einem «Münster» im eigentlichen Sinn, von einer Grosskirche mit einer Gemeinschaft korporativ zusammengeschlossener Kleriker, gesprochen werden kann. Weitere Statuten folgten 1400 und 1464. 32 Sicherlich nicht zufällig in engem zeitlichen Zusammenhang mit diesen Vorgängen fallen die ersten Anstrengungen zum Bau des spätgotischen Langchors, der den Klerikern Raum geboten hätte. Am 24. März 1354 wurde mit dem Chorbau begonnen; so hält es eine Bauinschrift am Chornordportal fest.33 Aufgrund der politischen und wirtschaftlichen Ungunst der Zeit gerieten diese Baumassnahmen jedoch ins Stocken und blieben zunächst unausgeführt liegen. Das Münster behielt seinen alten, spätromanischen Chorschluss noch weitere 100 Jahre bei. Über das Aussehen des Chor- und Vierungsbereichs häufen sich nun die Nachrichten. Der Hochaltar, als Fron-, das heisst: Herrenaltar bezeichnet, war vermutlich frei umgehbar. Neben dem Fronaltar, zur Nikolauskapelle im südlichen Hahnenturm hin, befand sich seit 1311 ein Ewiges Licht, zwei weitere kamen später hinzu.34 Auch neben dem Sakramentshaus brannte ein Ewiges Licht.35 Ausser dem hier zu lokalisierenden Herzogsgrab befanden sich noch weitere Gräber vor dem Hochaltar.36 Das erste meßsingen eines Priesters, die Primiz, fand uff dem choer statt.37 Zu besonderen Anlässen wie dem Jubeljahr 1500, zu dem ein grosser Andrang im Münster herrschte, wurde im Chor Beichte gehört. Der Freiburger Stadtschreiber schildert dieses Ereignis: Item oben im chor sassen doctores von der universitet und dem muenster, unnd was ydem vatter einem och ein stat da oben geben unnd darnach geteilt allenthalb in die kilhen.38 Buch SKAM 36.indd 129 129 Von besonderem Interesse sind bei diesen Nachrichten die Präpositionen: «auf» beziehungsweise «oben»: Sie deuten auf einen hochgelegenen Chor hin. An gewöhnlichen Tagen nahm auf dem Chor die Geistlichkeit Platz. 1454 ist von dem kilcherren und gemeiner caplan uf irem chor des vorgenanten münsters die Rede.39 Spätestens seit dem Jahr 1400 waren die Kapläne dazu gehalten, zusammen mit dem Pfarrrektor die horas canonicas zu beten.40 1465 wurde diese Vorschrift dahingehend gelockert, dass, aufgeteilt nach einem Wochenturnus, nur noch 16 oder 17 Kapläne gleichzeitig Dienst tun sollten.41 Lässt die Gerichtsnutzung in der Grafenzeit schon relativ früh eine Sitzanlage im Chor erschliessen, so ist im 15. Jahrhundert auch ein Chorgestühl bezeugt, das dem Chorgebet der Münstergeistlichkeit diente. Dazu besass es angehängte Kettenbücher: Item 3 groß psalter im kor, an dem gestul angehenkt, und andre bucher mer, die im kor ligen und alle angehenkt sein.42 Von diesen Chorbüchern ist noch mehrfach zu hören, weil sie 1492,43 149544 und 150545 «renoviert» und 1497 mit «Zeichen»46 (Exlibris?) versehen wurden. Ausser den Psaltern gab es hier auch ein Antiphonar und ein Graduale. 1496 kam noch ein Vigilienbuch hinzu.47 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 Hefele 1940–1958, Bd. 1, 46, Nr. 60 (1237 Jul): in ecclesia de Friburc; 55f., Nr. 67 (1239 Apr 8, Freiburg): in maiori ecclesia Friburc, 56f., Nr. 68 (1239 Apr 8, Freiburg): in maiori ecclesia Friburch; 1346 (Urkunde 1346 Mrz 6, Freiburg) fand eine Befragung von Zeugen statt, die ze Friburg in dem münster offenliche verjahren [= aussagten], und swuoren ovch des mit uferhepten handen gelerte eide ze den heiligen in dem selben münster ze Friburg. Poinsignon 1890, 37, Nr. 90, URM Nr. 78 (1314 Mrz 30, Freiburg). URM Nr. 147 (1352 Jun 4, Konstanz). Flamm 1905/1909, 68–74, Nachtrag 72f.; URM Nr. 193 (1364 Jun 23, Gottlieben). Flamm 1905/1909, 74–83, Nachtrag 73 (1400 Aug 4, Freiburg); URM Nr. 755 (1464 Jun 15, Freiburg); zum Fortgang Müller 1970, 159. Flum 2001, 162, Nr. 7 (1354 Mrz 24, Freiburg). Poinsignon 1890, 33, Nr. 77 (1311 Apr 21, Freiburg); Albert 1908, S. 39. URM Nr. 879 (1469 Feb 6, o.O.); Albert 1908, S. 39. Butz 1983, Teil B, 266f., 345. Münsteranniversar, fol. 39r; Druck bei Albert 1905, 90 (15. Jahrhundert). Ratserkanntnusbuch 1494–1502, fol. 6r–8v, hier 6v (1500, Freiburg); Abdruck bei Mone 1848–1867, Bd. 3, 588f. URM Nr. 648 (1454 Aug 9 [Freiburg]). Flamm 1905/1909, 75. URM Nr. 755 (1464 Jun 15, Freiburg); Müller 1970, 158. Flamm 1906, 77. Münsterrechnungen 1491/II–1492/I–II [fol. 9r]: Item i lb dem Gessler, psalter uf dem chor zu renoviern. Münsterrechnungen 1495/I [fol. 18r]: Item v ß d dem Lutzen buoch binder, von einem psalter im chor von nuwen in zebinden und beschlahen. Münsterrechnungen 1505/II [fol. 11r]: Item x ß Hainrich Gesler uff rechnung, die psalter uff die zwen chor zuo boessern und den anthiphonarium und das gradumal [!] uff Appolonaris. Münsterrechnungen 1497/I [fol. 14r]: Item i ß, umb zeichen in die buecher im chor und sust. Münsterrechnungen 1496/I [fol. 16v]: Item ii ß, umb ein vigily inzebinden, in den chor geschenkt von den vier herren. 14.11.2009 14:54:29 Uhr 130 Auch die Professoren der Universität besetzten zu bestimmten Gottesdiensten das Chorgestühl, sonst nahmen sie vor dem Chor Platz.48 Als sie 1513 inmitten der Altäre vor der Kanzel neue Sitze errichten lassen wollten, gerieten sie mit dem Rat in Konflikt, weil dort auch «ehrwürdige Damen» ihren Platz hatten, die sie nicht vertreiben sollten.49 Aber auch deren Gebetsstühle waren dort in den vorausgegangenen Jahren nicht gerne gesehen gewesen. Nachdem 1505 eine Dame aus der vornehmen Familie der Lupp einen eigenen Stuhl in der Kirche hatte errichten lassen, liessen ihn die Münsterpfleger umgehend wieder abbrechen. Neben dem Argument, dass man dies in der Vergangenheit auch anderen untersagt habe, rechtfertigte der Rat dieses Vorgehen bezeichnenderweise mit der räumlichen Enge, die im Münster herrschte: uß ursach, das kirh eng und deß gemeinen volckhs vil ist und grosse unwil druß ensten wuord.50 Eigene Betstühle vor und neben dem Chor besassen auch die Beginen. Für die Schwestern vom Regelhaus «Zum Lämmlein» ist ein solcher Betstuhl um 1505 beim Hl. Kreuz-Altar, der im Nordquerhaus zu vermuten ist, bezeugt.51 Die Benefizien der Münsterkapläne waren auf die zahlreichen Privataltäre im Münster fundiert, an denen sie die ihnen aufgetragenen Messen zelebrierten. Das Präsenzstatut von 1365 nennt 14 Altäre an der Zahl und regelte die Abfolge der täglichen Messopfer: Liturgisch begann der Tag mit der Tagmesse, dann folgten sieben Messen der Kapläne, dann die Frühmesse, dann zwölf und darauf weitere elf Privatmessen, dann das Hochamt und zeitgleich zehn Privatmessen, am Mittag schloss sich eine Vesper mit dem gemeinsamen Chorgebet an. An bis zu neun Altären wurde gleichzeitig Messe gelesen.52 12 Altäre sind sicher in der Vierung und in den Querhäusern zu lokalisieren. Bei zwei von ihnen befanden sich Ewig Licht-Ampeln.53 Mittig vor dem Chor, an der Stelle, die gewöhnlich der Kreuzaltar einnahm, stand der Johann Baptist-Altar, an dem täglich die erste Messe zelebriert wurde. Mit dem Einzug der Universität in das Münster wurde auch der Weiterbau des Langchors neu forciert. Noch 1464 erteilte der Bischof von Konstanz eine Kollekte und einen Ablassbrief zum Ausbau des neuen Chors.54 1471 wurde der Chor angevangkt ze buw[en].55 So halten es die Rechnungen des Münsterschaffners fest, die mit dem Chorneubau einsetzen und über zahlreiche, wenngleich keineswegs über alle Baumassnahmen informieren. Neuere bauhistorische Untersuchungen haben ergeben, dass der Chor von West nach Ost gebaut wurde und der spätromanische Chor bald nach 1471 abgebrochen worden sein Buch SKAM 36.indd 130 Form und Funktion muss.56 Bezeichnenderweise begannen die Bauarbeiten mit dem Aufziehen von Steinen uf den chor.57 1482 wurde der Dachstuhl errichtet, 1494 die nordwestlichen Hochchorfenster verglast, 1510 die Gewölbe geschlossen.58 Auch über die neue Ausstattung von Chor und Vierung ist man gut informiert. 1505 wurde ein Sakramentshaus in Auftrag gegeben. 59 In den Gruben von Wöplinsberg und Tennenbach wurden Altarsteine gebrochen und auf Schlitten nach Freiburg geschafft.60 Bischöfliche Indulte wurden beschafft, um auf den neuen Altären zelebrieren und die Wandlung vollziehen zu dürfen und die alten Altäre abbrechen zu können.61 Am 4./5. Dezember 1513 wurden der Fron- und Johannesaltar durch den Weihbischof von Konstanz geweiht.62 1515 folgten vier weitere Altäre: der Annenaltar in der Annenkapelle sowie der Kreuz-, Bartholomäus- und ein weiterer Annenaltar.63 Der Rat der Stadt drängte auf eine baldige Neuweihe, weil man mit der Abhaltung eines Reichstags in der Stadt rechnete und inn zukunfft unsers allergnedigisten herrn dess romschen kaysers, ouch andrer herschafft die notturfft erfordern wyll, solch althar zu gepruchen.64 Abermals wurden bischöfliche Indulte beschafft. Die Weihe nahm schliesslich der Basler Weihbischof Tilmann Limperger vor, der sich wegen der Einweihung des neuen Friedhofs in Freiburg aufhielt. Eine 14köpfige Festgesellschaft speiste anschliessend für 17 ½ Schillinge im Gasthaus «Zum Sponhart», wofür die 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 Braun 2007, S. 96. Quoniam intellexerit universitas eos velle nova sedilia in ecclesia parrochiali extruere intra altaria ante ambonem; quia vero eo loco matrone honeste solitas quasdam mansiones habent, quibus consueverunt insistere diutius, possent per hanc innovationem ab ecclesia parrochiali in monasteria expelli [...], Senatsprotokoll (1513 Dez 16, Freiburg), zitiert bei Rest 1960, 119, der den Eintrag fälschlich auf die Universitätskapelle bezieht, vgl. auch ebd. 120. Ratsprotokoll 1504–1506, fol. 62v (1505 Mai 2, Freiburg). Münsteranniversar, fol. 137v (um 1505): [...] ob irrem grab nebent dem heiligen creütz, als die beginnen zuo dem Lemlin in irren stuol gandt. Flamm 1905/1909, 66f., 70–73. URM Nr. 134 (1348 Apr 22, Freiburg): vor dem Johannesaltar; Nr. 63 (1301 Okt 5, Freiburg), Nr. 159 (1356 Aug 9, Freiburg) und Nr. 593 (1447 Nov 28, Freiburg): vor dem Fronleichnamsaltar. URM Nr. 739 (1464 Jan 18, Konstanz). Münsterrechnungen 1471/II [fol. 2r]. Flum 2001, bes. 45f., 84f. Münsterrechnungen 1471/II [fol. 2r]. Flum 2001, 18–20, 40–70. Ratsprotokoll 1504–1506, fol. 53v (1505 Mrz 12, Freiburg). Münsterrechnungen 1506/I [fol. 12v], Dublette [fol. 14r]; 1506/II [fol. 28r], Dublette [fol. 20]. Münsterrechnungen 1513/I [fol. 15v]: Item xiii ß umb das indult, das man dar[f] celebrierren uff den iii althar und von sacrament zuo verwandlen an ein ander ort; [fol. 16r]: Item vi ß umb das indult von den altharien abzuobrechen. Die im Original verlorene Urkunde bei Flum 2001, 167, Nr. 51. Urkunde (1515 Mrz 20, Freiburg). Missiven 1512–16, fol. 208 (1515 Mrz 8, Freiburg); zu den Freiburger Reichstagsprojekten dieser Jahre künftig Joos Diss. 14.11.2009 14:54:29 Uhr Form und Funktion Münsterpflege aufkam.65 Auch das Grab Herzog Bertolds V. wurde in diesem Zusammenhang verlegt: 1514 bezeugt die Chronik des Freiburger Münsterkaplans Johannes Sattler die Grablege zu der rechten seittenn ob der mittel kilch thüer, also im südlichen Seitenschiff.66 Und noch etwas fügt Sattler hinzu: Bei der Neuweihe des Hauptaltars 1513 sei uß desselbigenn grabstein der Fronn alltar gemacht; eine Angabe, die anderweitig zwar nicht zu stützen ist, aber dennoch Glauben verdient.67 Schwieriger ist es, aus den unterschiedlichen Quellen Angaben über die exakte räumliche Situation abzuleiten, die den Beteiligten natürlich vor Augen stand. Da das Jahrzeitbuch die Lage der Gräber im Münster in Relation zu den Altären beschreibt, ergibt sich hier ein Ansatzpunkt, um wie in einem Puzzlespiel die ursprünglichen Altarstellungen zu rekonstruieren. Für zahlreiche Altäre hat dies die Forschung in den vergangenen 40 Jahren mit Erfolg gelöst.68 Andere Altäre wurden hypothetisch im Raum verschoben, ohne dass eine befriedigende Lösung gefunden worden wäre. So soll sich der Oswaldaltar zugleich beim Johannes Baptist-Altar in der Nähe des Aufgangs zum Chor (Grabstein inter altaria Johannis et Oswaldi contiguus ingressui chori) wie auch beim Margarethenaltar (inter altaria Margarethe et Oswaldi) befunden haben,69 der im nördlichen Seitenschiff, auf der Höhe der westlichen Vierungspfeiler gestanden hat. Solange man den Eingang zum Chor und den Johannesaltar an den östlichen Vierungspfeilern vermutete, liessen sich diese Aussagen nicht miteinander in Einklang bringen. Waren die Quellen widersprüchlich oder ging die Forschung von falschen Voraussetzungen aus? Über die Enge der Ostapside hatte man sich zwar gewundert,70 aber keine Folgerungen daraus abgeleitet. Bereits an diesem Punkt der Forschungsdiskussion wäre zu überprüfen gewesen, ob die Grundannahmen über das Aussehen des Chorbereichs überhaupt zutreffend waren. Da die Schriftquellen für diese Frage ausgereizt schienen, mussten hierfür andere Quellengattungen einspringen. Aufgrund der baugeschichtlichen Beobachtungen Karl Beckers und der jüngsten baubegleitenden Untersuchungen im Münster war die Gelegenheit dafür gegeben. 131 Turm über der Vierung, zwei flankierende Türme («Hahnentürme»), einen polygonalen Ostabschluss mit grossem Fenster und reichen Bauschmuck. Grosse Teile davon haben sich bis heute erhalten. Die mittelalterliche Binnengliederung war dagegen bisher weitgehend unbekannt. Auffällig waren die heute nur noch mit Leitern zu erreichenden Türen zu den Hahnentürmen. Auf gleichem Niveau liegen die zur Vierung gerichteten Sockel der östlichen Vierungspfeiler, während sie zu den Querhausarmen 2,20–2,30 m tiefer liegen und vom heutigen Fussboden verdeckt werden. Daraus schloss man, dass der östliche Bereich, meist als «Chor» bezeichnet, wesentlich höher lag als heute. Dass auch an den Pfeilern im Westen Veränderungen vorgenommen worden waren, fiel zuerst Karl Becker, ehemals Landesdenkmalamt Baden-Württemberg, auf. Er schloss daraus auf eine hoch liegende Vierung, ohne diese These letztendlich beweisen zu können. Die Neugestaltung des Altarbereichs im Freiburger Münster führte im Jahr 2006 zu baulichen Veränderungen in der Vierung. So mussten die beiden Altäre seitlich des Chorbogens (Abb. 1) einer neuen Treppenanlage weichen. Die Baumassnahmen mussten bauarchäologisch begleitet werden, um den Verlust an Originalsubstanz möglichst gering zu halten.71 Gleichzeitig ergab sich dadurch die Chance, weitere Aufschlüsse über das Innere der romanischen Vierung zu erhalten. Daher beschränkten sich die Forschungen nicht nur auf die abzubrechenden Altäre und die von dem Eingriff betroffenen Bodenbereiche, sondern es wurden auch die angrenzenden Pfeiler und Wände des romanischen Baukörpers miteinbezogen. 65 66 67 II. Die östlichen Teile der Freiburger Pfarrkirche wurden nach stilistischer Datierung zu Anfang des 13. Jahrhunderts neu errichtet (Bau II). Der spätromanische Baukörper war wesentlich aufwendiger gestaltet als der Vorgängerbau: Er besass ein hohes Querhaus mit Kuppel und (geplantem) Buch SKAM 36.indd 131 68 69 70 71 Münsterrechnungen 1515/I [fol. 11v]. Sattler, fol. 34r. Sattlers Chronik ist oft fehlinterpretiert worden, weil nicht auf die handschriftliche Überlieferung zurückgegangen wurde. Edition der Chronik und Untersuchungen zur Textgeschichte künftig bei Joos Diss., dort auch ausführlich zum Grab des Herzogs. Eine Besichtigung des Altars gemeinsam mit Frau Astrid Hirsch (Geologin), Herrn Christian Leuschner (Werkmeister der Münsterbauhütte), Herrn Stefan King (Bauforscher) und Herrn Prof. Dr. Wolfgang Werner (Landesamt für Geologie, Rohstoffe und Bergbau Baden-Württemberg) am 6. März 2008 ergab, dass die Altarplatte mit dem Scharriereisen abgearbeitet und von unten überstrichen ist. Die mineralogische Beschaffenheit ist monoton, ungeklüftet, kieselig gebunden; ihre Herkunft dürfte in der Emmendinger Gegend zu suchen sein. Dies ist jedoch kein Kriterium gegen eine Datierung ins 13. Jh., da die Steinbrüche am Loretto- und Schlierberg wegen ihrer Lage in der Schwarzwaldrandverwerfung Steine von dieser Blockgrösse nicht hergaben, die Emmendinger Steinbrüche zu diesem Zeitpunkt zweifellos in Betrieb standen und eine Platte von dieser Bedeutung durchaus auch von weiter her geholt worden sein kann. Asal 1969, 26–36; Müller 1970, 160–165; Butz 1983, 169–181. Butz 1983, Teil B, 166, vgl. 98, 130, 327; 65, 147, 219. Wischermann 1980, 20. Auf Anregung von Peter Schmidt-Thomé, Regierungspräsidium Freiburg, wurde die Untersuchung durch das Erzbischöfliche Bauamt Freiburg beauftragt. Voruntersuchung durch Karl Becker und Stefan King, Freiburg. 14.11.2009 14:54:29 Uhr 132 Form und Funktion (Altarunterbau) fand sich in einer vermauerten Nische ein ehemals versiegeltes Reliquar mit Knochenfragmenten und Authentiken, die die Reliquien dem Heiligen Bartholomäus (Nordaltar) und der Heiligen Anna (Südaltar) zuweisen. Als Weihedatum wird das Jahr 1515 genannt. Mensa und Stipes zeigen Abarbeitungen und Ausflickungen mit Backsteinen, vor allem auf der Rückseite – offensichtlich waren die Altäre nachträglich an den Standort vor den Vierungspfeilern angepasst worden. Vermutlich wurden sie im Zuge des Lettnerabrisses 1789 hierhin versetzt. Abb. 1 Vierung und spätgotischer Chor in der historistischen Gestaltung um 1900, vor den Vierungspfeilern die Seitenaltäre mit dem Dreikönigs- und dem Annenretabel (Nord- und Südaltar). Beim Abbau der Altäre musste zunächst die historistische Holzverkleidung von 1822/23 entfernt werden. Darunter kam ein Kastenaltar zum Vorschein. Das spätgotische Profil und die Steinbearbeitung sprachen für eine Entstehung im frühen 16. Jahrhundert. Auf der Vorderseite des Stipes Abb. 2 Der südliche Untersuchungsbereich nach Abbruch des Altars: Sockel des südöstlichen Vierungspfeilers, 1954 umgestaltet, davor die Ost-West ziehende Mauer mit den Stufen. Links das Bauniveau der Vorgängerkirche (Bauphase I) und rechts der Ansatz der vorgelagerten Rundtreppe (Bauphase III). Im Boden unter den abgebrochenen Altären hat sich jeweils ein 1,20 m breiter Mauerzug erhalten, der zwischen den östlichen und westlichen Vierungspfeilern verläuft (Abb. 2). Integriert in den Altarunterbau haben sich die Mauern an den östlichen Vierungspfeilern noch drei Dezimeter hoch über dem heutigen Boden erhalten. Hier sind Stufenansätze erkennbar, die zur Vierung ansteigen. Der zugehörige Fussboden in den Querhausarmen lag damals etwa 25 Zentimeter tiefer als heute. Am südöstlichen Vierungspfeiler fand sich oberhalb der Stufen ein senkrechter Falz. Die Mauern sind zweischalig ausgeführt mit Füllmauerwerk in der Mitte. Die Schalen sind sehr unterschiedlich gestaltet: Während zur Vierung grob zugehauene Bruchsteine zu erkennen sind, weist die andere Seite sorgfältig gearbeitete Sandsteinquader und Verputz auf. Zwischen den Westpfeilern scheint ebenfalls eine Mauer gelegen zu haben – bei Bauarbeiten 1932 wurde im Anschluss an das Fundament des nordwestlichen Vierungspfeilers ein Mauerstreifen freigelegt, der in Richtung des Südwest-Pfeilers zog.72 An den östlichen Vierungspfeilern fällt nicht nur ihre unterschiedliche Sockelhöhe auf, sondern auch Spuren von Umarbeitungen. Die heutige Form erhielten die Sockel erst im 20. Jahrhundert. Zuvor waren hier massive Mauerblöcke vorhanden, die ihrerseits auch schon wieder Folge von Umbaumassnahmen waren. Spuren solcher Umarbeitungen fanden sich auch an den westlichen Vierungspfeilern: Die mittleren, am weitesten in das Querhaus vorspringenden Dienste weisen bis zu einer Höhe von knapp drei Metern signifikante Unterschiede 72 Buch SKAM 36.indd 132 Zeichnerische Dokumentation des Fundamentbereichs des nordwestlichen Vierungspfeilers durch Friedrich Kempf, 1932, im Archiv des Münsterbauvereins Freiburg. Teilabdruck bei Osteneck 1972, Abb. 4. 14.11.2009 14:54:30 Uhr Form und Funktion zum übrigen Pfeiler auf. Sie unterscheiden sich deutlich in Steinmaterial, Fugenhöhe und Oberflächenbehandlung. Ähnliches kann auch bei den zur Vierung gerichteten drei Nebendiensten beobachtet werden, allerdings lag hier die Oberkante der Störung knapp anderthalb Meter tiefer. Die beobachteten Baubefunde ermöglichen eine Rekonstruktion des spätromanischen Innenraums (Abb. 3). Die Mauerzüge zwischen den Vierungspfeilern trennten die Vierung von den Querhausarmen und vom Langhaus ab. Die hohe Störung an den Westpfeilern dürfte der ehemalige Ansatz dieser Mauern gewesen sein, die demnach zusammen mit den Pfeilern errichtet worden waren und über drei Meter hoch gewesen sind. Sie umschlossen die Vierung, deren Boden nach den Spuren an den Nebendiensten ca. 1,70 m höher lag als in den Querhausarmen. Der Bereich östlich der Vierung lag noch einmal 0,70 m höher – auf einer Höhe mit den hohen Pfeilersockeln und den Zugängen zu den Hahnentürmen. Zur hochgelegenen Vierung führten Treppen an den Ostpfeilern hinauf, deren unterste Stufen 2006 freigelegt wurden. Zumindest der südliche Aufgang war verschliessbar, der senkrechte Falz kann als Türanschlag gedeutet werden. Unter der hohen Vierung lag offensichtlich kein Raum, sonst wären die Trennmauern zu dieser Seite sorgfältiger gemauert und verputzt gewesen. Ausserdem wäre dann der heute noch flächig vorhandene Bauhorizont der Vorgängerkirche (Bau I, s. u.) durch den Krypteneinbau zerstört worden. Vor der südlichen Treppe wurde später eine halbrunde Treppenanlage mit einem Durchmesser von drei Metern angefügt (Abb. 4). Die Sandsteine sind mit der Fläche bearbeitet worden und weisen noch keine Spuren des im 15. Jahrhundert aufkommenden Scharriereisens auf. Erhalten blieben von dieser Treppe die erste Stufe und der Abdruck der zweiten. Zwei Bodenerhöhungen ziehen gegen die Stufe. 133 Abb. 3 Rekonstruktion des spätromanischen Ostbaus im 13./14. Jh. Rest der nördlichen Chormauer der ersten Kirche (Bau I) handeln (Abb. 5). Das Chorquadrat dieses Sakralbaus war in Grösse und Lage identisch mit der heutigen spätromanischen Vierung. Bei den Bauarbeiten 1932 wurde die Aussenseite der nördlichen Chormauer mit einer Sockelschräge aus Sandsteinquadern freigelegt. In der aktuellen Ausgrabung kam nun die verputzte Innenseite der gleichen Mauer zum Vorschein. Ausserdem fand sich der zugehörige Bauhorizont – das Niveau, auf dem der Sakralbau in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts errichtet wurde und worüber nach Fertigstellung des Rohbaus der aus Sandsteinplatten Abb. 4 Südmauer mit Treppe und später vorgelagerter Rundtreppe. Unter dem 2006 abgebrochenen nördlichen Altar konnte eine weitere, tiefer liegende Mauer freigelegt werden, die in gleicher Ost-West-Richtung verlief wie die Trennmauer zwischen den Vierungspfeilern. Ihre Südseite war verputzt und ein festgestampfter Erdboden mit Mörtelflecken zog dagegen. Dieser Mauerzug stand nicht im Verband mit den Pfeilern. Er war vielmehr beim Bau der spätromanischen Fundamente teilweise ausgebrochen worden. Demnach ist diese Mauer älter als der bestehende romanische Bau. Tatsächlich dürfte es sich bei der 1,10 m dicken Mauer um einen Buch SKAM 36.indd 133 14.11.2009 14:54:30 Uhr 134 bestehende Chorboden verlegt wurde. Solche Platten fanden sich 1969 im nördlichen Seitenschiff, allerdings einen halben Meter tiefer. Der Chor lag demnach wohl drei Stufen höher als das Langhaus. Der Hochaltar war vermutlich noch weiter herausgehoben. III. Die östlichen Teile der Freiburger Pfarrkirche zeichneten sich seit dem spätromanischen Neubau zu Anfang des 13. Jahrhunderts durch eine vielteilige Raumdisposition aus, die in den Querhausarmen praktisch autonome Sakralräume schuf, abgetrennt durch die hochgelegene Vierung (Abb. 3). Das östlich anschliessende Joch und der Ostabschluss des spätromanischen Baus lagen noch einmal etwa fünf Stufen höher. Hier kann das Sanktuarium mit dem Maria geweihten Hochaltar vermutet werden.73 Die hohe Vierung muss dementsprechend als Chor und die umgebenden Mauern als Chorschranken angesprochen werden.74 Eine Krypta in der Vierung war nicht vorhanden – das konnten die aktuellen Grabungsergebnisse eindeutig belegen. Die Raumsituation macht die Vielzahl der ausweislich der Quellen simultan gefeierten Haupt- und Nebenmessen verständlich. Auch die konstatierten Widersprüche bei den Altarstellungen lösen sich damit auf. Vor dem Chor bei den westlichen Vierungspfeilern standen der Oswald-, Johannes Baptist- und Fronleichnam-Altar, zwischen ihnen führten zwei Treppen zum Chor hinauf (Abb. 3). Baulich erinnert die Anlage stark an die Strassburger Bischofskirche: Hier wie dort finden sich eine hochgelegene, als Chor genutzte Vierung, ein kleines Sanktuarium, seitlich Chorzugänge an den östlichen Vierungspfeilern und zwei Zugänge vom Mittelschiff. In Strassburg erklärt sich die Situation durch die unterhalb liegende Krypta des 11. und 12. Jahrhunderts und durch die Chornutzung der Domherren. Auch das zweite grosse Vorbild für den spätromanischen Neubau, die Basler Kathedrale, hatte ehemals eine höher gelegene Vierung über einer Krypta.75 Fragen wirft auch die erhöhte Bauform des Chors in der Vierung auf. Sie könnte zur Aufnahme einer Klerikergemeinschaft wie in Strassburg oder Basel gedient haben, bevor sie unter den Grafen von Freiburg zum Gerichtsort umgenutzt wurde. Beabsichtigte Bertold V. also die Gründung eines Stifts? Tatsächlich vermochte der Chor ja bis ins 15. Jahrhundert hinein den Bedürfnissen eines vielköpfigen Priesterkollegiums gerecht zu werden. Auch nach dem Bruch des Herzogs mit der Begräbnistradition des Hausklosters St. Peter musste eine Klerikergemeinschaft für seine Memoria eintreten, zumal das Grab in der hochgele- Buch SKAM 36.indd 134 Form und Funktion genen Vierung für Laien nicht zugänglich war. Ein Vorbild könnte abermals in Strassburg gelegen haben, wo es seit etwa 1200 neben dem adligen Domkapitel den «Hohen Chor», eine Gemeinschaft von nichtadligen Klerikern gab, in deren Hand der tägliche Gottesdienst lag.76 Allerdings musste eine solche Klerikergemeinschaft nicht zwangsläufig ein institutionalisiertes Stift sein, und es gibt in Südwestdeutschland und darüber hinaus zahlreiche Beispiele für nicht-stiftische Kirchen, deren Chorbereiche stiftsartige Bauformen aufweisen.77 Die Frage nach der Funktion dieser Chöre ist in grösserem Kontext zu diskutieren. Indessen wurde das Grab des letzten Zähringers durch die hochgelegene Vierung in einzigartiger Weise akzentuiert. Herzog Bertold V. ruhte im Chor und vor dem Sanktuarium. Damit wurde in Freiburg von Anfang an ein Zustand geschaffen, der bei Bertolds berühmtem, königlichen Vorfahren Rudolf von Rheinfelden im Merseburger Dom erst nachträglich im 12. Jahrhundert hergestellt worden war, indem der Chor hier in die Vierung hinein verlängert wurde, das Grab in den Chor einbezogen und gewissermassen durch das Domkapitel vereinnahmt wurde.78 Das Kircheninnere des Freiburger Münsters erhielt durch den erhöhten Chor ein architektonisch deutlich hervorgehobenes Zentrum. Mehr noch als die bisherige Forschung dies gesehen hat,79 tritt dadurch die von Herzog Bertold V. beabsichtigte und von den Grafen von Freiburg in legitimatorischer Absicht fortgeführte Bestimmung des Münsters als herzogliche Sepultur und Memorialbau hervor. Anderseits fordern die neu aufgefundenen Bauformen auch nach neuen Erklärungen ihrer ursprünglichen Funktion. Der nachträgliche Ausbau der südlichen Chortreppe zu einem repräsentativen Halbrund hängt sicherlich damit zusammen, dass sie die direkte Verbindung zwischen der spätgotischen Sakristei und dem Chor darstellte.80 Ihre besondere Gestaltung könnte eine Folge der gesteigerten Bedürfnisse der Liturgie gewesen sein. Mehr noch als der nachtridentinische und nachkonzilia- 73 74 75 76 77 78 79 80 Butz 1983, Teil A, 171 Anm. 7. Zur Unterscheidung zwischen Chor und Sanktuarium vgl. Ernst Gall, Chor, in: Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte 3, 1954, 488–513. Haas 1982, 160–162. Freundlicher Hinweis Christoph Matt, Basel. Lorenz 2008, 177. Untermann 2007, bes. 230–234 mit ausdrücklichem Bezug zu Freiburg; Untermann 1996. Handle/Kosch 2006, bes. 532f., 537f. Übertrieben skeptisch urteilt Schwineköper 1988; im Anschluss daran Schadek 1990, 97. Zur Baugeschichte der Sakristei: Flum 2001, 30–38 und 79–83. 14.11.2009 14:54:30 Uhr Form und Funktion 135 Abb. 5 Grundriss mit Eintrag der Grabungsbefunde von 1932, 1969 und 2006. re kannte der mittelalterliche Gottesdienst Prozessionen der Geistlichkeit zu bestimmten Orten innerhalb des Gotteshauses. Die ursprüngliche Chordisposition mit ihrer Abtrennung von unterschiedlichen Einzelräumen kam diesem Bedürfnis entgegen. In den Quellen werden beispielsweise der «Umgang», der feierliche Einzug der Geistlichkeit in die Messe und die «Visitatio», der Gräberbesuch zu den Seelenmessen, genannt.81 In besonderer Weise ist hier aber an die bildhafte Liturgie während der Karwoche und der Osterfeier zu denken, die vielfältige Ansätze zu performativer Gestaltung bot.82 Nach der Einrichtung des Hl. Grabes im südlichen Seitenschiff im 14. Jahrhundert war es üblich, zusätzlich zur Depositio Crucis am Karfreitag auch das Allerheiligste in einer Pyxis in der Brust der Liegefigur Christi «beizusetzen». Am Ostersonntag wurde es dort feierlich erhoben. Dies geschah unter Beteiligung der Kapläne, die ihre Chorkappen angelegt hatten und vor dem Sakrament mit einem silbernen Rauchfass Weihrauch spendeten.83 Dieser Zug muss sich vom Chor herab über die Treppe in das Langhaus bewegt haben. Durch die neu aufgefundenen Authentiken, die bei der Altarweihe 1515 in den Altären deponiert wor- Buch SKAM 36.indd 135 den waren, werden die Angaben der Schriftquellen nicht nur verbreitert, sondern gleichzeitig im Raum situiert. Bartholomäus- und Annenaltar sind dadurch eindeutig als Altäre vor dem Chor ausgewiesen. Vor diesem Hintergrund wird eine spätere Modifikation im Jahrzeitbuch des Münsters einsichtig, nach der Anna- und Bartholomäusaltar in die Funktion von Oswald- und Fonleichnamaltar eintraten. 84 Denn sie ersetzten jene als Seitenaltäre vor dem Chor. Das bedeutet, dass sich Oswald- und Fronleichnamaltar bis zum Neubau des Langchors vor dem Chor lokalisieren lassen – bei den westlichen Vierungspfeilern, auf der Höhe von Johannes und Margarethenaltar. Für die ursprüngliche Stellung 81 82 83 84 Zum «Umgang»: Schadek 1990, 118; zur «Visitatio» bei den Seelenmessen: Butz 1983, Teil A, 61, 110, 113, 125 (Sanktionen für abwesende Kleriker). Die Jahrzeitstiftung der Münsterbruderschaft schrieb ebenfalls fest, dass die Präsenz zur Vesper und Frühmesse uff beide zyt mit der processe yn dem muenster umb gon solle, um an der Scheinbahre der Bruderschaft ein Miserere zu beten, Münsteranniversar, fol. 34 (1484 Mrz 17 [Freiburg]), Abdruck bei Gerchow 1993, 61f. Vavra 1986, S. 318–321. Münsteranniversar, fol. 121r, vgl. fol. 102r: Ordnung der Zunftkertzen vor dem Hl. Grab; Müller 1970, 171. Butz 1983, Teil B, 27. 14.11.2009 14:54:31 Uhr 136 des Bartholomäus- und Annenaltars ergibt sich bis zum Jahr 1513 eine Lage am – nicht im – Chor und zwar in den Querhausarmen, an der Aussenwand des in der Vierung gelegenen Chors (Abb. 3). Aus dieser Raumsituation heraus werden die Notwendigkeit und Abfolge der Baumassnahmen zu Beginn des 16. Jahrhunderts nachvollziehbar. Nachdem der neue Langchor zur Verfügung stand, wurde der Chor aus der Vierung zurückgezogen und der bisherige Chorbereich abgetieft. Johannes- und Hochaltar mussten neu errichtet werden und wurden zusammen mit dem Chor 1513 neu geweiht, Bartholomäus- und Annenaltar wurden zu beiden Seiten des Johannesaltars vor den neuen Chorabschluss geschoben. Der Hl. Kreuz-Altar in nördlichen Querhausarm musste wohl weichen, weil er dem Form und Funktion Durchbruch zur neuen Annenkapelle im Weg stand. Die Nebenaltäre wurden 1515 neu geweiht. In diesem Zusammenhang wird auch die Neuaufrichtung von Gebetsstühlen durch die Universitätsprofessoren 1513 erklärbar, die den neu gewonnenen Raum einnahmen. Durch die Bodenabtiefung löste sich das bis dahin in der erhöhten Vierung gelegene Grab Herzog Bertolds V. buchstäblich in Luft auf, die Grabplatte erfuhr eine neue Nutzung als Altarmensa und die sterblichen Überreste wurden in das südliche Seitenschiff überführt, wo sie 1667 auch tatsächlich angetroffen wurden.85 Die Chronisten Sunthaym und Sattler geben eine zuverlässige Beschreibung des jeweiligen Ist-Zustandes vor (Sunthaym 1503) und nach (Sattler 1514) dieser Verlegung an. Schriftquellen und Baubefunde vermögen sich gegenseitig zu einem konsistenten Bild zu ergänzen. 85 Buch SKAM 36.indd 136 Kopialbuch C, 270. 14.11.2009 14:54:31 Uhr Form und Funktion Bibliografie Quellen Hefele 1940–1958 – Friedrich Hefele, Freiburger Urkundenbuch, 3 Bde., Freiburg i. Br. 1940–1958. 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Buch SKAM 36.indd 138 Form und Funktion Abbildungsnachweis 1 Archiv des Münsterbauvereins Freiburg 2 und 4 Frank Löbbecke 3 Aktualisierte Zeichnung nach Schaufelberger 2000, 91 5 Plangrundlage Erdmann 1970, Abb. 13 14.11.2009 14:54:32 Uhr Unterschiedliche Geschichte? 139 Ulrich Klein Unterschiedliche Geschichte? Zur Forschungsgeschichte eines andauernden Phänomens I. Vorbemerkung Nachdem in den letzten 30 Jahren Interdisziplinarität in Deutschland in den Geisteswissenschaften häufig beschworen, aber selten erreicht wurde, scheint sich inzwischen eine Art von Resignation auszubreiten. Eine grundlegende Voraussetzung für eine interdisziplinäre Zusammenarbeit wäre, dass beide Partner die gleiche Sprache sprechen, aber bereits dies scheint zwischen Archäologie und Geschichtswissenschaft gegenwärtig weiter entfernt denn je und in absehbarer Zukunft kaum mehr erreichbar zu sein. Nach programmatischen Äusserungen von durchaus verschiedenen Seiten dürfte es allerdings eigentlich kein Problem zwischen Archäologie und Geschichtswissenschaft geben. So schreibt der Prähistoriker Hans-Jürgen Eggert in seiner vielfach benutzten Einführung in das Fach: «Nur bedingt dürfen wir die Geschichte als Nachbarwissenschaft ansehen: es gibt nur eine Geschichte, und zu dieser gehört in vollem Umfang die Vorgeschichte. Unterschieden sind diese beiden Wissenschaften nur durch die Andersartigkeit ihrer Quellen: hier Schriftquellen, dort Bodenfunde».1 Diesen Gedanken greift wiederum Günther P. Fehring in seiner wichtigen Einführung zur Mittelalterarchäologie auf: «Die noch junge Archäologie des Mittelalters ist nach Fragestellungen und Arbeitsziel eine historische Wissenschaft; aufgrund der in Boden eingebetteten Sachquellen und ihrer Methoden ist sie eine archäologische Disziplin. Sie versteht sich als eine von zahlreichen mit dem Mittelalter befassten historischen Teil- oder Zweigdisziplinen. Als eine solche hat sie sich die gemeinsamen Fragestellungen der Mittelalterforschung zu eigen gemacht.»2 Sind also wirklich Prähistorie, Mittelalterarchäologie und Geschichtswissenschaft identisch, nur durch ihre Quellen und die Methoden ihrer Forschungen unterschieden? Praktisch wohl kaum, denn tatsächlich ist die Vorgeschichte heute methodisch und in ihren Fragestellungen denkbar weit von jeder Geschichtswissenschaft entfernt,3 während die Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit tatsächlich in der von Fehring beschriebenen Weise begonnnen hatte, sich als primär historisches Fach zu etablieren. Aus dem Blickwinkel eines Historikers, der als Bauforscher und Mittelalterarchäologe tätig ist, soll in Buch SKAM 36.indd 139 diesem Beitrag versucht werden, Ursachen für die zugrundeliegenden Probleme zwischen Vorgeschichte und Geschichtswissenschaft in der jeweiligen Fachgeschichte in Deutschland zu finden und aufzuzeigen. II. Die deutsche Archäologie bis zum 1. Weltkrieg Begonnen werden soll dabei nicht zufällig in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als im deutschen Sprachraum im Geiste der Romantik die wissenschaftliche Beschäftigung mit der «heimischen Geschichte» wenn auch nicht begann, so doch nun eine vorher nie gekannte Breite erreichte. Ausgangspunkt war dabei, dass nun auf der Basis einer breiten bildungsbürgerlichen Bewegung zahlreiche regional tätige Geschichts- und Altertumsvereine gegründet wurden, die sich die Erforschung der nationalen Geschichte mit allen ihren Facetten auf ihre Fahnen geschrieben hatten. Hier fanden sich Fachwissenschaftler genauso wie Laien auf einer breiten, im Humboldtschen Sinne universellen Basis zur Erforschung der eigenen Geschichte zusammen, wobei der zugrundeliegende Geschichtsbegriff sehr weit war und viele heute selbständige Fächer mitumfasste. Zugleich war diese Tätigkeit von enormer politischer Relevanz, wurde hier doch zugleich die deutsche Einheit vorbereitet. Nachdem diese Bestrebungen 1848/49 vorerst gescheitert waren, suchten die Vereine vorerst zumindest für ihren kulturellen Tätigkeitsbereich zu einer nationalen Vereinigung zu kommen, indem überregionale Zusammenschlüsse gegründet wurden. In diesem Sinne kam es im Jahre 1852 in Mainz und Dresden4 auf Initiative des Hans Freiherrn von und zu Aufsess (1801–1872)5 zur Gründung des «Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine» mit zuerst 28, dann bis 1860 bereits 54 Vereinen.6 1 2 3 4 5 6 Eggers 1974, 16. Fehring 2000, 1. Tatsächlich würde heute anders als noch Eggers 1974 wahrscheinlich auch kaum noch ein Vertreter der Prähistorie behaupten, ein «eigentlich historisches» Fach zu vertreten. Wendehorst 2002, 8. Wendehorst 2002, 7. Wendehorst 2002, 11f. 14.11.2009 14:54:32 Uhr 140 Die Arbeit des Gesamtvereins wurde entsprechend der vorwiegenden Ausrichtungen der verschiedenen regionalen Mitgliedsvereine in drei Sektionen eingeteilt: – Geschichtsforschung und historische Hilfswissenschaften – Mittelalterliche Kunst – Archäologie der heidnischen Zeit7 Damit standen damals Schriftquellen noch gleichberechtigt neben den anderen materiellen Überlieferungen, Sachkulturforschung war integraler Bestandteil der historischen Forschung. Gleichzeitig sollten diese Hauptrichtungen der Tätigkeit der Vereine auch in entsprechenden Häusern eine museale Heimat finden. Dazu wurde nun neben den bereits bestehenden, allerdings immer nur für ihre regionalen Sprengel zuständigen Archiven für die Schriftquellen zwei neue, heute noch bestehende Museen mit nationalem Anspruch und Geltungsbereich gegründet, nämlich in Nürnberg das Germanische Nationalmuseum für die Mittelalterliche Kunst8 und in Mainz das Römisch-Germanische Centralmuseum für das «heidnische Altertum».9 Wiewohl alle drei aufgeführten Hauptrichtungen der Geschichtsforschung in den meisten Vereinen anfangs nebeneinander existierten, waren doch schon bald Vorbehalte untereinander entstanden, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch deutlich verschärfen sollten. Es war dabei vor allem die bereits im 18. Jahrhundert entstandene antiquarische, rein objektbezogene Betrachtungsweise in der Altertumsforschung, die zunehmend die Kritik der Historiker hervorrufen sollte.10 Beispielhaft hierfür ist das in den 1830er Jahren von dem Dänen Christian Thomsen fast gleichzeitig mit dem Salzwedeler Gymnasialdirektor Johann Friedrich Danneil und dem Schweriner Archivar Friedrich Lisch entwickelte und im Prinzip bis heute angewendete «Dreiperiodensystem» mit seiner Abfolge von Steinzeit, Bronzezeit und Eisenzeit nach den vorherrschenden Materialien für Werkzeuge.11 Unterschiedliche Kultur- und Gesellschaftsstrukturen wurden damit in ihrer Abfolge auf das Fundmaterial reduziert, ohne dass damit weitergehende Fragestellungen verbunden worden wären. So schrieb bereits im Jahre 1844 der Tübinger Bibliothekar Karl August Klüpfel (1810–1894) über die damalige archäologische Altertumsforschung mit ihrer antiquarischen Ausrichtung: «Hier ist das Gebiet, auf dem sich der Dilettantismus und die Curiositätenkrämerei breit macht, und es ist oft wirklich lächerlich, mit welcher Wichtigtuerei einige Buch SKAM 36.indd 140 Unterschiedliche Geschichte? alte Scherben, Ringe und Waffen, die aus einem Grabe hervorgezogen worden sind, beschrieben werden, als hätte man die wichtigste Entdeckung gemacht (...) Genau betrachtet haben diese Ausgrabungen nirgends zu grossen Resultaten geführt, jedenfalls ist der Wert ihrer Entdeckung ein bloss secundärer, indem sie anderweitige Nachrichten bestätigen, aufgeworfene Vermutungen bestärken und nur durch Combination mit physischen und geographischen Verhältnissen des Fundorts einige historische Ausbeute gewähren».12 Wenn man dieses über 150 Jahre alte Zitat heute als Gradmesser archäologischer Erkenntnis aus historischer Sicht nutzt, wird man schnell feststellen müssen, dass es vielfach immer noch Gültigkeit besitzt. Eine ohne weitergehende Fragestellungen arbeitende Archäologie ist oft bestenfalls nur in der Lage, historische Vorgänge zu illustrieren, ohne selbst historischen vergleichbare Quellen zu schaffen oder ihre Quellen entsprechend auszuwerten.13 Solche zeitgenössische Kritik hatte offenbar nicht verhindern können, dass die antiquarische Betrachtungsweise lange Zeit die deutsche Altertumsforschung beherrschte und durch ihren Mangel an historistisch relevantem Gehalt eine zunehmende Entfremdung von der Geschichtswissenschaft bewirkte. Das antiquarische Beharren14 einerseits hatte dabei sein Gegenstück in der fortschreitenden Entwicklung des Historismus im Rahmen der Geschichtswissenschaft andererseits, was im Ergebnis die Spaltung des früher einheitlichen Geschichtsbildes zur Folge hatte.15 7 8 9 10 11 12 13 14 15 Wendehorst 2002, 9. Deneke/Kahsnitz 1978. Wendehorst 2002, 10. Hier macht sich nun die Entstehung des Historismus bemerkbar, der sich immer kritisch von der antiquarischen Betrachtung abzusetzen suchte; siehe hierzu: Historismus 1996 und Rüsen 1993. Eggers 1974, 32ff. Klüppel 1844, 547. Deutlich wird dies heute besonders in vielen historischen Ausstellungen, von der Stauferausstellung 1977 bis zur Elisabethausstellung auf der Wartburg 2007, bei denen jeweils einige mittelalterliche Ausgrabungsfunde als nicht interpretiertes Beiwerk neben der üblicherweise vorherrschenden «Flachware» präsentiert wurden. Dies als individuelles Versagen der Ausstellungsmacher zu sehen, würde aber zu kurz greifen, denn hier wird das grundlegende strukturelle Problem einer Mittelalterarchäologie deutlich, die der Geschichtswissenschaft offensichtlich nichts zu sagen hat und entsprechend von dieser auch nicht verstanden werden kann. Eine solche Kritik der antiquarischen Methode beruht natürlich auf den Grundsätzen der wissenschaftlichen Moderne; in der inzwischen aufgekommenen wissenschaftlichen Postmoderne – wenn man dies nicht als einen Widerspruch in sich ansehen will – kam es dagegen zu einer durchaus positiven Einschätzung auch des Antiquarianismus als «Datenbank der Vormoderne» und Mittel zur Auswertung unmittelbarer Überlieferung; siehe hierzu Ernst 1994, 140. Historismus 1996; Rüsen 1976 und Rüsen 1993. 14.11.2009 14:54:32 Uhr Unterschiedliche Geschichte? Dies führte dazu, dass sich, während die Zahl der Vereine im Gesamtverein von 50 1884, 65 1887, 92 1889, 114 1891 und 142 im Jahre 1900 ständig wuchs,16 in den deutschen Geschichts- und Altertumsvereinen dann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Altertumskunde zunehmend verselbständigte, was schliesslich zur Spezialisierung bestehender und Gründung neuer spezialisierter Vereine führte. Eine solche Abgrenzung wurde im Prinzip von beiden Seiten begrüsst: Die Altertumskunde konnte nun ohne interne Kritik weiter ihre Gegenstände antiquarisch betrachten, während sich die Geschichtswissenschaft in Deutschland, anders als in anderen Ländern, vor allem unter dem Einfluss der bestimmenden «Göttinger Schule» nun mehr oder weniger ausschliesslich den schriftlichen Überlieferungen zuwandte und andere materielle Quellen ausser acht liess.17 Der ansonsten gegenüber der Fachgeschichte durchaus kritische Alexander Gramsch sieht in dieser Periode «...die Emanzipation der Urgeschichtsforschung, die Loslösung von der Geschichte und Aufwertung gegenüber Klassischer Archäologie und Philologie».18 Der nun entwickelte Begriff der «Vorgeschichte» grenzte das Fach, das vor allem durch den Einfluss des Mediziners Rudolf Virchows nun zeitweise eine deutlich stärkere naturwissenschaftlich-positivistische Ausrichtung bekam, auch programmatisch von der Geschichtswissenschaft ab. Eine zunehmend unabhängige, wenn auch akademisch noch nicht verankerte eigenständige Vorgeschichtsforschung ersetzte nun die einheitliche Geschichts- und Altertumsforschung älterer Prägung. Diese Art von «Emanzipation» führte dann bald nach der Jahrhundertwende folgerichtig zur Gründung der heute noch bestehenden Altertumsvereine als neuer Dachverbände der prähistorischen Forschung ausserhalb des älteren Gesamtvereins. Unmittelbarer äusserer Anlass war die bevorstehende Bildung der staatlichen RömischGermanischen Kommission 1902, der gegenüber ein Ansprechpartner auf Vereinsebene geschaffen werden sollte, die Gründe lagen aber, wie dargestellt, wesentlich tiefer. Die negative Auswirkung dieser Abspaltung wurde auch von den Zeitgenossen durchaus wahrgenommen, wie die rückblickende Ansprache des damaligen Vorsitzenden des Gesamtvereins Georg Wolfram 1928 bei der Hauptversammlung in Danzig zeigte. So führte er aus, dass, während in den ersten Jahrzehnten des Bestehens des Gesamtvereins die Vor- und Frühgeschichte noch im Vordergrund gestanden habe, diese in den letzten Jahren Buch SKAM 36.indd 141 141 gegenüber der rein historischen Arbeit mehr und mehr zurückgetreten sei. Das läge daran, dass sich die Kreise, welche sich mit Archäologie und Denkmalpflege beschäftigten, zu selbständigen Vereinigungen zusammengeschlossen hätten und neben dem Gesamtverein nun auch eigene Tagungen abhielten.19 Und weiter folgerte er: «Ich fürchte, dass die Absonderungen nicht zum Segen der gesamtdeutschen Wissenschaft gereichen. So hervorragend auch die Männer sind, die in Museen und archäologischen Vereinen die fachwissenschaftliche Führung haben, so bedenklich erscheint es jedoch, wenn durch zunftmässige Absonderung der Gedankenaustausch mit den Kreisen der Fachhistoriker zurücktritt und der Zusammenschluss mit den breiten Schichten der gebildeten und heimatliebenden Bevölkerung verloren geht.»20 Der zweite Teil dieser Ausführungen mit dem Bezug auf die Fachwissenschaft macht noch einmal einen Rückblick auf das 19. Jahrhundert, nun aber speziell den akademischen Bereich, notwendig. Die Einheit zwischen akademisch institutionalisierter Wissenschaft, ausseruniversitären Wissenschaftlern und dem breitem Kreis der interessierten Laien, oft als Indiz für eine noch vorwissenschaftliche Phase des Faches insgesamt negativ bewertet, war nämlich bereits seit der Jahrhundertmitte zunehmend unter Druck geraten. Bereits 1851 hatte Jacob Grimm geschrieben: «Universitätsstädte taugen nicht als Sitz für historische Vereine, sie nehmen einen höheren Schwung. Stösst einem Professor etwas Altertümliches auf, so hat er Mittel und Wege, es anderwärts vorzubringen und nach seiner Weise schon zu verarbeiten; er wartet damit nicht auf ein Vereinsheft, das ihm nicht vornehm genug ist. Kurz, der Gegensatz der höheren Universität stört die stille ländliche Tätigkeit, ohne welche der Verein nicht gedeiht.»21 Es machte sich also langsam ein Gegensatz zwischen bürgerschaftlicher und akademischer Forschung bemerkbar, der sich insbesondere nach der Reichsgründung 1871 verschärfte: Aus Sicht der Regierungen hatten die Vereine mit der Reichgründung «von oben» ihre Auf- 16 17 18 19 20 21 Wendehorst 2002, 21. Historismus 1996. Gramsch 2006, 6. Wendehorst 2002, 41. Korrespondenzblatt des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine 77 (1929), Sp. 3., nach Wendehorst 2002. Wendehorst 2002, 14. 14.11.2009 14:54:32 Uhr 142 gaben nun erfüllt, an ihre Stelle traten die im obrigkeitlichen Sinne viel besser lenkbaren Universitäten als Träger «nationaler Wissenschaft». Innerhalb der Geschichtswissenschaften sah man dies als notwendigen Schritt einer Professionalisierung des Faches an, ja geradezu als Vollzug des Übergangs zur Phase der Wissenschaftlichkeit. Mit dem Ausbau der Geisteswissenschaften setzte parallel aber auch eine verstärkte Fachbildung ein. Hierzu gehörte in allen geisteswissenschaftlichen Fächern im Deutschen Reich stets sich wiederholend die scharfe programmatische Abgrenzung eines Teilbereichs des bisherigen Faches und der Aufbau eines zugehörigen eigenen Lehrgebäudes, der Paradigmen im Sinne von Thomas S. Kuhn oder der «disziplinären Matrix» im Sinne Rüsens.22 Interessant ist in diesem Zusammenhang der zutreffende Einwand von Iggers, dass Geschichte auch Wissenschaft werden könne, ohne sich als Disziplin zu institutionalisieren, wie etliche andere europäische Länder zeigten.23 Vor diesem Hintergrund ist es sicher richtig, die Entwicklung in Deutschland als «deutschen Sonderweg» der Wissenschaftsgeschichte zu betrachten. Dies ernst genommen, und auf die anderen hier betrachteten Fächer ausgedehnt, würde dann die Perspektive zu einer vergleichenden Wissenschaftsgeschichte im gesamteuropäischen Rahmen eröffnen, wie sie bislang zumindest aus deutscher Sicht vielfach noch fehlt, wird hier doch die nationale Entwicklung oft noch implizit als einziger möglicher Weg gesehen und entsprechend überschätzt.24 Typisch für die deutsche Entwicklung ist dann zusätzlich, dass sich innerhalb der entstandenen Fächer schnell konkurrierende «Schulen» entwickelten, was die Abgrenzung untereinander noch weiter förderte. Da sich die verschiedenen Schulen der deutschen Geschichtswissenschaft bei allen Gegensätzen nun fast ausschliesslich mit Personen- und Ereignisgeschichte beschäftigten, fehlten bald auch von dieser Seite die Anknüpfungspunkte für eine Zusammenarbeit mit den zwar nicht programmatisch, aber dennoch faktisch weit eher auf Fragen der Alltagsgeschichte bezogenen Altertumswissenschaften. Akademische Professionalisierung bedeutete schliesslich zugleich auch die Abkehr von den auch Laien einschliessenden Vereinen und Forschungsinstitutionen, die nun unter Abgrenzung des eigentlichen akademischen Bereiches vor allem den aus Ordinariensicht niedrigeren akademischen Rängen von Bibliothekaren und Archivaren überlassen wurden. Der Universalismus Humboldts wurde also nun tendenziell zunehmend durch abgegrenzte Einzelfächer Buch SKAM 36.indd 142 Unterschiedliche Geschichte? ersetzt, wobei in diesem teilweise jahrzehntelang andauernden und keineswegs gradlinigen Prozess allerdings auch noch erhebliche Freiheiten blieben. Dies lässt sich beispielhaft deutlich im Bereich der Antikenforschung und klassischen Archäologie in Deutschland zeigen, wo nach den aufklärerischen Wurzeln des 18. Jahrhunderts nun im 19. Jahrhundert zunehmend auch die beabsichtigte aussenpolitische Wirkung bestimmend wurde, wodurch das Fach eine ganz andere Relevanz bekam. So hat man das auf durchaus vereinsähnliche Vorläufer in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückgehende Deutsche Archäologische Institut (DAI) 1871 in eine preussische Staatsanstalt und 1874 in eine Reichsinstitution im Geschäftsbereich des Aussenministeriums, wo das DAI übrigens bis heute angesiedelt ist, umgebildet, mit der Zentrale in Berlin und anfangs Zweigstellen in Rom und Athen.25 Allerdings gab es damals in der Antikenforschung zwar mit kunsthistorisch fundbezogenen Archäologen, geografisch ausgebildeten Topographen und philologisch ausgerichteten Epigraphikern eine deutlich breitere Ausrichtung als in der auch nach Montelius mehr oder weniger nur antiquarisch interessierten «nordischen» Altertumsforschung, aber eigentliche Archäologen im modernen Sinne fehlten noch weitgehend. Dafür fanden hier für die Aufnahme der ergrabenen Architekturreste die Bauhistoriker der Architekturfakultäten ein wichtiges Arbeitsfeld. Sie vor allem waren es, die den Blick der Ausgräber von den bislang im Vordergrund stehenden Funden mit ästhetischen Ansprüchen auf die Bedeutung der (Architektur-)Befunde lenken sollten. In diesem Zusammenhang war als Bauforscher26 von Seiten der Berliner Bauakademie seit 1874 der Berliner Ordinarius für Baugeschichte Friedrich Adler (1827– 1908) bei der deutschen Ausgrabung in Olympia tätig. Er gewann den von ihm ausgebildeten Architekten Wilhelm Dörpfeld, der inzwischen im Eisenbahnbau tätig gewesen war, 1877 für diese Grabung, deren Leitung der junge Dörpfeld bereits im darauffolgenden Jahr übernahm. 22 23 24 25 26 Rüsen 1976. Siehe hierzu Iggers 1994. Umgekehrt ist es so, dass im Rahmen einer Geschichte der Weltarchäologie die deutsche Archäologie nach 1914 offenbar kaum noch Leitungen und Persönlichkeiten hervorgebracht hat, die in einem solchen Rahmen grösserer Erwähnung Wert wären, siehe dazu z.B. das auch auf Deutsch vorliegende Standardwerk Daniel 1982. Siehe hierzu Michaelis 1879 und DAI 1979–1986. Es handelt sich hierbei zweifellos bereits um Bauforscher, wenn auch dieser Begriff damals noch nicht existierte und erst in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts entstand. 14.11.2009 14:54:32 Uhr Unterschiedliche Geschichte? Bis zum Abschluss der Arbeiten 1882 entwickelte er hier mit minutiösen Bauaufnahmen und detaillierten Beobachtungen von baulichen Strukturen und zugehörigen Schichten sowohl die Grundlagen der modernen Bauforschung als auch der stratigraphisch arbeitenden Archäologie, die hier also durchaus gemeinsame Wurzeln besitzen. Dörpfelds Ruf hatte sich schnell verbreitet, so dass ihn Heinrich Schliemann 1882 für seine privat finanzierten Grossgrabungen gewann und 1885 als Grabungsleiter in Troja und Tiryns im Rahmen seiner ausgedehnten Grabungsunternehmungen beschäftigte. Hier arbeiteten nun, vergleichbar den glücklichsten Konstellation in den frühen historischen Vereinen, ein fachlicher Aussenseiter, der seine Unternehmungen gegen die herrschende Lehre durchgesetzt hatte, und der damals methodisch führende Archäologe eng zusammen. Dörpfeld war es damit gelungen, im Formierungsprozess des neuen Faches Archäologie in entscheidender Weise die Richtung vorzugeben, ohne selbst dort bereits institutionell verankert zu sein. Anschliessend trat Dörpfeld bis zu seiner Pensionierung 1912 in den Dienst des DAI, dessen Abteilung Athen er von jetzt an leitete. Dörpfeld, der nebenbei übrigens auch noch selbst Gebäude plante, wie das Dienstgebäude des DAI in Athen, war damals nicht nur der bedeutendste deutsche Archäologe mit sieben Ehrendoktorwürden und einer Honorarprofessur, sondern hatte mit Kaiser Wilhelm II. auch den prominentesten Grabungshelfer der damaligen Zeit. Bei seinem Eintritt in den Ruhestand 1912 war die deutsche Klassische Archäologie durch seine Kombination moderner Methoden mit einer staatlich anerkannten Relevanz eine allseits anerkannte Wissenschaft mit zudem «allerhöchster Protektion», die auch im internationalen Vergleich bestehen konnte, ohne dass diese Entwicklung primär aus dem akademischen Bereich gekommen wäre. Dass ein Aufstieg wie der Dörpfelds damals kein Einzelfall war, zeigt als zweites Beispiel Albrecht Meydenbauer (1834–1921).27 Als untergeordneter preussischer Baubeamter mit Bauaufnahmen am Wetzlarer Dom beschäftigt, war er auf den Gedanken gekommen, die damals neue Fotografie für Vermessungszwecke einzusetzen. Er entwickelte das Verfahren der Photogrammetrie, das er gegen viele Widerstände aus dem akademischen Bereich verteidigen musste. Dennoch gelang es ihm, zu bewirken, dass im Jahre 1885 unter seiner Leitung in Berlin die Königl. Preussische Messbildanstalt gegründet wurde, die nun systematisch mit der Erfassung von Baudenkmälern, aber auch wichtiger Grabungen begann. Buch SKAM 36.indd 143 143 Nach kurzer Zeit war hier eine weltweit vorbildliche neue Institution entstanden, die für die exakte Vermessung von Architektur und Ausgrabungen entscheidende Impulse gab. Als Meydenbauer im Jahre 1905 in den Ruhestand trat, gehörte er zu den angesehensten deutschen Akademikern im Baubereich. Im Jahr vor Dörpfelds Ruhestand hatte 1911 ein gewisser Gustav Kossinna seine für die zukünftige Entwicklung der Vorgeschichtsforschung in Deutschland wegweisende Schrift «Die deutsche Vorgeschichte, eine hervorragende nationale Wissenschaft» veröffentlicht. Schon in dem selbstverliehenen Prädikat war zugleich eine Kritik an dem bisherigen Aufstieg der Klassischen Archäologie und ihrer Institutionalisierung durch die Reichslimeskommission 1892 sowie die nachfolgenden Römisch-Germanische Kommission enthalten, die im Streit zwischen Germanenforschung und «Römlingen» nun die nächsten Jahrzehnte bestimmen sollte. Der ursprünglich philologisch ausgebildete Kossinna (1858–1931) war über verschiedene Zwischenstationen zur Altertumsforschung gekommen und bekleidete seit 1902, dem Todesjahr Virchows und dem Jahr der Gründung der Römisch-Germanischen Kommission, den ausserordentlichen Lehrstuhl für Deutsche Archäologie in Berlin, die erste akademische Vertretung des Faches, denn die Vorgeschichtsforschung hatte bis 1902 noch keine akademische Vertretung gehabt. Prähistorie war bis dahin weiterhin die Domäne der Vereine und der im Sinne Virchows anthropologisch, damit weitgehend positivistisch ausgerichteten Forschungsgesellschaften geblieben, bis nun Kossinna ein eigenes Theoriegebäude präsentierte und zugleich mit einer eindeutigen politischen Orientierung verband. Er entwickelte nun, obwohl selbst kaum praktisch tätig, mit der sog. «Siedlungsarchäologie», bei der mit weitgehend antiquarischen und typologischen Methoden gewonnene Erkenntnisse retrospektiv zur Grundlage von «archäologischen Kulturen» mit ihren unmittelbar zugehörigen Völkern werden sollten, die sog. «Lex Kossinna», eines der typischen Lehrgebäude, das nun massgeblich zur Theoriebildung der Vorgeschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beitragen sollte. Die Grundlage seiner Vorgehensweise fasste er zusammen: «Diese Methode bedient sich des Analogieschlusses, insofern sie die Erhellung uralter, dunkler Zeiten durch Rückschlüsse aus der klaren Gegenwart oder 27 Meyer 1985. 14.11.2009 14:54:32 Uhr 144 aus zwar ebenfalls noch alten, jedoch durch reiche Überlieferung ausgezeichneten Epochen vornimmt. Sie erhellt vorgeschichtliche Zeiten durch solche, die in geschichtlichem Lichte stehen, zunächst am besten die jüngsten, dem Beginn der Geschichte unmittelbar vorausliegenden vorgeschichtlichen Zeiten durch die benachbarte Frühgeschichte. Diesen so angesponnenen Faden der Erkenntnis vorgeschichtlicher Zeit ... lassen wir nun nicht wieder fallen, sondern spinnen ihn in immer ältere Zeiten hinauf».28 Für die Geschichtsforschung gleich welcher Richtung musste angesichts der spekulativen Grundlagen der «Lex Kossinna» ein solcher Ansatz unakzeptabel sein, weshalb sich neben der formalen Abtrennung der akademischen Vorgeschichte auch im Theoriebereich der bereits bestehende Graben zwischen den Fächern von nun an weiter vergrösserte. Aber auch innerhalb des Faches legte es Kossinna auf Polarisierung an. Dies wird besonders deutlich an der Auseinandersetzung mit seinem vielfach erfolgreicheren Rivalen Carl Schuchardt. Auch dieser kam von der Philologie her, hatte dann aber durch das DAI die modernen Methoden der Klassischen Archäologie kennengelernt und als Direktor des Kestner-Museums in Hannover auf nordeuropäische Aufgaben der Archäologie übertragen. In dieser Position war er massgeblich 1905 an der Gründung des «Nordwestdeutschen Verbandes für Altertumsforschung» als regionalem Dachverband beteiligt gewesen. 1908 übernahm Schuchardt dann die Leitung der Vorgeschichtlichen Abteilung des Berliner Völkerkundemuseums und wurde im Jahr darauf zum Herausgeber der «Prähistorischen Zeitschrift». Auch von Berlin aus setzte er seine erfolgreiche archäologische Tätigkeit fort und konnte ebenso wie Dörpfeld den Kaiser für seine Forschungen begeistern.29 Beide konnten damit neben ihren unbestreitbaren Leistungen als Vertreter einer etablierten, anerkannten Archäologie des Kaiserreichs gelten. Kossinna, der Schuchardt wegen seines klassischarchäologischen Hintergrundes in der gegenseitigen Konkurrenzsituation bei jeder sich bietenden Gelegenheit scharf zu kritisieren suchte, stand dagegen dem «Alldeutschen Verband» nahe, einer national-chauvinistischen Organisation, die als «nationale Opposition» die damalige Führung des Kaiserreichs von rechts attackierte;30 damit öffnete er das Fach zusätzlich für Radikalisierungen in einem völkischen Sinne.31 Um die entsprechenden Kräfte zu bündeln, hatte Kossinna im Jahre 1909 für den eher konservativen, oftmals bereits völkisch eingestellten Teil Buch SKAM 36.indd 144 Unterschiedliche Geschichte? der Prähistoriker die «Gesellschaft für deutsche Vorgeschichte» mit der Zeitschrift «Mannus» gegründet, womit nun auch der Vereinsbereich abgedeckt wurde. Allerdings war ein solcher Verein nicht mehr bürgerlich-emanzipatorisch wie im 19. Jahrhundert angelegt, sondern diente nun vor allem der Durchsetzung der Ziele seiner Leitung. III. Die deutsche Archäologie in der Zwischenkriegszeit und im Nationalsozialismus Die zwanziger und frühen dreissiger Jahre des 20. Jahrhunderts sind dann durch das nebeneinander von antiquarisch-positivistischer Richtung32 und Kossinnas Theorien geprägt, die mit dem Aufstieg der NSDAP zunehmend Anhänger und politische Relevanz gewannen. Die unmittelbare Übertragung der Theorien des 1931 verstorbenen Kossinnas in die Strukturen des Dritten Reiches lässt sich dann vor allem an der Person von Karl Hans Reinerth festmachen. Der aus Siebenbürgen stammende Reinerth hatte seit Juni 1918 in Tübingen Theologie studiert, wobei er aber sein Studium durch Einschluss verschiedener naturwissenschaftlicher Fächer sehr breit angelegt hatte.33 Nachdem sein prähistorisches Interesse vorherrschend geworden war,34 soll er in den Semesterferien an Übungen von Gustaf Kossinna in Berlin teilgenommen haben.35 Schliesslich wurde er dann bereits im März 1921 bei Richard Rudolf Schmidt in Tübingen36 über die «Chronologie der jüngeren Steinzeit in Süddeutschland» promoviert, womit er den chronologischen Ansatz Kossinnas auch für Südwestdeutschland zu belegen versuchte.37 Reinerth konnte dann zwischen 1921 und 1923 als Assistent an dem damals neugegründeten und durch Drittmittel finanzierten Urgeschichtlichen Forschungsinstitut (UFI) Schmidts in Tübingen arbeiten. Er habilitierte sich bereits 1925 mit einer Arbeit über «Die jüngere Steinzeit der Schweiz» und lehrte bis 1934 als Privatdozent in Tübingen, während er weiter für das UFI zahlreiche Ausgrabungen durchführte.38 Das 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 Eggers 1974, 211. Grünert 1987; Menghin 2007. Kruck 1954. Zum Begriff des «Völkischen» im Kaiserreich siehe Puschner 2001. Müller-Karpe 1975, 30f. Schöbel 2002, 324. Schöbel 2002, 324. Grünert 1987; Ziehe 1996. Wie damals an allen deutschen Universitäten war die Prähistorie in Tübingen nur durch eine ausserordentliche Professur vertreten; erst 1928 sollte in Marburg die erste deutsche ordentliche Professur für Vorgeschichte entstehen. Schöbel 2002, 324. Schöbel 2002, 324f. 14.11.2009 14:54:32 Uhr Unterschiedliche Geschichte? nun von Reinerth mitgeprägte UFI war als ein «Aninstitut»39 methodisch durch den interdisziplinären Ansatz unter Einschluss der Naturwissenschaften, aber auch grabungstechnisch für die damalige Zeit sehr fortschrittlich; hinzu kam eine beispiellose Öffentlichkeitsarbeit durch zahlreiche Führungen und Vorträge, aber auch museale Umsetzungen.40 Der hier überaus erfolgreiche Reinerths geriet erwartungsgemäss schnell in Streit mit Fachbehörden und Kollegen, suchte aber auch selbst die Auseinandersetzung mit der damals universitär bereits ungleich besser verankerten (klassischen bzw. provinzialrömischen) Archäologie.41 Wissenschaftsgeschichtlich suchte hier die Vorgeschichtsforschung in Person von Reinerth ihren bisherigen Rückstand gegenüber der klassischen Archäologie aufzuholen, wobei Reinerth anders als sein Vorbild Kossinna durchaus modernste Feldarchäologie mit den Theorien der Siedlungsarchäologie zu verbinden wusste. Reinerths Karriere bekam allerdings einen jähen Knick, als er 1929 – wie man heute weiss, zu Unrecht – verdächtigt wurde, für die – in der Sache berechtigten – Korruptionsvorwürfe gegen seinen Lehrer Schmidt verantwortlich zu sein, weshalb man ihm den Titel eines ausserordentlichen Professors aberkannte.42 Diese Vorgänge dürften sicherlich die in der bisherigen völkisch-konservativen politischen Einstellung Reinerths bereits angelegte Hinwendung zur NSDAP beschleunigt haben: Im Dezember 1931 wurde er kurz nacheinander Mitglied des «Kampfbundes für deutsche Kultur» unter Leitung des NS-Parteiideologen Alfred Rosenberg und dann auch der Partei selbst.43 Mit der Leitung der neuen «Fachgruppe für deutsche Vorgeschichte» des Kampfbundes wurde Reinerth 1933 zum engsten Mitarbeiters Rosenbergs auf diesem Gebiet, dann im Mai 1934 Leiter der Abteilung Ur- und Frühgeschichte im «Amt Rosenberg», wobei er nun versuchte, im «Reichsbund für deutsche Vorgeschichte», hervorgegangen aus Kossinnas «Gesellschaft für deutsche Vorgeschichte», alle anderen bestehenden Vereinigungen auf diesem Gebiet zusammenzufassen.44 Dieser rasanten Parteikarriere entsprach auch der schnelle Aufstieg im universitären Bereich: Mit Hilfe Rosenbergs wurde er zum 1. November 1934 in Berlin als Nachfolger von Kossinna, nun aber als ordentlicher Professor, auf den dortigen Lehrstuhl berufen.45 Reinerth stand nun auf dem Höhepunkt seiner Macht, die er anfangs durchaus erfolgreich bei der Gleichschaltung der Altertumsvereine einsetzte.46 Hierbei machte er sich aber Buch SKAM 36.indd 145 145 auch viele neue Feinde, die nun in den Jahren 1935/36 zusammen mit etlichen seiner bisherigen Gegner ausgerechnet den Schulterschluss mit der SS suchten. Deren Reichsführer Heinrich Himmler hatte damals für seine prähistorischen Ambitionen den Verein «Forschungsgemeinschaft für deutsches Ahnenerbe» gegründet, in dem anfangs der sehr umstrittene völkische Gelehrte Herman Wirth bestimmend war.47 Gleichzeitig mit dem wachsenden Wunsch Himmlers, sich von Wirth zu lösen, drängten immer mehr als «seriös» geltende Prähistoriker in den Verein. Schliesslich standen, sieht man von persönlichen Vorlieben und Abneigungen ab, hinter Reinerth mehr die offenen Propagandisten einer nationalsozialistischen Archäologie, während im SS-Ahnenerbe die nach aussen zurückhaltenderen Forscher mit letztlich den gleichen Zielen arbeiteten. Hieraus ergab sich schliesslich in der zweiten Hälfte der 30er Jahre ein immer schwankendes, aber letztlich doch austariertes Gleichgewicht der Kräfte zwischen dem Reichsführer SS einerseits und dem Reichsleiter Rosenberg als offiziellem Chefideologen der Partei andererseits, während Hitler, der allen Germanenphantasien äusserst skeptisch gegenüberstand, eher das DAI und die provinzialrömische Forschung unterstützte.48 Solche Dispositionen gehörten zu den typischen Machtprinzipien des Nationalsozialismus, die sich als durchaus wirkungsvoll erwiesen. So nahm die prähistorische Forschung unter diesen Voraussetzungen nun einen bislang unbekannten Aufschwung, gehörte bald zu den angesehensten geisteswissenschaftlichen Fächern mit breiter Popularisierung ihrer Themen und kam schliesslich bis 1942 auf bereits 17 Lehrstühle. Die inzwischen erfolgte Auswertung der NSDAP-Zentralkartei hat allerdings auch ergeben, dass mit einer Mitgliedschaftsquote von annähernd 90% das 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 Das Urgeschichtlichen Forschungsinstitut UFI war als ein ausschliesslich drittmittelfinanziertes Institut für die damalige Zeit eine absolute Novität und wäre nach heutigem Verständnis ein «Aninstitut». Der Begriff des «Aninstitutes» bezeichnet seit den 1990er Jahren an den deutschen Hochschulen eine assoziierte privatwirtschaftlich arbeitende Forschungseinrichtung; durch die Entwicklung der letzten Jahre ist dieses Modell heute bereits wieder weitgehend überholt. Klein 2009. Wiwjorra 2002. Schöbel 2002, 333f. Bollmus 2006, 154ff. Schöbel 2002, 341ff.; Bollmus 2006, 173ff. Schöbel 2002, 343; Meyer, 11f. Schöbel 2002, 343. Kater 2001, 11ff., 17 f. und 41ff.; Bollmus 2006, 178ff. Kater 2001, 41ff. 14.11.2009 14:54:33 Uhr 146 Fach eine im akademischen Bereich beispiellose Regimenähe aufwies.49 Dabei wurde in dieser Zeit wenig zur Theoriebildung beigetragen, denn die seit Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelten Grundannahmen blieben nun in radikalisierter Form auch weiterhin gültig. Reinerth wurde als Ausdruck geänderter Machtverhältnisse kurz vor dem Ende des Dritten Reiches noch am 27. Februar 1945 aus der NSDAP ausgeschlossen.50 Hauptvorwürfe in dem bereits länger laufenden Verfahren waren Angriffe gegen verdiente Parteigenossen und enge Kontakte zu jüdischen Fachkollegen, ein Vorwurf, den Herbert Jahnkuhn, Leiter des Grabungswesens des «SS-Ahnenerbes» und immer ein Hauptkonkurrent von Reinerth, bereits 1937 im Kollegenkreise erhoben hatte.51 Unter anderen Umständen und bei einer anderen Person wäre ein solcher Parteiausschluss ausreichend gewesen, um nach 1945 ein Entnazifierungsverfahren ohne Verurteilung zu überstehen. Aufgrund von Beschuldigungen von Fachkollegen wurde Reinerth aber im März 1946 festgenommen und interniert; im August 1949 erfolgte in einem Spruchkammerverfahren die Einordnung als «Schuldiger». Schliesslich galt für ihn in öffentlicher Forschung und Lehre ein letztlich lebenslängliches Berufsverbot.52 IV. Die deutsche Archäologie nach 1945 und die Archäologie des Mittelalters Die in Hinblick auf Reinerth auf den ersten Blick begrüssenswerte (Selbst-)Reinigung des Faches wird allerdings bei näherem Hinsehen suspekt, betraf sie doch fast ausschliesslich Reinerth und seine wenigen zuletzt noch verbliebenen Anhänger als Sündenböcke, während die Mitarbeiter des «SS-Ahnenerbes» und andere Fachkollegen, die «nur» Parteimitglieder gewesen waren, bereits wieder an ihren Karrieren arbeiteten, die schliesslich in der Bundesrepublik bruchlos fortgesetzt werden konnten.53 Mindestens genauso gross wie der personelle war der fachliche Schaden, der hieraus entstand, denn für lange Jahrzehnte wurde es nun zum Leitmotiv der deutschen Prähistorie, Deutungsfragen im sicheren Elfenbeinturm einer abgehobenen positivistischen Wissenschaft grundsätzlich aus dem Weg zu gehen,54 und dabei in der Fachgeschichte die letzten Jahrzehnte sorgsam auszusparen.55 Wo dagegen scheinbar neue Ansätze auftauchten, stellte sich bei näherem Hinsehen schnell heraus, dass hier meist nur altbekannte Vorstellungen unter Umgehung der belasteten Terminologie neu benannt worden waren. Typisch hierfür ist einerseits z.B. Hans Jürgen Eggers, der zwar Buch SKAM 36.indd 146 Unterschiedliche Geschichte? Kossinnas Grundannahme der ethnischen Deutung übernahm, dessen Methode aber scharf kritisierte und daher eine neue Methodik zu entwickeln suchte, um vergleichbares zu beweisen,56 oder Herbert Jankuhn, der versuchte, den Begriff der «Siedlungsarchäologie», der den Kern von Kossinnas Theorie dargestellt hatte, zu einer allgemeinen Methode der feldarchäologischen Siedlungsforschung umzudeuten.57 Hiermit verbunden war seitens Jankuhns auch der Versuch einer engeren Zusammenarbeit mit den Geschichtswissenschaften, der aber abseits persönlicher Beziehungen weitgehend folgenlos blieb, sobald deutlich wurde, dass diese Kooperation zu den Bedingungen der Archäologen erfolgen sollte. Zweifellos zielte die erst 1977 veröffentlichte «Einführung in die Siedlungsarchäologie» Jankuhns aber auch darauf, die inzwischen zunehmend an Bedeutung gewinnende Archäologie des Mittelalters zu vereinnahmen. Eine Archäologie des Mittelalters hatte es als Unterströmung neben der vorherrschenden Prähistorie seit dem 19. Jahrhundert mehr oder wenig kontinuierlich gegeben, ohne dass sie sich als Fach institutionalisiert hätte. Fehring hat völlig zu Recht die Archäologie von Kirchen, Siedlungen und Burgen als die drei Wurzeln der modernen Mittelalterarchäologie mit entsprechend langen Traditionen dargestellt.58 Dabei waren hier zwar auch, aber nicht überwiegend, Prähistoriker beteiligt, daneben aber auch Historiker, Kunsthistoriker und Vertreter anderer kulturwissenschaftlicher Disziplinen, wobei neben Fachwissenschaftlern auch Laien zu finden waren. Damit wurden hier durchaus positive Traditionen des 19. Jahrhunderts fortgeführt, und auch das Verständnis als historisches Fach war in diesem Zusammenhang immer ausgeprägt. Nach dem 2. Weltkrieg kam es in den zerstörten Städten wiederum unter diesem Vorzeichen 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 Pape 2002. Schöbel 2002, 350ff. Schöbel 2002, 348. Schöbel 2002, 359. Schöbel 2002, 359f. Immerhin muss zugestanden werden, dass die lang andauernde Theoriefeindlichkeit der deutschen Vorgeschichtsforschung ihr auch das Aufkommen postmoderner Theorien und Anschauungen weitgehend erspart hat, wodurch ihr viele Diskussionen, die sich im angelsächsischen Raum mittlerweile als fruchtlos herausgestellt haben, erspart blieben. So enthält z.B. die auf einer 1974 (!) gehaltenen Vorlesungsreihe beruhende «Einführung in die Vorgeschichte» von Hermann Müller-Karpe (Müller-Karpe 1975) zwar einen ausführlichen Teil zur Fachgeschichte vor 1933 und nach 1945, bei dem aber die Zeit des Nationalsozialismus vollständig ausgespart ist. Eggers 1974. Jankuhn 1977. Fehring 2000, 5ff. 14.11.2009 14:54:33 Uhr Unterschiedliche Geschichte? zu einer intensiven Arbeit, argwöhnisch beobachtet von der universitären Prähistorie. So versuchte Eggers, indem er nicht das vorwiegende Untersuchungsthema, sondern den Untersuchungsort in den Mittelpunkt zu rücken suchte, unter dem Begriff der «Stadtkernforschung» entgegen der damaligen Realität diesen Bereich vollständig für sein Fach zu reklamieren: «Nach der Zerstörung der grösseren Städte durch Bombenangriffe und bei ihrem Wiederaufbau entwickelte sich die Stadtkernforschung als neuer Zweig der Archäologie. Ihre Träger waren indes nicht die mittelalterlichen [sic!] Kunsthistoriker, sondern Prähistoriker, die allein die dazu notwendigen archäologischen Ausgrabungsmethoden beherrschten. Mit Staunen sahen die Kunsthistoriker, was alles man etwa für die Baugeschichte von Kirchen und anderen mittelalterlichen Anlagen durch exakte Grabungen feststellen konnte ...»59 Nachdem in den späten 1950er und frühen 1960er die vorherigen Aktivitäten weitgehend erlahmt waren, war ein neuer Aufstieg der Mittelalterarchäologie im Rahmen der seit etwa 1970 in Deutschland einsetzenden Stadtsanierungen festzustellen. Mit dem Aufkommen einer bald auch erstmalig institutionalisierten Archäologie des Mittelalters und – später – der Neuzeit seit den 1970er Jahren änderten sich zwangsläufig auch die Ansprüche an die Theoriebildung des neuen Faches. Auch jetzt kamen die wichtigsten Vertreter des neuen Faches eher aus der Geschichtswissenschaft, Kunstgeschichte oder Denkmalpflege als der akademischen Vorgeschichtsforschung. Das Erfolgsrezept war damals, das neue Fach als ein historisches zu verstehen, in dem an historischen Fragestellungen in wirklicher interdisziplinärer Form zu arbeiten wäre. Allerdings ist es dann nicht gelungen, auf dieser Basis rechtzeitig zu einem Schulterschluss mit den Historikern zu kommen, für die eine weitere Spezialisierung ihres grossen Faches prinzipiell problemlos gewesen wäre. Das Ziel hätte eine Verbindung von historischer Forschung mit Grabungskompetenz sein können an Lehrstühlen für Archäologie des Mittelalters im Rahmen Historischer Institute. Stattdessen wurde die an und für sich sinnvolle, aber, wie die bisherige Fachgeschichte gezeigt hatte, keineswegs zwingende akademische Institutionalisierung des Faches vor allem im Rahmen der Vor- und Frühgeschichte versucht, die in der Folgezeit nur allzu gern die zeitweise «Abtrünnigen» aufnahm und schliesslich einzelne Inhalte des Faches zunehmend integrierte. Dies zeigt sich gegenwärtig vor allem auch darin, dass neben den wenigen «reinen» Ausbildungsgängen der Archäolo- Buch SKAM 36.indd 147 147 gie des Mittelalters und der Neuzeit diese zunehmend als Teilbereich unter anderen auch in prähistorischen Studiengängen Aufnahme gefunden hat. Im Ergebnis erscheint die akademische Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit heute rückblickend bereits wieder viel zu stark prähistorisch geprägt, um für die Geschichtswissenschaften noch als Partner infrage kommen zu können. Allerdings ist dieser Sieg der Vorgeschichte angesichts des derzeitigen Abbaues der kleinen Fächer an den deutschen Universitäten nur noch wenig wert, denn es ist durchaus fraglich, was in einigen Jahren von einer doch nach wie vor ihre Relevanz nur sehr eingeschränkt beweisenden Vorgeschichtsforschung übrig sein wird. Dies ist dann vielleicht die Chance, wieder, wohl vor allem ausgehend von dem ausseruniversitären Raum, eine historische Archäologie im Geiste des Universalismus des 19. Jahrhunderts aufzubauen, denn Geschichte wiederholt sich zwar nicht, man kann aber versuchen, aus ihr zu lernen. V. Epilog Im Rahmen der Tagung kam die Frage auf, warum die für Deutschland geschilderte Entwicklung in anderen Nachbarländern, so vor allem in der Schweiz, in der dargestellten Weise nicht festzustellen ist. Tatsächlich zeigt ja das Beispiel von Werner Meyer, dass ein führender Mittelalterarchäologe der Schweiz von 1989 bis 2004 als Ordinarius an einem historischen Institut tätig sein konnte, wozu es in Deutschland keine Parallele gibt. Neben dem akademischen Bereich wäre auch auf eine gerade im Verhältnis zur Grösse des Landes ausserordentlich breite mittelalterarchäologische Forschung in Vereinen und bei der Denkmalpflege zu verweisen, wobei die Ergebnisse vielfach zeigen, dass die Zusammenarbeit von Mittelalterarchäologen und Historikern offenbar kein grösseres Problem dargestellt. Auch diese zweifellos positiven Phänomene bedürfen einer Erklärung. Tatsächlich ist es so, dass die Schweiz bis zum 1. Weltkrieg sowohl im akademischen Bereich wie auch in allgemeiner kulturgeschichtlicher Hinsicht sehr eng an Deutschland angelehnt war, um dann für lange Zeit einen entschieden eigenen Weg einzuschlagen. Dies hatte zur Folge, dass sich viele positive Entwicklungen des 19. Jahrhunderts wie das bürgerschaftliche Engagement in der 59 Eggers 1974, 20. 14.11.2009 14:54:33 Uhr 148 Forschung fortsetzen konnten, während die negativen Folgen der akademischen Institutionalisierung angesichts der geringen Anzahl der Lehrstühle insgesamt weitaus weniger Auswirkungen hatten. Seit den 1920er Jahren blieb dann der Schweiz ein Kossinna oder Reinerth mit allen geschilderten Folgen erspart, wenngleich diese hier durchaus auch Anhänger gefunden hatten. Schliesslich muss darauf verweisen werden, dass gerade die französische, zum Teil auch die italienische historische Forschung als Reaktion auf die Kritik des Historismus einen völlig anderen, z.B. mit dem Kreis der Forscher um die «Annales» schon früh die Alltagsgeschichte mit einbeziehenden Weg genommen hat.60 Während dies in Deutschland lange Zeit kaum zur Kenntnis genommen wurde, hatte die Schweiz natürlich einen ganz anderen und leichteren, nicht zuletzt Unterschiedliche Geschichte? sprachlichen Zugang zu dieser westeuropäischen Forschungsrichtung, die vielfältige Anknüpfungspunkte für archäologische Resultate bietet. Ingesamt also eine durchaus positive Bilanz für die Schweiz, wenngleich natürlich bedenklich stimmt, dass die Arbeit von Werner Meyer in Basel – und auch sonst im akademischen Bereich der Schweiz – keine Fortsetzung gefunden hat und die in vielen Kantonen lange Zeit vorbildlich ausgestattete Denkmalpflege in den letzten Jahren unter schwer verständlichen Kürzungen zu leiden hatte. Solche Erscheinungen liegen zwar durchaus im europäischen Trend, was ihre Folgen aber in keiner Weise besser erscheinen lässt. Es steht jedenfalls zu hoffen, dass im Zuge einer solchen Globalisierung nicht noch mehr der positiven Traditionen der Schweiz verloren gehen. 60 Buch SKAM 36.indd 148 Burke 1991. 14.11.2009 14:54:33 Uhr Unterschiedliche Geschichte? Bibliografie Bollmus 2006 – Reinhard Bollmus: Das Amt Rosenberg und seine Gegner. Studien zum Machtkampf im nationalsozialistischen Herrschaftssystem (Studien zur Zeitgeschichte 1), Stuttgart 22006. Burke 1991 – Peter Burke, Offene Geschichte. 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Vielmehr sei versucht, den Gründen nachzuspüren, weshalb denn eine Hypothese aufkam, akzeptiert, ggf. mit Vehemenz vertreten oder eben auch bestritten wurde. II. Chronist Wurstisen und die Stadtmauern – ein Thema? Nicht wirklich – Stadtmauern hat man im 16. Jh. einfach. Basel blieben bedeutende Bilderchroniken versagt, wie sie manche eidgenössischen Orte vorzuweisen hatten. Dafür meldete sich die Stadt 1580 mit der grossen «Basler Chronik» von Christian Wurstisen zu Wort. In dieser annalistischen Darstellung wird eher nebenbei der Bau der äusseren Stadtmauer erwähnt, der nach der Schlacht bei Sempach (1386) begonnen habe und nach zwölf Jahren vollendet worden sei. Zwar führt der Chronist auch auf, dass die Basler hierin dem Beispiel der Strassburger gefolgt seien, die damals drei grosse Vorstädte so geschützt haben, oder er gedenkt des Baus oder Einsturzes des einen oder andern Bollwerks oder Stadtmauerabschnittes, aber Überlegungen zur Stadtentwicklung sucht man vergebens.2 III. Peter Ochs und die Stadtentwicklung – mehr als Ereignisgeschichte 200 Jahre nach Wurstisen versteht man die Geschichte der Befestigungen auch als Teil der Geschichte der städtischen Entwicklung. So verweist der Basler Politiker, Ratschreiber und Historiker Peter Ochs 1786 als erster auf die in der 1101/03 datierten Stiftungsurkunde des Klosters St. Buch SKAM 36.indd 151 Alban nur beiläufig erwähnte Stadtmauer des Bischofs Burkhard von Fenis:3 «Igitur in his bellicis tempestatibus quam fideliter partem domini sui imperatoris defendit et quam strenue hostium suorum perfidiam impugnavit epistolari brevitate non est facile comprehendere, verum munitiones et castella que ipse partim construxit partim iam constructas probitate et industria sua beate Marie adquisivit et murorum compagines quibus a nocturnis incursionibus hanc civitaten munivit me tacente qualis in bellicis fuerit negotiis satis poterunt comprobare» (Übersetzung nach Ochs: «Nun hat der Bischof Burkard in jenen kriegerischen Zeiten, die Sache seines Herrn des Kaisers verfochten; und wie tapfer er die Treulosigkeit seiner Feinde angegriffen, lässt sich ins kürze nicht zusammen fassen. Er hat Verschanzungen und Schlösser theils selbst gebauet, theils durch seine Rechtschaffenheit und seine Verwendung der heiligen Maria erworben. Er hat die Mauern aufgeführt, durch welche diese Stadt vor nächtlichen feindlichen Einfällen gesichert ist.») (Abb. 1 A).4 Weil der Bau der Äusseren Mauer seit Wurstisen hinlänglich gut bekannt, zur Inneren Stadtmauer hingegen kein Baudatum überliefert ist, äussert er verständlicherweise die «ziemlich erwiesene» Ansicht, dass die sog. Innere Stadtmauer diejenige eben dieses Bischofs aus der Zeit um 1080 sei (Abb. 2). Darüber hinaus war Ochs der Überzeugung, dass Basel bereits einen älteren Befestigungsring besessen habe; genau wie Wurstisen konnte er sich eine Stadt ohne Mauern offenbar nicht vorstellen: «Denn sie hatte schon in der vorhergehenden Periode Thore, und also auch Mauern. Ich vermuthe, dass die eigentliche Stadt, vor seinem (= Bischof Burkhard) Episcopat, nichts weiter als bis an den Birsig gegangen, und aus dem Münsterplatz bis an die Bärenhut (= Kunostor in der Rittergasse), und der Freyenstrasse bestanden habe». 1 2 3 4 Ich danke meinen Kollegen von der Archäologischen Bodenforschung für den umfangreichen Austausch, der im Laufe vieler Jahre stattgefunden hat, so für die Erarbeitung, Diskussion und Dokumentation der Befunde sowie für die Redaktion des Textes und die Erstellung der Abbildungsvorlagen. Nennen möchte ich insbesondere Guido Helmig und Toni Rey. Wurstisen 1580, xxcvi. Ochs 1786, 232, 242–245, 265; BUB, 1890, 8ff., insbes. 9,26 (Stadtmauer), 34ff. insbes. 35, 35–38 (Wicborc). BUB 1, 1890, 9 Z. 21–28. 14.11.2009 14:54:33 Uhr 152 Welche Stadtmauer und wenn ja – wo? Abb. 2 Basel von Norden: Vogelschauplan von M. Merian d. Ae. (1615/17). Die äusseren, innern und Kleinbasler Stadtmauern sind hervorgehoben. Die Turmsignaturen bezeichnen innerstädtische Wehrtürme. Des Weiteren wies er am Fischmarkt einen Turm nach: «Vielleicht war dieser Thurm eines der Statthore selbst, und auch zugleich die Wohnung eines Vasallen»5 (Abb. 1 A). Im Birsigtal zwischen Schifflände und Gerbergasse nahm er vor der Mauer Handwerkerquartiere an – Annahmen, die noch weit ins 20. Jh. hineinwirkten. IV. Daniel A. Fechter – vorsichtig importierte Spekulationen Die Identifikation von Peter Ochs der Inneren Stadtmauer mit der Burkhardschen wurde durch Daniel Albert Fechters illustrativen Stadtrundgang in der «Topographie mit Berücksichtigung der Cultur- und Sittengeschichte» von Basel im 14. Jahrhundert fast wörtlich übernommen und gewissermassen zementiert (Abb. 1 A): «Um daher die Bewohner der Stadt ... gegen äussere Gefahr zu schütAbb. 1 A Stadtmauern nach Ochs 1786 und Fechter 1856. 1 Burkhardsche Mauer nach Ochs und Fechter, 2 Ältere Stadtmauer nach Ochs (10./11. Jh.?), 3 Ältere Stadtmauer nach Fechter (10./11. Jh.?), ■ Stadttor (Torturm), Kirchen: M Münster, P St. Peter, L St. Leonhard, B Barfüsserkirche, Ma Martinskirche. Buch SKAM 36.indd 152 5 Ochs 1786, 244 f. – Der Turm ist urkundlich überliefUB 1, 1890, 265 Z. 1; Matt 1998, 308 Nr. 8 (dort wie schon bei Ochs leider falsch lokalisiert: Richtig ist, einen Standort in der heutigen Nordhälfte des Marktplatzes anzunehmen.). 14.11.2009 14:54:36 Uhr Welche Stadtmauer und wenn ja – wo? 153 Abb. 3 Basel im 14. Jh.: Übersichtsplan aus Fechter 1856 mit verschiedenen wichtigen Gebäuden. Fechters «fester Abschluss» entspricht der von Türmen gesäumten, linksufrigen Linie zwischen dem Stadtflüsslein Birsig und der Stadtmauer. zen, schloss Bischof Burchard ... die Theile der Stadt ... durch eine mit Thürmen und Thoren versehene Mauer und mit einem Graben ein, den unsre Väter noch gesehen haben».6 Gemeint ist also die Innere Stadtmauer entlang der Graben-Strassen (Peters-, Leonhards- bis St. AlbanGraben; Abb. 2). Auch die Behauptung, wonach «Thore und Thürme von Dienstmannen des Bischofs und angesehenen Geschlechtern als Lehen bewohnt (waren)», geht auf Ochs zurück. Diese Meinung wurde noch 200 Jahre später vertreten, ohne dass sie durch Quellen belegt werden konnte.7 Daniel Fechter hat am Fuss des Peters- und des Leonhardsbergs zusätzlich einen älteren «festen Abschluss» postuliert, dessen Angelpunkte durch eine Anzahl von Türmen und Schwibbogen gebildet sei (Fechter führt über zwei Dutzend solcher Türme auf; Abb. 3).8 Diese Linie macht einen etwas hypothetischen Eindruck. – Auch eine funktionale Schilderung dieser Türme oder eine Zuweisung an historisch bekannte Familien liess er sich nicht entlocken. Weshalb brauchte er so unverbind- Buch SKAM 36.indd 153 liche Formulierungen wie «fester Abschluss» und «Türme» und blieb in seinen sonst so lebendigen Schilderungen merkwürdig blass? Dies blieb dem Schreibenden lange verborgen, bis ihm im Jahre 2004 dank eines Besuchs der Ausstellung «Stadtmauern – Ein neues Bild der Stadtbefestigungen Zürichs» im Haus zum Rech die Augen geöffnet wurden:9 Salomon Vögelin hat in seinem Buch «Das alte Zürich» bereits 1829 aufgrund der markanten Zürcher Geschlechtertürme eine Stadtmauer postuliert. Verständlich, dass sich Fechter 1856 dem eine Generation zuvor formulierten starken Bild der «Ritterturm»-gestützten Stadtmauer nicht entziehen konnte! Es ist ihm aber hoch anzurechnen, dass er sich äusserster Zurückhaltung unterzog. So spricht er nie von einer Stadtmauer (oder wie 6 7 8 9 Fechter 1856, 99f. Meyer 1981, 142–144. d’Aujourd’hui 1989, 159 und 1990, 176. Fechter 1856, 98f. – Weiteres zu dieser heute völlig überholten Hypothese: Matt 1998, 305. Auch der Titel der gleichnamigen Publikation von Wild/Motschi/Hanser 2004. 14.11.2009 14:54:37 Uhr 154 Welche Stadtmauer und wenn ja – wo? V. August Bernoulli – der Not gehorchend Abb. 1 B Stadtmauern nach Bernoulli 1917 und Müller 1955. 4 Burkhardsche Stadtmauer, 5 Innere Stadtmauer. Vögelin von «Wehrinen»), sondern – wie erwähnt – bloss von einem «festen Abschluss». Und auch Begriffe, wie Ritter-, Adels-, Geschlechtertürme oder Tore sucht man bei Fechter, dem profunden Kenner der Basler Geschichtsquellen, in diesem Zusammenhang vergebens. Abb. 1 C Stadtmauern nach Maurer 1961/66, Strübin 1957, Berger 1963 und Moosbrugger 1968. 5 Innere Stadtmauer, 6 Burkhardsche Stadtmauer nach Maurer 1961/66, 7 Burkhardsche Stadtmauer nach Strübin 1957, 8 Burkhardsche Stadtmauer nach Berger 1963, 9 Burkhardsche Stadtmauer nach Moosbrugger 1968, 10 Schloss Wildeck/ Tanneck nach Moosbrugger 1968. Buch SKAM 36.indd 154 In der Zwischenzeit wurden die mittelalterlichen Quellen etwas genauer interpretiert. Der sagenhafte, aus späterer Zeit überlieferte Gründungsbericht der Leonhardskirche, welche die Kirche im Jahre 1033 auf grüner Wiese ausserhalb der Stadt entstehen lässt, wurde angezweifelt. Das Jahr passe nicht zu einem im Bericht genannten Bischof Rudolf, und überhaupt sei die Jahrzahl unter Berücksichtigung einer Rasur vermutlich als 1118 zu lesen. Wenn nun die Kirche somit erst im Jahre 1118 gegründet und als ausserhalb der Stadt liegend bezeichnet worden sei, dann könne es sich bei der auf Abb. 2 so deutlich sichtbaren «inneren» Mauer nicht um diejenige des Bischofs Burkhard handeln.10 Dies schloss August Bernoulli richtig aus den Vorarbeiten von Rudolf Wackernagel, in dessen grosser Stadtgeschichte (der drittten nach Wurstisen und Ochs) die Frage des Gründungsberichtes von St. Leonhard abgehandelt wurde.11 Nun stand Bernoulli vor dem Problem, der jetzt gewissermassen heimatlos gewordenen Burkhardschen Mauer ein neues Trassee zuweisen zu müssen. Da half ihm die längst formulierte Hypothese von Fechter aus der Klemme, der – wie oben dargestellt – seinen älteren «festen Abschluss» innerhalb der angeblichen Burkhardschen Mauer postulierte. Bernoulli brauchte somit die Burkhardsche Mauer nur gewissermassen etwas nach innen zu rücken und hatte sie damit wieder lokalisiert (Abb. 1 B 4). Zur Plausibilität dieser Linie äussert er sich nicht – Fechter schien ihm Autorität genug! Und der hypothetische feste Abschluss versteinerte zur quasi offiziellen Stadtmauer. Das Stadtgebiet zu Burkhards Zeiten wird von Bernoulli im Vergleich zu Ochs und Fechter somit als markant kleiner angenommen. Die Stadtmauer folge einer Linie, die vom Gerberberglein aus etwa rechtwinklig den Birsig überquert und auf der andern Seite der nachmaligen Kirchgemeindegrenze zwischen St. Martin und St. Alban entspricht. Auf Bernoulli geht auch die heute so nicht mehr haltbare Datierung der Inneren Mauer «um bzw. kurz vor 1200» zurück.12 10 11 12 Bernoulli 1917, 56–86 insbes. 56 und 60–67; Nachtrag 1918, 387. Wackernagel, 1907, 8, 17, 134–140. Bernoulli 1917, 70. BUB 1, 52 Nr. 73. 14.11.2009 14:54:37 Uhr Welche Stadtmauer und wenn ja – wo? VI. Die goldenen 50er und 60er Jahre Innerhalb der Innern Stadtmauer fanden 1937–39 und 1957 am Petersberg und im Storchenareal (beim Fischmarkt) umfangreiche Ausgrabungen statt. Diese förderten die phantastisch erhaltenen Holzhäuserreste einer Handwerkersiedlung des 11./12. Jh. zu Tage, deren Anfänge wohl noch weiter zurück liegen. Wider damaliges Erwarten kam jedoch keine Stadtmauer zum Vorschein, dafür regten die Ausgrabungen die Diskussion um den mutmasslichen Verlauf der Burkhardschen Stadtmauer ausserordentlich an. Ludwig Berger zweifelte im 1963 publizierten Ausgrabungsbericht am Realitätsgehalt der Fechter-Bernoullischen Hypothese und postulierte einen Mauerverlauf weiter aussen – wohl oben auf der Terrasse, der vermutlich auch St. Peter umfasst habe (Abb. 1 C).13 Über den Verlauf der Mauer südlich der Peterskirche stellt er keine Mutmassungen an. Ausgehend von den Grabungsbefunden hatte bereits 1957 Martin Strübin-Lohri einen Mauerverlauf angenommen, der die PetersbergSiedlung ins Stadtgebiet einbezog. Er dachte sich das Trassee etwa im Bereich Petersgasse – Talhang unterhalb Nadelberg/Unterer Heuberg – Gerberberglein – Pfluggässlein – Münsterhügel (Abb. 1 C).14 François Maurer, inspiriert von Bergers Untersuchungen, nahm 1966 hingegen ein «bastionähnlich an der Spitze eines Mauerkeils» liegendes befestigtes Kirchenareal um St. Peter an, das er als Pendant zu St. Leonhard betrachtete; zu letzterem gab freilich eine Burg Wildeck (oder Tanneck) den Anstoss (Abb. 1 C).15 Damit implizierte er eine weiter stadteinwärts (am rechten Birsigufer?) verlaufende Mauer. Die Ausgrabungen 1964 von Rudolf Moosbrugger-Leu in der Leonhardskirche schienen dies zunächst zu bestätigen, da eine Befestigungsmauer entdeckt wurde, die eindeutig älter als die Innere Stadtmauer war. Moosbrugger ging allerdings von einer wörtlichen Übersetzung der lateinischen Quelle: «compagines murorum – grösseres zusammenhängendes Mauergefüge ... eine durchgehende Befestigung des Münsterhügels einschliesslich St. Martins» – aus. Im Gegensatz dazu interpretierte er den Mauerzug auf dem Leonhardskirchsporn sowie weitere, innerhalb der Altstadt (um St. Peter?) gelegene Mauerzüge, als «munitiones et castella», eigentliche Burgen oder «bastionsähnliche Kirchenareale». «Entgegen der bisherigen Forschung sehe ich die Burkhardsche Stadtmauer – wenn man überhaupt von einer solchen sprechen will! – nicht als eine Ummauerung der Talstadt, sondern als eine Sicherung des Münsterhügels und Buch SKAM 36.indd 155 155 allenfalls seiner Hänge, als eine Ausflickung und Erweiterung der römischen Kastellmauern» (Abb. 1 C). 16 An anderer Stelle interpretierte er die fragliche Mauer unter der Leonhardskirche als Teil der Umfassungsmauer des Schlosses Wildeck. Zusammenfassend: Keine Stadtmauerbefunde, dafür eine Handwerkersiedlung, die in einem Verhältnis zu Burkhards Mauer stehen musste – ausser- oder (eher) innerhalb. Wen wunderts, dass in dieser Situation so viele Theorien entwickelt wurden? VII. Burkhards Mauer – jetzt erst recht! In dieser unbefriedigenden Situation konnten nur Neufunde klärend weiterhelfen. Mit der 1962 gegründeten archäologischen Dienststelle, der «Archäologischen Bodenforschung des Kantons Basel-Stadt» war die Grundlage dafür geschaffen, und es war bei systematischer Ausgrabungstätigkeit und Baustellenüberwachung nur noch eine Frage der Zeit, bis diesbezügliche Neufunde Klärung brachten. Dies war 1976 der Fall: Unter und neben der Barfüsserkirche kam bei deren Renovierung ein längeres Teilstück der Burkhardschen Stadtmauer zum Vorschein,17 und 1982 folgte das Pendant auf der andern Birsigseite im Hause Leonhardsgraben 43.18 Es zeigte sich, dass diese Stadtmauer des ausgehenden 11. Jahrhunderts wesentlich umfangreicher war, als noch die Forscher der 50er und 60er Jahre (siehe oben) sowie C.A. Müller19 angenommen hatten. Die Mauer lag am Peters- und am Leonhardsgraben nur wenige Meter hinter der späteren Inneren Stadtmauer. Die angeblichen, bei der Ausgrabung der Leonhardskirche gefundenen Reste der sagenhaften Burg Wildeck (siehe oben) entpuppten sich damit ebenfalls als Teile dieser Stadtmauer. Bloss der weitere Verlauf im südöstlichen Vorfeld des Münsterhügels war noch unklar und mit Vermutungen behaftet (Abb. 1 D). 13 14 15 16 17 18 19 Berger 1963, 94–96 (insbes. Anm. 230). Vgl. auch Berger 1969, 26. Strübin-Lohri 1957, 18–28 (Plan S. 23). – Angaben zum vielseitig interessierten M. Strübin, der sich um rechts-, geld- und lokalhistorische Studien verdient gemacht hat, siehe Basler Bibliographie 1960; Berger bezog dessen Anregungen in seine Überlegungen ein (1963, 95 Anm. 230). François Maurer in KDM BS 5, 1966, 27f. (St. Peter). Moosbrugger/Buxtorf/Maurer 1968, 11–54 (insbes. 12–16; Zitate S. 15 f. und Anm. 6). – Verwirrend in diesem Zusammenhang ist die hier nicht weiter zu behandelnde sagenhafte Vorstellung einer Burg Wildeck (oder Tanneck) im Gebiet von St. Leonhard. Rippmann 1987, insbes. 121–132. d’Aujourd’hui/Helmig 1983, 353–365. Müller 1955, 17–20. 14.11.2009 14:54:37 Uhr 156 Abb. 1 D Stadtmauern nach d’Aujourd’hui 1983/85 und Rippmann 1987. 5 Innere Stadtmauer (ohne Mauertürme), 11 Burkhardsche Stadtmauer nach Rolf d’Aujourd’hui 1983 und 1985, 12 Burkhardsche Stadtmauer nach Dorothee Rippmann 1987, 11/12 Burkhardsche Stadtmauer: identischer Verlauf Wegen des damaligen Fehlens gesicherter Mauerfunde östlich der Ausgrabungen in und bei der Barfüsserkirche wurde der Verlauf der Burkhardschen Stadtmauer, ausgehend vom letzten bekannten, direkt am Steinenberg gelegenen Teilstück, zunächst in der Art eines drei- Welche Stadtmauer und wenn ja – wo? eckig vorspringenden «Spickels» angenommen (Abb. 1 D).20 Weiter östlich wurde die Mauer hinter der ehemaligen spätkeltisch/frührömischen Abschnittsbefestigung («Keltengraben») vermutet. Die topographische Dominanz des bis ins 13. Jahrhundert noch offenen antiken Befestigungsgrabens und das vorläufige Fehlen konkreter Befunde schien diese Hypothese zu rechtfertigen. Der von der Spitze des «Spickels» im Süden auf direkter Linie zum Keltengraben führende Abschnitt war eine theoretische Linie ausserhalb jeglicher gewachsener Parzellengrenzen oder Gassenfluchten. Davon weicht ein anderer Ergänzungsvorschlag ab: In Anlehnung an die Topographie und unter Berücksichtigung alter Gassenlinien und Besitzverhältnisse strebe die Burkhardsche Stadtmauer am Steinenberg die Linie der späteren Inneren Stadtmauer an, um wenig dahinter auf der Flucht des Aeschenschwibbogens, dem alten, heute teilweise aufgehobenen Luftgässlein folgend, die antiken Befestigungsanlagen zu erreichen (Abb. 1 D). Damit wurde eine die Verkehrsachse der Freien Strasse als Mittelachse nutzende, symmetrisch aufgebaute «Ausbuchtung» vor dem Münsterhügel postuliert, die erst bei der Einmündung des Luftgässleins in die Bäumleingasse die Linie der antiken Befestigungen erreicht. Ob die antike Befestigungsmauer mit derjenigen des Bischofs Burkhard wirklich gleichgesetzt werden darf, wurde offenlassen.21 Die Hypothese des zuerst dargelegten «DreieckSpickels» aus den Jahren 1983/85 wurde 1987 modifiziert. Neu wurden weitere, nicht mit Sicherheit gedeutete und teilweise gar nicht archäologisch untersuchte Mauerfundamente beidseits des Stadtflüssleins Birsig zur Lokalisierung bzw. Postulierung eines bisher unbekannten Stadtmauertrassees herangezogen. Für die Burkhardsche Mauer wurde nun ein weiter stadteinwärts liegender Verlauf postuliert, der vom Birsig aus direkt hinter den antiken Befestigungsgraben nordwestlich der Bäumleingasse zog (Abb. 1 E).22 Die bei den Ausgrabungen der Barfüsserkirche freigelegten Fundamente wurden als nicht mehr zum Burkhardschen Mauerring gehörig interpretiert, denn gem. dieser Interpretation waren sie zu unterschiedlich 20 Abb. 1 E Stadtmauern nach d’Aujourd’hui 1987/89. 13 Burkhardsche Stadtmauer, 14 Stadterweiterung 12. Jh., 5 Innere Stadtmauer (ohne Mauertürme) Buch SKAM 36.indd 156 21 22 d’Aujourd’hui/Helmig 1983, 353–365 (insbes. 354, Abb. 67, 361). – d’Aujourd’hui 1985, 101–108 (insbes. Abb. 2). Rippmann 1987, 125–129, Abb. 106. d’Aujourd’hui 1987; die von d’Aujourd’hui 1989 und 1990 publizierte Pläne weisen im Vergleich zur ‚Urfassung’ gewisse Differenzen im hypothetischen Mauerverlauf auf, die jedoch ohne grosse Bedeutung sind. 14.11.2009 14:54:37 Uhr Welche Stadtmauer und wenn ja – wo? im Vergleich zu den übrigen Mauerfunden, als dass sie zum gleichen Mauerring gehören könnten. Damit wurden in kürzester Zeit drei verschiedene Mauerverläufe postuliert, und dazu mussten die jetzt gewissermassen frei gewordenen Fundamentreste unter und neben der Barfüsserkirche einer neuen Deutung unterzogen werden: Da sie sich – so man denn die Rückverlegung der Burkhardschen Mauer akzeptiert – örtlich wie zeitlich zwischen die Burkhardsche Stadtmauer des späten 11. Jh. und die Innere des frühen 13. Jh. schoben, war damit die «Stadterweiterung 12. Jh.» geboren, die einige Zeit lang von sich reden machte. Die Geschichte der Uminterpretation eines wirklichen oder angeblichen «festen Abschlusses» von Ochs, Fechter und Bernoulli schien sich zu wiederholen. VIII. Wo liegt das Problem? Bis zu den 50er und 60er Jahren des 20. Jh. hat man also Stadtmauern – welche auch immer – nicht real untersucht. Bis in diese Zeit boten historische Quellen (auch ikonographische) die einzige Möglichkeit zur Erforschung, und natürlich wirkte das Bild der bis ins 19. Jh. noch stehenden Mauern und Tore, die einfach «schon immer» da waren. Die im späten 14. Jh. erbaute Äussere Stadtmauer, welche auch die Vorstädte schützte, besass eine einfache Baugeschichte. Diese war aus historischen Quellen bekannt, flossen diese doch nach dem 1356er Erdbeben reichlicher. Komplex war jedoch die Entwicklungsgeschichte der durch die Innere Stadtmauer vordergründig so klar und abgeschlossen wirkenden Innerstadt. Das Verdienst von Ochs war die Interpretation der unscheinbaren Stelle in der Gründungsurkunde von St. Alban, das eine nicht näher bezeichnete Stadtmauer nannte. Was lag näher, als dieses «Gefüge von Mauern» mit der im Stadtbild im Prinzip noch heute ablesbaren Inneren Mauer zu identifizieren? Für diese gab es ja keinen Hinweis zur Erbauungszeit, sehen wir einmal von den St. Leonhard und das Barfüsserkloster betreffenden Urkunden ab, welche sie in den Jahren 1206 und 1250 als existent erwähnen.23 Zu Bauzeit oder Bauherr ist jedoch nichts überliefert. Das «Unheil der Konstrukte» begann ausserhalb Basels, in Zürich. Dort postulierte S. Vögelin im Jahre 1829 eine Stadtmauer einzig aufgrund dort damals wie z. T. noch heute vorhandener Geschlechtertürme. Aus heutiger Sicht mag es unstatthaft sein, solche Türme als Stützpunkte einer Stadtmauer zu betrachten – aber damals? Und dem profunden Kenner der Basler Geschichtsquel- Buch SKAM 36.indd 157 157 len, D. A. Fechter, ist kaum zu verargen, dass er dieses zweifellos einprägsame und starke Bild berücksichtigen zu müssen glaubte. So möchte ich seine zurückhaltenden Formulierungen von nicht näher beschriebenen «Türmen» und des «festen Abschlusses» jedenfalls interpretieren. – Das einmal geprägte Konstrukt entwickelte dann jedoch ein Eigenleben, indem es – gewissermassen der Not gehorchend – bei Bernoulli als Lückenbüsser für die «verlorene» Burkhardsche Mauer herhalten musste. Erst das Fehlen dieser Mauer im fraglichen Bereich der Ausgrabungen am Petersberg entzog dieser einst vorsichtig formulierten Theorie den Boden. Der erste «Hypothesenboom» der 1950er und 60er Jahre reagierte immerhin auf archäologische Resultate (Handwerkersiedlung Petersberg). Aber die auf dieser Basis formulierten Hypothesen blieben mangels realer Mauerfunde vage. Dies war wohl auch besser so, hatte man doch Fechters «festen Abschluss» als gutes Beispiel für die vorsichtige Formulierung einer Hypothese vor Augen. Mauern gab es keine, Türme konnte man ja nicht mehr guten Gewissens beiziehen, und so beschränkte man sich auf Vermutungen, dass die ins 1. Jahrtausend zurückgehende Peterskirche irgendwie einbezogen sei, oder dass die Mauer oben auf der Niederterrasse durchgehe. Das Stadtbild (historische Gassenlinien und Parzellengrenzen) wurde merkwürdigerweise kaum beachtet. Vielleicht nicht so erstaunlich ist der jüngste Deutungsversuch von Moosbrugger, der wohl gerade wegen des Fehlens klarer Funde das «Mauergefüge» der Gründungsurkunde von St. Alban wörtlich auffasste: Er nahm anstelle einer «normalen» Stadtmauer gewissermassen ein aus spätantiken Überresten zusammengewürfeltes Flickwerk an, eben «compagines murorum». Damit stellt sich die Frage, wie wörtlich die von Archäologen doch so gerne als «sichere Werte» herangezogenen historischen Quellen denn zu nehmen sind. Wir erinnern uns an den Gründungsbericht der Leonhardskirche (Gründung 1033 bzw. 1118 auf grüner Wiese). Ähnlich verwirrend auch die Urkunde über den Bau der Barfüsserkirche, die angeblich auf Allmend errichtet wurde, doch die Ausgrabungen haben unter der Kirche ältere Gebäudereste und Hofstätten zu Tage gefördert.24 Und die Historiker fragen sich nach der Seriosität archäologischer Quellen bzw. deren Interpretation: Wie kann 23 24 BUB 1, 52 Nr. 73; BUB 3, 353 Nr. 29 und 30. Rippmann 1987, 52ff., 277f. 14.11.2009 14:54:37 Uhr 158 man Mauerfundamente zu Stadtmauern machen bzw. auf welcher Grundlage kann oder darf man historisch nicht bekannte bzw. überlieferte Stadtmauertrassees postulieren? IX. Über dem Stadtplan brüten? Welche Rolle bei der Erforschung der frühen Stadtentwicklung spielt das Parzellen- und Gassengefüge einer Stadt, welche die Topographie? Welchen Wert haben ikonographische Quellen? Wie ist mit der Tatsache umzugehen, dass lange nicht alle archäologischen Beobachtungen gründlich und umfassend, quasi unter Laborbedingungen, erarbeitet werden können (auch nicht alle historischen Quellen haben die Zeit unverderbt überstanden), und wie darf mit Befunden gearbeitet werden, die ausserhalb archäologisch-kritischer Untersuchungen dokumentiert worden sind? Alles Fragen zur Interpretation von Quellen – man ahnt jetzt die Absicht der Überschrift –, die bei unkritischer Arbeit zu verhängnisvollen Konstrukten führen können. Versuchen wir zunächst, einen methodisch sauberen Weg zu beschreiten. Eine Ausgrabung im Jahre 1982 im Hause Leonhardsgraben 43 zeigte folgenden Befund: 25 Die Innere Stadtmauer war noch über die ganze Erdgeschosshöhe erhalten, und dahinter lagen mächtige Anschüttungen, offensichtlich der hinterfüllte Aushub des zugehörigen Stadtgrabens. Diese Anschüttungen überdeckten eine Mauer. Diese Mauer besass folgende Eigenschaften: Sie lag parallel zur Inneren Stadtmauer, sie war tief fundamentiert (wie eine Kellermauer), sie führte beidseits über die Parzellengrenzen hinweg, auf der stadtauswärts gelegenen Seite war sie auf Sicht gearbeitet und bis fast zuunterst verputzt (das zugehörige Gehniveau liegt also in «Kellertiefe»), auf der Rückseite war sie gegen das anstehende Erdmaterial gebaut und rechnete mit einem höheren Bauhorizont als auf der Aussenseite etwa im Bereich des Gassenniveaus, und die spezielle Verputzweise lässt auf das 11./12. Jh. schliessen (sog. Fugenstrich- oder Pietra-rasa-Putz) – alles Indizien, die in ihrer Gesamtheit folgende Schlüsse zulassen: a) die Mauer ist eine Stadtmauer und b) sie ist älter als die Innere Stadtmauer. Damit darf behauptet werden, dass es sich um die in der Gründungsurkunde des Klosters St. Alban genannte Stadtmauer handelt. Wollte man dies in Frage stellen, müsste man ohne historische Quellenbasis eine bisher unbekannte Stadtmauer postulieren – methodisch zweifellos problematischer als die Gleichsetzung mit «Burkhard». Buch SKAM 36.indd 158 Welche Stadtmauer und wenn ja – wo? Mit diesem Wissen im Hintergrund konnte die Denkmalpflege ein paar Jahre später und ein paar Häuser weiter am Leonhardsgraben 37 eine ähnliche Situation untersuchen, diesmal in den Mauerscheiben der Brandmauern zu den Nachbarliegenschaften (Abb. 4):26 Wiederum war die Innere Mauer überaus deutlich und klar vorhanden, während von der älteren Burkhardschen nicht viel mehr als die Fundamente nachweisbar waren. Spannend waren dagegen die jüngeren Mauerteile: sie stiessen von rechts her an eine imaginäre senkrechte Grenze, die je nach Geschoss auf einer unterschiedlichen Flucht verlief. Offensichtlich reagierten hier noch vorhandene Brandmauerteile auf den Verlauf der längst abgerissenen Burkhardschen Stadtmauer und zeigten – trotz deren Fehlens – ihre oben zurückweichenden Mauerfluchten auf der Innenseite an. Und der Blick auf die entsprechenden Katasterpläne zeigt an den Orten, wo die Parzellengrenzen die beiden Stadtmauern schneiden, Versatzstellen. Das heisst, die Parzellengrenzen gehen nicht gerade durch, sondern nehmen einen etwas gebrochenen Verlauf – sie «stolpern» gewissermassen über die einst dominanten Mauern. Die Lage der Stadtmauern lässt sich hier somit auch aus den Katasterplänen ablesen. Hat man sich an den Befunden der Häuser Leonhardsgraben 43 und 37 gewissermassen «archäologisch geeicht», so kann und darf man auch in weiteren Gebäuden im Bereich dieses Mauerabschnittes nach solchen Versatzstellen suchen und diese – auch ohne archäologisch/baugeschichtliche Untersuchungen – als Indizien für den Verlauf der Stadtmauern betrachten. Aber ohne die Schlüsseluntersuchungen in den Häusern 43 und 37 hingegen wäre das nicht statthaft – dies wäre dann wirklich «über dem Katasterplan gebrütet». Und sinngemäss gilt das auch für die andern, eingangs erwähnten Elemente wie das Parzellenund Gassengefüge, die Topographie, die ikonographischen Quellen und natürlich auch ältere, oft ungenügend dokumentierte oder verstandene Befunde. Zweifellos: Alte Grenzen und historische Abbildungen können noch ältere Befunde widerspiegeln – können, aber müssen nicht. Gerade in der frühstädtischen Entwicklung sind grundsätzlich unbekannte Entwicklungszustände anzunehmen. Und es hiesse die Beweispflicht verdrehen, wollte man frühe Entwicklungen mit jüngeren Quellen beweisen.27 25 26 27 Nach Matt/Rentzel 2002, 149–156 bzw. dort zitierten Ausgrabungsberichten. Nach Matt/Rentzel 2002, 148 bzw. dort zitierten Ausgrabungsberichten. Quellen zu Gebäuden, Parzellen oder Nennungen von Gassen setzen in Basel kaum je vor dem fortgeschrittenen 13. Jh. ein. 14.11.2009 14:54:37 Uhr Welche Stadtmauer und wenn ja – wo? 159 Abb. 4 Leonhardsgraben 37. Links (Schnitt): Die Versatzstellen in den Brandmauern der Liegenschaften Nr. 35 und 37 zeigen den Verlauf zweier älterer Stadtmauern an (M 1:200). Rechts (Grundriss): Die gebrochene Parzellengrenze im Bereich der Ovale korrespondiert mit der Inneren Stadtmauer 2 B, die nur in geringen Fundamentresten erhaltene Burkhardsche Mauer 1 mit den kreisförmig markierten Stellen (M 1:400). Zuerst muss aufgrund methodisch sauberer Befunduntersuchungen gezeigt werden, wo bzw. wo eben nicht eine Stadtmauer verläuft, bevor man Grenzlinien und ikonographisches Material illustrierend und ergänzend beiziehen darf. Am Anfang einer Behauptung sollen fundierte archäologisch-bauhistorische Untersuchungen stehen, welche die Grundlagen liefern. An diesen hat man sich zu eichen und darauf kann man mit der nötigen Zurückhaltung aufbauen. Machen wir doch einmal ein Gedankenspiel: Geben wir uns gewissermassen übungshalber dem Sirenengesang ikonographisch-historisch überlieferter Gassenlinien hin und betrachten das klare Bild der im 13. Jh. gegründeten Vorstadt Kleinbasel auf Merians Vogelschauplan (Abb. 2). Wir verlassen (Gross-)Basel, überqueren die Brücke und gehen geradeaus weiter – bis wir am Clarakloster anrennen. Nun wenden wir uns auf die eine Buch SKAM 36.indd 159 oder andere Seite: Je nachdem können wir die Stadt relativ schnell durch das Bläsitor (am rechten Bildrand) in Richtung Westen verlassen, oder dann irren wir bei St. Theodor herum (links), wo wir einen Stadtausgang an der Ostseite vermissen, bis wir durch das Riehentor (unten links bei der Personenstaffage) nach Norden hinaus gelangen. Ist das ein logisches Verkehrskonzept für eine neu gegründete Vorstadt? Da müssen doch spätere Erweiterungen ein ursprünglich klares Stadtbild verfälscht haben! Dies war jedenfalls die (vordergründig plausible) Annahme in der heimatkundlichen Literatur. 28 Nein – die einzige Erweiterung ist das um 1278/93 der Vorstadt rucksackartig angehängte Klingentalkloster (rechts oben). 28 Klingentalerweiterung: KDM BS IV, 22 f. – Angebliche Erweiterungen im Norden und Osten: Müller 1955, 29 f. und KDM BS VI, 173 f. 14.11.2009 14:54:38 Uhr 160 Welche Stadtmauer und wenn ja – wo? Abb. 5 Lohnhof: Ehemaliges Chorherrenstift St. Leonhard. Links: Situation des Eckturms der Burkhardschen Stadtmauer (Detail) mit vermutetem ursprünglich geplantem Standort (gestrichelt) und ausgeführtem Mauerverlauf (durchgezogene Linien) (M 1:250). Rechts: Überblick über das Areal zwischen Leonhardskirche (oben) und dem Stadtmauer-Eckturm unten mit dem dazwischen liegenden Grundriss des frühen Chorherrengebäudes. Der gebrochene Verlauf der östlich (rechts) des Eckturms liegenden, von diesem abgehenden Stadtmauer und der mutmassliche ursprüngliche Standort erklären sich aus dem Bauvorgang der wenig älteren Leonhardskirche (M 1:1000). – Alle andern, sich rein optisch anbietenden Vorstadtvergrösserungen wie das Viertel mit St. Theodor und der Kartause (links der Achse zwischen den beiden Stadttoren im linken Viertel Kleinbasels) oder auch die ganze nördliche Häuserzeile entlang der unteren Längsseite der Vorstadt sind sich einzig aus dem Vogelschauplan ergebende Konstrukte, für die es nicht die geringsten historischen oder archäologischen Belege gibt. Dasselbe gilt auch für angebliche veränderte Stadttorstandorte. X. Der Idealfall: eine archäologisch-historische Synthese Kehren wir bei zur Leonhardskirche zurück, deren Baudatum gemäss dem diffusen Gründungsbericht 1033 oder 1118 gewesen sein soll. Seriöse historische,29 kunsthistorische30 und archäologische31 Untersuchungen zu Kirche und Augustiner-Chorherrenstift haben die Geschichte einigermassen erhellt. Als Fazit aller Untersuchungen erwiesen sich beide genannten Jahrzahlen als falsch. Sowohl aus kunsthistorischen wie auch historischen Buch SKAM 36.indd 160 Überlegungen zeichnete sich für den romanischen Gründungsbau ein Baudatum in den Jahren um 1060/80 ab – dies die Ausgangslage vor späteren umfangreichen Ausgrabungen im Lohnhofareal, dem ehemaligen Chorherrenstift hinter der Leonhardskirche. Die Ausgrabungen im Lohnhof erbrachten nun folgendes eigenartiges Resultat (Abb. 5):32 Die Burkhardsche Mauer wurde verschiedenenorts gefunden, dazu kam auch ein zugehöriger Eckturm. Allerdings liessen die Mauerfundamente kein klares Konzept erkennen. Die Stadtmauer erreichte den Turm von Osten her kommend erst nach Absolvierung einiger Baulose und nach einem markanten Richtungswechsel – ein ziemlich planloses Vorgehen für diese Grossbaustelle. Und auch der Eckturm stand nicht etwa oben auf der flachen Kuppe 29 30 31 32 Wackernagel 1907, 17, 134f; von Scarpatetti.1974, 19. KDM BS IV, 146 f., 154, 172–175. Moosbrugger/Buxtorf/Maurer 1968. Zuletzt Matt/Rentzel 2002, 170–185. 14.11.2009 14:54:38 Uhr Welche Stadtmauer und wenn ja – wo? des Sporns, sondern statisch ungünstig halb im Abhang drin – weshalb diese suboptimalen Lösungen? Der Burkhardsche Stadtmauerbau auf dem Leonhardskirchsporn reagiert ganz offensichtlich auf den Bau der romanischen Leonhardskirche – die beiden Bautrupps müssen sich gewissermassen noch gesehen haben. Das Westende des Langhauses war offenbar noch nicht abschliessend definiert, und so musste der Eckturm etwas in den Abhang ausweichen, damit die Flucht von dort zur Kirche nicht aus den Fugen geriet (Abb. 5). Und damit behält B. von Scarpatetti Recht, der den «Weg zu einer haltbaren Darstellung der Gründung St. Leonhards durch ein Gestrüpp von Mängeln und Irrtümern in den Quellen und in der Literatur» sieht, worin «die Nachricht über diese Gründergestalt des 11. Jahrhunderts (= der 1082 verstorbene Stifter Ezelinus) ... zu den sichersten der Gründungsgeschichte zählen dürfte».33 Todesjahr des Stifters, ungefähre Bauzeit der Kirche, Reaktion des Stadtmauerbaus auf den Bau der Kirche, alles geht untereinander auf. Und der problematische Südost-Abschluss des Münsterhügels? Auch hier zeichnete sich eine Klärung ab, denn umfangreiche Ausgrabungen im Bereich Antikenmuseum und unspektakuläre Leitungsgrabungen zwischen Rittergasse und Rheinhalde erbrachten dank genauer Beobachtung und sorgfältiger Dokumentation die erlösenden Resultate:34 Anders als an den meisten Orten lag hier die Burkhardsche Mauer n i c h t überall einige Meter hinter der Innern. Vielmehr wurde sie über eine grössere Strecke abgebrochen und an Ort und Stelle durch die neue Mauer ersetzt. «Verräterisch» war ein Erdprofil hinter dieser Mauer beim Antikenmuseum: Es zeigt eine (Bau-)Grube, die ihrerseits durch die Baugrube der Innern Stadtmauer gekappt wurde. Und in der älteren Grube kam Abbruchmörtel zum Vorschein, der sich vom Mörtel der Inneren Stadtmauer unterschied – Grube und Abbruchmörtel können in einem archäologischen Indizienprozess zum Nachweis einer älteren Stadtmauer genügen! Und wie um die Beweislage noch zu verbessern, kamen weiter östlich Mauerfragmente zum Vorschein, die trotz massiver Geländeveränderungen noch genügend klar waren und sich deutlich als letzte Reste der Burkhardschen Mauer entpuppten, wie sie bereits in Kap. IX. geschildert worden ist (Leonhardsgraben 43). Genau so wichtig wie die vorgestellten archäologischen Befunde sind die historischen, die in diesem Fall vorhanden waren: Es geht um Rechtsverhältnisse des Klosters St. Alban, das im Zusammenhang mit der Burkhardschen Stadtmauer in mehrfacher Hinsicht eine Schlüssel- Buch SKAM 36.indd 161 161 Abb. 1 F Stadtmauern nach Helmig/Schön 1994 und Matt 1996. 15 Burkhardsche Stadtmauer, 15a (eher unwahrscheinliche) Variante, T Turm, (T) Hypothetischer Turm, 5 Innere Stadtmauer (ohne Mauertürme) rolle einnimmt. Der Grundbesitz des Klosters reichte gem. der Gründungsurkunde aus dem Jahre 1102/03 bis an die (in der Urkunde leider nicht näher lokalisierte) Stadtmauer. Aber Mitte 13. Jh. (sowie in späteren Urkunden) wird die Lokalisierung präzisiert: Anstelle der Mauer wird in derselben Sache das mittlerweile gebaute Kunostor am Ostende der Rittergasse genannt. Damit darf auch die 50 Jahre ältere Nennung der Mauer als am St. Alban-Graben verlaufend lokalisiert werden, denn es ist unwahrscheinlich, dass sich die ältere Nennung auf eine Stadtmauer im Bereich der antiken Befestigung bezieht, die jüngere auf eine, die gegen 150 m vorverschoben wurde. Dieser Grundbesitzverlust hätte in den Urkunden zweifellos einen Niederschlag finden müssen.35 XI. Schlussbemerkungen Beschreibung und Lokalisierung der Burkhardschen Stadtmauer waren weder Thema des Vortrages noch dieses Aufsatzes, so dass wir uns hier mit dem Verweis auf Abb. 1, F und die Bibliografie begnügen dürfen.36 In jüngerer Zeit sind wichtige Nachschlagewerke erschienen, welche leider 33 34 35 36 Von Scarpatetti 1974, 50, 53. Helmig/Schön 1994. Benner/Damminger 2005, bes. 235. Zuletzt Matt/Rentzel 2002 sowie dort zitierte Literatur. 14.11.2009 14:54:39 Uhr 162 einen überholten Stand widerspiegeln.37 Immerhin ist der «aktuelle Stand des Irrtums» seit kurzem wenigstens in der neu aufgelegten «Schweizerischen Burgenkarte» festgehalten,38 und vielleicht hilft ja auch dieser Aufsatz, veralteten, immer noch herumgeisternden Hypothesen und Konstrukten allmählich den Boden zu entziehen. Die heute postulierte Grösse der von der Burkhardschen Mauer gesicherten Stadt entspricht somit fast wieder dem von Peter Ochs bereits 1786 vermuteten Umfang (Abb. 1 A), doch wurde – angeregt durch Vermutungen und Irrwege, Hypothesen und neue Fundstellen – ein viel differenzierteres Bild der mittelalterlichen Stadt und ihrer Befestigungen gewonnen. Und das Fazit? Viele Hypothesen oder Konstrukte wurden seit dem ausgehenden 18. Jh. geäussert. Und auch wenn sich die meisten nicht halten liessen, so sind Hypothesen trotzdem nicht grundsätzlich abzulehnen. Sie sind ein Arbeitsmittel, und man habe Welche Stadtmauer und wenn ja – wo? ruhig den Mut zu sagen, was man aufgrund des aktuellen Kenntnisstandes glaubt. Vorschnell oder leichtfertig dürfen Theorien jedoch nicht geäussert werden; da war der in Kap. VI. besprochene, noch dezent formulierte «1. Theorienboom» vergleichsweise zurückhaltend. Und insbesondere sollten aus dem ganzen zur Verfügung stehenden Spektrum von Quellen (historische, ikonographische und archäologische Quellen, das Parzellen- und Gassengefüge und ihr Zusammenspiel mit der Topographie) nicht nur diejenigen herausgezogen werden, die ins Konzept passen. Vielmehr müssen möglichst alle kritisch gegeneinander ausgespielt werden, bevor die «ultimative Hypothese» geäussert wird. Die in den 80er Jahren geäusserten Theorien (Kap. VII.) liessen diese Zurückhaltung manchmal vermissen. Und etwas mehr Gelassenheit beim Postulieren oder Widerlegen von Hypothesen wäre wohl nicht nur im Basler Stadtmauerwesen angebracht. 37 38 Buch SKAM 36.indd 162 Schweizer Lexikon 1998–1999, Bd. 1, 397: Artikel «Basel», Plänchen «Basel: Stadtgeschichte»; HLS 2, 39: Artikel «Basel-Stadt», Plan «Phasen der Entwicklung des Stadtkerns im Mittelalter». Burgenkarte 2007, Detailkarte 5. 14.11.2009 14:54:39 Uhr Welche Stadtmauer und wenn ja – wo? Bibliografie Quellen BUB – Urkundenbuch der Stadt Basel, Bände 1–11, Basel 1890–1910. Merian Topographia – Lucas Heinrich Wüthrich (Hg.), Topographia Helvetiae. Faksimile der Ausgabe Frankfurt/M. 1654, Kassel/Basel 1960. Wurstisen 1580 – Rudolf Hotz (Hg.), Christian Wurstisen, Basler Chronik (Basel 1580). 3. Auflage nach der Ausgabe des Daniel Bruckner 1765, Basel 1883. Darstellungen Basler Bibliographie, in: Beilage zur Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 61, (1961). Berger 1963 – Ludwig Berger, Die Ausgrabungen am Petersberg in Basel. Ein Beitrag zur Frühgeschichte Basels, Basel 1963. Berger 1969 – Ludwig Berger, Die Anfänge Basels. In: Basel – eine illustrierte Stadtgeschichte, Basel 1969. Bernoulli 1917/18 – August Bernoulli, Basels Mauern und Stadterweiterungen im Mittelalter, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 16 (1917), 56–86, Nachtrag 17 (1918), 387. Burgenkarte 2007 – Schweizerische Burgenverein (Hg.), Burgenkarte der Schweiz – West, Bern 2007. d’Aujourd’hui 1985 – Rolf d’Aujourd’hui, Zur hochmittelalterlichen Stadtbefestigung von Basel. 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Helmig/Schön 1994 – Guido Helmig/Udo Schön, Die Stadtbefestigungen am St. Alban-Graben und Harzgraben, in: Jahresbericht der Archäologischen Bodenforschung des Kantons Basel-Stadt, 1994, 77–112. HLS – Historisches Lexikon der Schweiz, Bern 1998ff. KDM BS – Die Kunstdenkmäler des Kantons Basel-Stadt, Bände I–VII, Basel 1932–2006. Matt 1998 – Christoph Ph. Matt, «mit maneger burc vil schone» – Turmbau zu Basel?, in: Mille Fiori – Festschrift für Ludwig Berger (Forschungen in Augst 25), Augst 1998, 303–311. Matt/Rentzel 2002 – Christoph Philipp Matt/Philippe Rentzel, Burkhardsche und Innere Stadtmauer – neu betrachtet. Archäologische und petrographische Untersuchungen, in: Jahresbericht der Archäologischen Bodenforschung des Kantons Basel-Stadt, 2002, 131–253. Meyer 1981 – Werner Meyer, Burgen von A bis Z. Burgenlexikon der Regio, Basel 1981. 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Glaser 2 Merian, Topographia, 46; Gestaltung H. Eichin 3 Fechter 1856, Faltplanbeilage 4 JbAB 2002, 148, Abb. 11; Zeichnung links Basler Denkmalpflege, Zeichnung rechts L. Arnaud Bustamante 5 JbAB 2002, 172, Abb. 32 (links) und 177 Abb. 39 (rechts), beide Zeichnungen Archäologische Bodenforschung 14.11.2009 14:54:39 Uhr Buch SKAM 36.indd 164 14.11.2009 14:54:39 Uhr Das Zusammentreffen von Geschichte und Archäologie 165 Darja Miheli Das Zusammentreffen von Geschichte und Archäologie Methodologische Überlegungen zum Verhältnis Geschichte – Archäologie Geschichte – Archäologie: Quellen Aussagekraft der Quellen: Epochen, Themen Die Zuständigkeitsbereiche der Archäologie und Geschichte, der beiden Wissenschaften, die auf die Erforschung der Vergangenheit ausgerichtet sind, unterscheiden sich sowohl im Hinblick auf die behandelten Epochen als auch hinsichtlich der Forschungsthemen. Dabei sind von entscheidender Bedeutung die Quellen, aus denen die beiden Fachbereiche ihre Kenntnisse gewinnen. Die Archäologie verwendet bei ihren Forschungen materielle Überreste, historische Quellen sind dagegen schriftlicher, mündlicher und materieller Art. Historische Quellen in engerem Sinne stellen Niederschriften dar. Diese umfassen Geschäftsschriften, schriftliche Ereignisberichte, historiographische Werke, Zeitungen usw. Während das erhaltene Geschäftsschriftgut objektiv und zuverlässig ist – es geht dabei um eine Art von Überresten der Geschäftsführung, muss der Historiker bei der Erforschung von Ereignisberichten die subjektiven Interessen des Autors ausschliessen. In weiterem Sinne stellen auch materielle Überreste historische Quellen dar, etwa Gelände, Wohnanlagen, Betriebsanlagen, Werkzeuge, Erzeugnisse, Kunstwerke. Die Gegenüberstellung von materiellen Überresten und schriftlichen Quellen im Hinblick auf eventuelle vorsätzliche Fälschung von Tatsachen seitens des Quellenautors ergibt, dass materielle Überreste Vorteile vor jenen schriftlichen Quellen bieten, die nicht zu den Überresten gehören, weil sie bereits in ihrer Entstehungsphase echt sind. Sowohl bei archäologischen materiellen Überresten als auch bei klassischen historischen schriftlichen Quellen für ältere Epochen ist der Forscher mit der Tatsache konfrontiert, dass er mit einem zufällig erhaltenen und gefundenen Materialfragment zu tun hat. Es ist durchaus möglich, dass das Material bereits bei seiner Entstehung nicht über jene Elemente verfügte, deren der Forscher bedürfte, um die richtige Schlussfolgerung hinsichtlich des zu erforschenden Problems ziehen zu können. Bei der Deutung von schriftlichen Quellen wie von materiellen Überresten hängt die gefundene und dargelegte «Wahrheit über die Vergangenheit»1 von Befähigung, fachlicher Hingabe und Objektivität des Forschers ab. Umfang und Aussagekraft der verfügbaren Quellen, auf die sich Archäologie und Geschichte bei ihren Erkenntnissen stützen, sind bei verschiedenen Epochen und verschiedenen Themen mal der Archäologie mal der Geschichte mehr zugeneigt. Die historische Epoche, die älter als fünf Jahrtausende ist – sie kann auch als Urgeschichte bezeichnet werden – fällt in den Zuständigkeitsbereich der Archäologie. Auch in der Epoche bis zum Ende des Frühmittelalters, wo der Umfang historischen Schriftguts noch bescheiden ist, hat die Archäologie den Vorrang. Später steigt der Umfang der schriftlichen Quellen rasch an. Tief in die Neuzeit treten daraufhin Archäologie und Geschichte parallel als selbstständige, sich gegenseitig ergänzende Disziplinen auf, wobei sie dasselbe Ziel verfolgen: die Erforschung des menschlichen Lebens in der Vergangenheit. Etwa seit dem 19. Jahrhundert beginnt die Ethnologie die Rolle der Archäologie zu übernehmen. Im Hinblick auf die zu behandelnden Fragen muss festgehalten werden, dass für die Erforschung des Alltags, der Wohnkultur und der Wirtschaft (Wohnstätten und andere Anlagen, Geräte, Waffen, Ernährung) im Allgemeinen vor allem die Archäologie zuständig ist. Für das politische Geschehen, die Gesellschaft, das Geschäftsleben, das Recht in der Vergangenheit bieten schriftliche Quellen und das Fach Geschichte mehr Antworten. Diese theoretischen Überlegungen zum Verhältnis Geschichte–Archäologie sollen nun durch einige konkrete, praktische Beispiele veranschaulicht werden. Dabei soll einerseits auf unerwartete Möglichkeiten schriftlicher Quellen, andererseits aber auf deren Einschränkungen hingewiesen werden. Buch SKAM 36.indd 165 1 Der Ausdruck «historische Wahrheit», an dem die Archäologen oft Anstoss nehmen, wird hier nicht verwendet, obwohl das Eigenschaftswort «historisch» nicht die Bedeutung «Wahrheit des Historikers» oder «dem Fach Geschichte eigene Wahrheit» beinhaltet, sondern «das in der Vergangenheit Geschehene» bezeichnet. 14.11.2009 14:54:39 Uhr 166 Schriftliche Quellen: Möglichkeiten Kann eine schriftliche Quelle über die Bedürfnisse des interessierten Historikers hinausgehen und das Wissen anderer Fachbereiche ergänzen, deren Forschungsgegenstand materielle Überreste sind, etwa das Raumbild in der Vergangenheit? Dieses erregt sowohl das Interesse der Archäologen und Historiker als auch jenes der historischen Geographen, Landschaftsarchitekten, Architekten, Kunsthistoriker usw. Raumforschungen legen eine Zusammenarbeit zwischen Fachgebieten nahe, die mit konkreten materiellen Überresten zu tun haben, und jenen, die auch sekundäre (schriftliche, künstlerische, historisch-geographische, architektonische) Zeugnisse erforschen. Zu den Letzteren, d.h. zu den Fachgebieten, die eine «nicht-invasive» Herangehensweise bei der Behandlung von erhaltenen Überresten der Vergangenheit verwenden und mittelbare Zeugnisse erforschen, kann auch die Geschichte gezählt werden durch ihre Analyse von schriftlichen Quellen, aber auch von Katasterkarten und anderen historischen kartographischen Darstellungen sowie von bildlichen Darstellungen der jeweiligen Ansichten und Gelände. Versuche von interdisziplinären Geländeforschungen2 gab es in Slowenien bereits mehrere. Andrej Pleterski versuchte, einen historischen Bogen über die Entwicklung des Bled-(Veldes)-Winkels (Gorenjska/Oberkrain) zu spannen von archäologischen frühmittelalterlichen Überresten bis zum franziszeischen Kataster des 19. Jahrhunderts.3 Alja Brglez dagegen unternahm den Versuch, mithilfe von historischen Niederschriften, von ehemaligen bildlichen und kartographischen Darstellungen sowie aufgrund der aktuellen Geländeaufnahmen zu einem urbanistischen Bild der nordwestlichen istrischen Stadt Piran (Pirano) in den ersten Jahrhunderten der Neuzeit zu gelangen.4 Die Erkenntnisse, die man aufgrund der schriftlichen Quellen (mit Ausnahme des Katasters) gewinnt, sind weniger konkret als die materiellen Überreste im Gelände. Einzelne Niederschriften sind dagegen aussagekräftiger als die Anderen und ermöglichen Schlussfolgerungen, die das allgemeine Wissen über den Raum bereichern. Raumbild der istrischen Küstenstädte Piran/ Pirano, Izola/Isola, Koper/Capodistria Als Beispiel sei eine Niederschrift aus dem Piraner Archiv5 zitiert, die das Architekturbild Pirans im 17. Jahrhundert ergänzt. Es handelt sich um ein «Verzeichnis von Vornamen, Familiennamen, von Beinamen und Hausbesitz, von Weingärten, Gärten und Lokalitäten, die sich inner- Buch SKAM 36.indd 166 Das Zusammentreffen von Geschichte und Archäologie halb oder außerhalb des Grundrisses der Stadt Piran befinden oder liegen, sich berühren oder anlehnen innerhalb oder außerhalb der Stadtmauer, von dieser oder den Türmen eingefriedet sind. Es reicht von dem Hügel und Weingarten namens Battifreddo bis hin zur Stadtmauer und der Anhöhe mit der neuerrichteten Georgskirche, die sich oberhalb der Stadtmauer erhebt» (Descrittione de nomi, cognomi, pronomi et possesioni di case, vigne, orti et luoghi, che sono di dentro et fuori situati, et posti et attacati, appogiati et fabrichati nelle muraglie, torri della terra di Pirano, incominciando del monte et uigna de Battifreddo per giro fino alle muraglie et monte della chiesa di San Georgio sopra quali muraglie si uede di nouo esser fabricata). Das Verzeichnis umfasst 114 bebaute oder lediglich kultivierte Grundstücke und Objekte längs der damaligen Stadtmauer von Piran. Die Grundstücke kommen im Verzeichnis nummeriert und in der Reihenfolge vor, wie sie aufeinander folgten. Auf die laufende Nummer des Grundstücks folgt die nähere Bestimmung des Objekts (Haus, Hütte, Turm, Stall, Lagerstätte, Ölmühle, Ofen, Schlachthaus, Weingarten, Garten), ferner dessen Beiname, der Name des Besitzers und die Beschreibung. Der Schreiber trug die Eigenschaften der Objekte nicht genau ein. Diese sollten in erster Linie einer eindeutigen Identifikation der Grundstücke dienen, für das Studium der ehemaligen Baupraxis waren sie jedoch mangelhaft. Sie stellen lediglich eine Richtschnur für die Erforscher der ehemaligen Architektur- und Bausubstanz von Piran dar. Die schriftlichen Quellen bieten von der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts an auch Angaben über den Piraner Stadtkern – über seinen Hafen, das Tor zur grossen weiten Welt, sowie über den anliegenden Markt. Im Jahr 1320 wurde ein umfassender Plan für Erneuerung und Erweiterung des Hafens erarbeitet, der jedoch nicht in die Tat umgesetzt wurde. In den dreissiger Jahren wurden Bauarbeiten an dem Hafenmole durch den Zimmermeister Ognobene aus Cividale durchgeführt. Veränderungen im Stadtkern kann man aufgrund von Niederschriften, historischen Karten (und bildlichen Darstellungen) bis zur Zuschüttung des Innenhafens und auch danach verfolgen: Darüber schrieben ausser dem Architekten Stane 2 3 4 5 Eines der imposantesten internationalen Projekte stellt in diesem Rahmen die Herstellung von Städteatlanten dar, die von einer Sondergruppe bei der Internationalen Kommission für Städtegeschichte (Commission internationale pour l’histoire des villes) vorbereitet wird. Pleterski 1986; Pleterski 1989, 157–182. Brglez 2005. Sodstvo (1592–1610) (= Das Justizwesen (1592–1610); vgl. Miheli 1990, 1–23. 14.11.2009 14:54:39 Uhr Das Zusammentreffen von Geschichte und Archäologie 167 Abb. 1: Stadtplan von Piran. Bernik auch die Historiker Antonio Alisi, Miroslav Pahor, Flavij Bonin, Darja Miheli , die Kunsthistoriker Miloš Mikeln, Breda Kovi , Sonja Ana Hoyer, Mojca Gu ek.6 Erst eine Synthese der einschlägigen Fragen, die in ihren Werken behandelt werden, vermittelt ein ganzheitliches Bild Pirans im Laufe der Zeit. Für die Piraner Baugeschichte – für den Komplex der Georgskirche – werden sowohl im Piraner Stadt- als auch im Kapitelarchiv Niederschriften aus dem letzten Jahrzehnt des 16. und aus dem ersten des 17. Jahrhunderts aufbewahrt: Pläne, Verträge sowie Angaben über den Umbau der Pfarrkirche (Bau eines neuen Turms, Fassadenrenovierung, Bau einer Stadtmauer unterhalb der Kirche).7 Die Baugeschichte der Piraner Pfarrkirche versuchten Restauratoren und Archäologen durch «invasive» Sondierungen zu beleuchten. Die von Darja Miheli vorgeschlagene Methode der Erforschung der Geschichte dieses imposanten Gebäudes durch «nicht-invasive» Deutungen von Originalurkunden wurde gern angenommen. Verheissungsvoll war vor allem die Tatsache, dass die schriftliche Angabe über ein Beinhaus in der Kirche durch Buch SKAM 36.indd 167 gleichzeitige unabhängig davon durchgeführte Ausgrabungen unerwartet bestätigt wurde. Ebenso aussagekräftig ist eine Aufzeichnung, die das Architekturbild des benachbarten Stadt Izola (Isola) beleuchtet. Das mittelalterliche Gesetzbuch – das Statut von Izola8 – enthält den Artikel (Buch III, Artikel 60) De andronis interdictis mondandis in anno (Über die jährliche Säuberung der verbotenen «Andronen»). Eine «Androna» bezeichnete eine enge Passage zwischen den Häusern, durch welche Fäkalien, Spülwasser und andere Abwässer abgeführt wurden. Durch den einschlägigen Artikel wurden Eigentümer und Besitzer von Immobilien an den «Andronen» verpflichtet, die «Andronen» am Marktplatz sowie an der oberen und unteren Seite der Kommunalstraße in Izola dreimal jährlich zu säubern. «Andronen», die statutengemäss in den Stadtkomplex inkorporiert 6 7 8 Bernik 1968; Alisi 1971; Kovi /Pahor 1960, 21–36; Bonin 1993, 10–27; Miheli 1985, 142–143; Miheli 1995, 7–14; Hoyer 1993, 86–110; Miheli 1992, 257–266; Miheli 1996, 4–9; Miheli 1995, 7–14. Morteani 1889, 173–175; Kos 2006, 279–280. 14.11.2009 14:54:41 Uhr 168 Das Zusammentreffen von Geschichte und Archäologie Abb. 2: Schematische Simulation von «Andronen» in Izola. waren, gab es 23. Das Statut enthält bei den meisten «Andronen» die Angabe über ihren Standort, der durch die Beschreibung der benachbarten Immobilien und die Angabe über deren Eigentümer bestimmt wird. Erwähnt werden auch einige kommunale öffentliche Flächen (Marktplatz, Hauptstrasse und «untere» Kommunalstrasse), Kommunalgebäude (Stadtmauer) und Strand (Meer). Die bekannten Tatsachen ermöglichen eine annährende schematische Simulation von benachbarten «Andronen» und Eigentümern von benachbarten Immobilien.9 Die Simulation kann einen wohlbegründeten Hinweis für eine weiterführende Arbeit des Archäologen darstellen, für den die «Andronen» eine Fundgrube bedeuten. Auch für die dritte slowenische Küstenstadt Koper stehen uns schriftliche Quellen zur Verfügung. Leider wurde das ältere Stadtarchiv während des Zweiten Weltkriegs in seiner Gesamtheit von der italienischen Besatzungsmacht nach Venedig verbracht, hinsichtlich seines Zugangs bestehen heute Einschränkungen. Die Bevölkerung von Koper siedelte im Frühmittelalter auf die naheliegende Insel über. Die ursprüngliche Stadt, das antike Aegida, befand sich laut Plinius auf dem Festland.10 Trotz grosser Anstrengungen der Archäologen, die in der Stadt und ihrer Umgebung eine rege Tätigkeit entwickeln, ist der Standort der antiken Siedlung nach wie vor unbekannt. Ebenso ist es den Archäologen nicht gelungen, die bisher fast übersehene älteste, urkundlich Buch SKAM 36.indd 168 überlieferte, monastische Einrichtung für Frauen im Gebiet des heutigen Sloweniens aus dem ersten Jahrzehnt des 10. Jahrhunderts11 in der Stadt zu lokalisieren. Schriftliche Quellen: eingeschränkter Nutzwert Wenden wir uns nun dem Gesichtspunkt des eingeschränkten Nutzwertes einer Niederschrift im Hinblick auf eine konkret gestellte Frage zu. In welchem Masse lassen sich schriftliche Quellen für die Geschichte eines Wirtschaftszweigs, etwa Produktionshandwerks, verwerten? Fest steht, dass sie ermöglichen, die Namen der Handwerker und deren Zahl festzustellen. Selten werden ihre Werkzeuge, öfter dagegen ihre Erzeugnisse und deren Preise erwähnt, ferner der Verdienst, die Bildungsmöglichkeiten, die Bruderschafts- und Zunftregeln. Der technische Fertigungsablauf, das Aussehen von Werkzeugen und Werkstätten sind aus den Niederschriften nicht ersichtlich. Der Forscher ist vor allem mit der Schwierigkeit konfrontiert, die materiellen Überreste zu benennen oder ihn mit dem Wort in der Aufzeichnung in Verbindung zu bringen. Wie aussagekräftig sind also schriftliche Quellen? An dieser Stelle sei das Töpferhandwerk genannt, ein 9 10 11 Miheli 1999, 453–458. Plinius. Štih 2005, 43–60. 14.11.2009 14:54:41 Uhr Das Zusammentreffen von Geschichte und Archäologie Paradefach der Archäologie. Es handelt sich um einen Produktionszweig, der auf eine lange Tradition zurückblicken kann und dessen Erzeugnisse die Menschen von alters her bedurften. Töpferei kam im Mittelalter sowohl auf dem Land als auch in der Stadt als Heim- oder Berufsgewerbe vor. Töpferhandwerk in slowenischen mittelalterlichen Städten Die ersten mittelalterlichen schriftlichen Erwähnungen von Töpferwaren, d.h. des Geschirrs, das jedoch nicht beschrieben ist, beziehen sich in Slowenien auf die Stadt Piran. Im November 1295 traf sich der Piraner Podestà Nicolaus Dandulo mit dem Podestà von Buje Vicardus de Pietra Pelosa bei einem Festmahl (prandium) zusammen. Im Dezember begab er sich mit dem istrischen Markgrafen Musco della Torre auf eine dreitägige Besichtigung der Grenze zwischen den Kommunen Piran und Buje. Beide Male wurde viel gegessen und getrunken. Die Ausgabenliste12 enthält auch die Posten: Gewürze, Ausleihe von Tassen (scudella), von Weingefässen (angasta), von Tellern (ciatus), von Waschgeschirr (pladena) sowie Entschädigung im Falle ihrer Beschädigung. Form, Farbe und Material des genannten Geschirrs, sind nicht überliefert. In einem ähnlichen Zusammenhang werden auch die Gefässe im Piraner Statut aus 138413 erwähnt, das einen Artikel enthält mit dem Titel De frangentibus urcios, fialas uel ciatos in tabernis (Über diejenigen, die Krügel, Krüge oder Teller in Wirtshäusern zerschlagen). Der Artikel verbietet das übermütige Zerschlagen von Weintrink- und Weinmessgefässen. Sonst wird vor der Mitte des 14. Jahrhunderts in den Piraner Niederschriften ein einziger Tassenhersteller erwähnt,14 aber auch dieser war kein Einheimischer – der scudelarius Wilhelm stammte nämlich aus Venedig. Im Mittelalter wurden im Piraner Raum auch Dachziegel hergestellt, wovon die Ausfuhr derselben in das benachbarte Triest zeugt.15 Über die Herstellungstechnik und die Form der Erzeugnisse wird in den Niederschriften jedoch nicht berichtet. Das Hafnerhandwerk ist auch in slowenischen Binnenstädten überliefert,16 etwa in Ljubljana (Laibach),17 in dessen Nähe es eine Überfülle von Lehm gab. Gehen wir nur von schriftlichen Quellen aus, so ist an dieser Stelle die Ersterwähnung der Frau eines Hafners (Haffnar), genannt Hainreih, zu nennen (1391). Vom Beginn des 15. Jahrhunderts ist Hafner Nicolas mit Maierhof vor der Unteren Brücke (heute: Die Drei Brücken) überliefert. Am Ende des 15. Jahrhunderts wird unter den Unter- Buch SKAM 36.indd 169 169 tanen der Kreuzritterordenskommende Herman Haffner erwähnt. Mehr Hafner kommen in Niederschriften der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts vor: in Ljubljana wirkten sechs (in Maribor (Marburg) zur selben Zeit nur zwei)18 Hafner. Im 17. Jahrhundert begegnet man 10 Hafnern. Die Hafnerbruderschaft in Ljubljana wird im Jahr 1545 erwähnt. Die im Jahr 1722 bestätigte HafnerZunftordnung für ganz Krain beinhaltet die Verpflichtung, dass ländliche Hafnermeister der Ljubljanaer Zunft angehören müssten, falls sie nicht bereits einer anderen Zunft angehörten. Hafner lagen sich mit Maurern in den Haaren, weil Letztere durch Errichten von Kachelöfen in ihren Arbeitsbereich eingriffen. Seit dem Mittelalter wirkten in Ljubljana auch Ziegeleien; im Jahr 1559 gab es zwei davon in der Vorstadt Trnovo (Türnau). Wahrscheinlich befanden sich daneben Hafner- oder Ofenbauerwerkstätten, die für die Mitte des 18. Jahrhunderts überliefert sind.19 In Kamnik (Stein in Oberkrain) wird bereits 1359 ein Grundstück in Tuhinj- (Tuchein-) Tal erwähnt, wo Lehm gewonnen wurde. Dafür mussten die Hafner je 10 Pfennig Venediger Schillinge zahlen. Laut erneuerter Zahlungsbestimmung von 1493 musste die Zahlung am St. Michaelstag (29. September) geleistet werden. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts werden in Kamnik sechs Hafner erwähnt, vier davon hatten ihre Häuser am Graben vor der Stadt.20 Im Jahr 1510 baten die Hafner in Škofja Loka (Bischoflack in Oberkrain) um Erlaubnis zur Gründung einer Zunft. Die Zunft vereinigte in ihren Reihen auch Hafner aus Stara Loka (Altlack). Über deren Zunftgenossen legt das Verzeichnis aus dem Jahr 1522 sowie das Urbar aus dem Jahr 1537 Zeugnis ab. Die Hafner von Škofja Loka mussten ihre legitime Geburt nachweisen. Die Lehrzeit eines Gesellen war auf drei Jahre festgesetzt, während dieser Zeit wurde er vom Meister beköstigt und 12 13 14 15 16 17 18 19 20 Franceschi 1924, Nr. 221; Miheli 1984, 7–10. Pahor/Šumrada 1987, 571; Miheli 1993a, 95–100. Vicedominus Buch 1 (Vizedombuch Nr. 1), folio 92 verso – 20. 9. 1325. Notarska knjiga 13 (Notarbuch Nr. 13), folio 21 verso – 30. 10. 1304; Vicedominus Buch 8 (Vizedombuch Nr. 8), folio 212 verso – 19. 11. 1339; Miheli 2006, Nr. 222. Einen Grossteil der Angaben, mit denen ich das Hafnerhandwerk im Inneren des slowenischen Raums hier zu illustrieren versuche, sind den Quellenveröffentlichungen und der relevanten Literatur entnommen; bei der Letzteren berücksichtige ich nur jene Angaben, die meines Wissens auf schriftlichen Quellen beruhen. Valen i 1972; Otorepec 1957b, Nr. 38, 40, 43, 75; Otorepec 1968, Nr. 1, 2, 5. Miheli 1993b, 497–503. Kos 1991, 48–52. Otorepec 1957a, 43–61. 14.11.2009 14:54:41 Uhr 170 bekleidet. Nach der beendeten Lehrzeit liess dieser ein neues Kleid für ihn machen. Bei der Meisterprüfung musste der Geselle vor der Kommission, die vier bis sechs Meister zählte, einen Topf anfertigen, der circa 15 Liter fasste. Der Patron der Hafner von Škofja Loka war der Hl. Florian. Zunftgenossen traten auch im Vorspiel der slowenischen Passion auf, die man in Škofja Loka 1721 aufzuführen begann.21 In Kranj (Krainburg in Oberkrain) wird ein Hafner zu Beginn des 16. Jahrhunderts erwähnt. Die Hafner von Kranj waren bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts in keiner Zunft vereinigt. In dieser Zeit liessen sich die Brüder Ratajc aus Liboje (Steiermark) in Kranj nieder, die auf eine mehr als zehnjährige Hafnerpraxis zurückblicken konnten. So wurde im Jahr 1604 in Kranj die Hafnerzunft der Muttergottes gegründet.22 In der Steiermark genossen die Hafner aus dem deutschen Kindberg besondere Rechte. Der steirische Herzog Wilhelm bestätigte ihnen 1396 das Recht, ihre Häfen (Höfen) frei in Steyr in Stetten, Märckhten, Dörffern und auf dem Lannde zu verkaufen. Sollte der Herzog oder sein Nachfolger in Kindberg oder Bruck weilen, so hätten die Kindberger Hafner die Pflicht, sie mit dem nötigen Kochgeschirr umsonst zu versorgen. Herzog Ernst erneuerte 1407 das Privilegium. Herzog Friedrich trug 1425 dem Abt von Neuberg auf, die Hafner aus Kindberg gegen die von Kapfenberg in Schutz zu nehmen, weil Letztere sie bei der Beschaffung von Lehm für weissglasierte Töpfe behinderten. Im Gegenfall könnten die Ersteren ihre Geschirrlieferungen an die herzogliche Küche nicht gewährleisten. Herzog Friedrich der Jüngere bestätigte die Kindberger Privilegien, den Kindberger Hafnern trug er jedoch auf, ihn und seinen Bruder Albrecht mit Geschirr zu versorgen.23 Im erneuerten Stadtrecht von Ptuj (Pettau in der Steiermark) von 151324 werden die Hafner Peter und Jorg Haffner erwähnt. Fortan wirkten in Ptuj je zwei bis drei Meister samt Werkstätten. Im Rauchgeld-Verzeichnis von 1572 kommen fünf Hafner vor, von denen zwei zweifelsohne das Hafnerhandwerk ausübten. Ins Jahr 1577 datiert die älteste erhaltene Zunftordnung der Hafner von Ptuj, die später mehrmals bestätigt wurde. Sie bestimmte den Arbeitsbereich der Hafner von Ptuj, die Lehrzeit eines Hafnerlehrlings wurde auf drei Jahre festgesetzt. Dann begannen die Wanderjahre des Hafnergesellen, in denen er Erfahrungen sammelte, um anschliessend noch ein Jahr als Geselle «abzuarbeiten». Bei der Meisterprüfung musste er als Meisterstück ausser einem Topf noch Buch SKAM 36.indd 170 Das Zusammentreffen von Geschichte und Archäologie einen Ofen anfertigen. Die Hafner von Ptuj erzeugten auch Ofenkacheln und Öfen. Eine kostbare Quelle für die Evidenz der am Hafnerhandwerk in Ptuj Beteiligten stellt das Register der Hafnergesellen von Ptuj dar.25 Auch die Hafner von Celje (Cilli in der Steiermark) waren in einer Zunft vereinigt, deren Bestimmungen in das Familienleben ihrer Mitglieder eingriffen: Der Hafnermeister, der seine Frau verlassen habe, soll das Handwerk niederlegen, bis er den Weg in das ehrliche Eheleben wiedergefunden habe. Töpferhandwerk im ländlichen Gebiet Sloweniens im Mittelalter Im ländlichen Gebiet der Herrschaft Gornji Grad (Oberburg in der Steiermark), wird in 1340 Chunrad der Hafner erwähnt. Im Urbar von Gornji Grad von 1426 kommen Hafner Martin Sywecz, Micla haffner sowie Michel und Jannes Pet(t)schonat(t)em (Ofensetzer), ebenso Niclas Czigelmeister und Petschnik (Ofensetzer) vor.26 Ende des 15. Jahrhunderts wird ein Hafner auf der Ptujska gora erwähnt. Vor der Mitte des 16. Jahrhunderts werden im Schätzungsverzeichnis von Borl ein Lonzer und zwei Lon ari erwähnt. Um 1500 kommt auf der Freisinger Herrschaft Škofja Loka (Bischoflack) der Familienname Hafner vor, der von einer langen Tradition des dortigen Hafnerhandwerks zeugt. Den Erwähnungen von Hafnern begegnet man in zahlreichen mittelalterlichen und neuzeitlichen Niederschriften: ausser in Zunfturkunden auch in Urbaren (etwa nicht weniger als sechs Hafner (hefner) im Urbar von Sevnica (Lichtenwald) aus dem Jahr 1448: Michael, Clement, Niclaus, Lucas, Merin, Paul, alle in Hafnertal),27 in Steuerverzeichnissen, in Rechnungs- und Handelsbüchern, in Matrikeln, einzelnen Erwähnungen von Familiennamen mit der Bedeutung Hafner begegnet man in verschiedenen anderen Niederschriften. 21 22 23 24 25 26 27 Blaznik 1940; Blaznik 1960, 81–87. Žontar 1939, 195–196. Popelka 1950, Nr. 37, 44, 63, 67. Hernja-Masten/Kos 1999, 202, 214. Mirkovi 1969, 145–158. Orožen 1876, 120, 256, 258, 279, 301, 315. Zahlreiche davon sind in der Sammlung Viri za zgodovino Slovencev = Fontes rerum Slovenicarum erschienen; zu dem Hafnertal, vgl. Kos 1939, 131–132. 14.11.2009 14:54:41 Uhr Das Zusammentreffen von Geschichte und Archäologie Zum Schluss: Erkenntnisse – Erkenntnissbeschränkungen Das Verzeichnis von bekannten Töpfern, ihren Erzeugnissen, Angaben über ihr Leben usw. könnte durch eine gezielte Forschung von Niederschriften erweitert und ergänzt werden – ebenso wie immer neue archäologische Ausgrabungen das Bild der ehemaligen materiellen Vergangenheit des erforschten Gebiets vertiefen. Vorausgesetzt, es wäre vollständig, würde das Verzeichnis aller schriftlichen Erwähnungen von Töpfern in Slowenien ein Bild der Verbreitung dieser Tätigkeit in den verschiedenen Gebieten im Laufe der Zeit ergeben. Es würde die Herkunft und Verwandtschaft von Töpferfa- Buch SKAM 36.indd 171 171 milien vermitteln. Aufgrund von Abgaben und Pflichten der Töpfer könnte ihr Besitzstand ermittelt werden. Die Zunftbestimmungen legen Zeugnis ab von der Zunftorganisation der Töpfer, von ihrem Gesellschaftsleben, von ihrer Ausbildung, von ihren Arbeitsnormen usw. Alle Niederschriften und ihre Analyse sind jedoch – trotz der Fülle von Angaben, die sie uns bieten – nicht in der Lage, ein einziges winziges Töpfererzeugnis zu vergegenständlichen, das die Archäologen uns in grossen Mengen vorzuzeigen imstande sind. Wenn der Historiker bei einer derartigen Forschung ihre Erkenntnisse nicht heranzieht, bleibt sein Wissen mangelhaft, so als ob seine Wahrnehmung eines Sinnes beraubt wäre. 14.11.2009 14:54:41 Uhr 172 Bibliografie Alisi 1971 – Antonio Alisi, Pirano. La sua chiesa, la sua storia, Trieste 1971. Bernik 1968 – Stane Bernik, Organizem slovenskih obmorskih mest Koper, Izola, Piran [The Organism of Slovene Littoral Towns Koper, Izola, Piran], Ljubljana/Piran 1968. Blaznik 1940 – Pavle Blaznik, O cehih na Slovenskem [Über die Zünfte in Slowenien], Ljubljana/Škofja Loka 1940. 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Das St. Vinzenzen-Schuldbuch von 1448 Obwohl sich die folgenden Ausführungen auf den ersten Blick um das eindrucksvolle Wahrzeichen von Bern, das Berner Münster, drehen, soll eben gerade nicht das architektonische Bauwerk im Mittelpunkt stehen, sondern vielmehr ein unscheinbares, zerzaustes Buch, das bescheiden sein Dasein nur wenige Schritte vom Münster entfernt im Stadtarchiv Bern fristet. Für einmal sollen weder die Bauetappen,1 noch die Glasmalereien2 und auch nicht die spektakulären Skulpturenfunde3 ins Blickfeld der Betrachtung gerückt werden, sondern das in der Literatur unter dem Namen «St. Vinzenzen-Schuldbuch»4 bekannte Notizbuch, das 1448 vom damaligen Kirchenpfleger Thüring von Ringoltingen angelegt wurde. Das über 300 Seiten umfassende Schuldbuch wurde bislang eher als – um in der Sprache der Thematik zu bleiben – Steinbruch denn als Quelle per se bearbeitet. Obwohl das St.Vinzenzen-Schuldbuch nicht mit einem buchhalterisch geführten Rechnungsbuch verglichen werden sollte, kann dieses als aide-mémoire angelegte Buch, als Quelle betrachtet, den Finanzierungsalltag und die Praxis der Kirchenpflegschaft erhellen. Konkret soll es darum gehen, den Bau in seiner Alltagsform zu fassen, zu der eben gerade nicht die spektakulären Stiftungen gehören. Das Schuldbuch widerspiegelt den Alltag, in welchem es um jeden einzelnen Schilling geht und darum, wie man zum Beispiel Geld aus dem abzubrechenden Langhaus der alten Leutkirche machen kann: Im Mittelpunkt steht also das Konkrete, das Materielle. Ziel ist es daher nicht, eine umfassende Übersichtsdarstellung über die Baufinanzierung des Berner Grossprojekts «Neubau der Leutkirche», wie das Münster für diesen Zeitraum noch genannt werden muss, zu erarbeiten, sondern vielmehr, einen zeitlich, thematisch und quellenbedingt begrenzten Einblick in die Berner Münsterbaufinanzierung zu ermöglichen. Im Folgenden sollen also Fragestellungen entwickelt werden, deren Beantwortung eine Analyse des Schuldbuchs zu leisten vermag. Einhergehend mit diesem Ausgangspunkt müssen aber auch Fragen aufgegeben werden, zu deren Klärung die vorliegende Quelle nicht herangezogen werden kann, ohne dass man sich dem Buch SKAM 36.indd 173 Vorwurf der Zweckentfremdung ausgesetzt sehen müsste. Unabdingbar für eine fruchtbare Bearbeitung ist in einem ersten Schritt also, klar die Grenzen der Leistungsfähigkeit der erhobenen Informationen abzustecken. Den vorliegenden Ergebnissen liegt die Bearbeitung des Schuldbuchs zugrunde, welche sowohl auf einer aktuellen Transkription als auch auf einer Datenbank beruht, und darüber hinaus eine Möglichkeit darstellen soll, wie eine historische Schriftquelle archäologische und kunsthistorische Befunde unterstützen und in Teilen auch erweitern und bereichern kann. Das St. Vinzenzen-Schuldbuch liegt uns im arg abgenutzten Autograph vor und ist im Stadtarchiv Bern unter der Signatur A 338 zugänglich. Von den 168 folii ist allerdings rund ein Drittel nicht beschriftet. Anhand der Einträge lassen sich neben Thüring von Ringoltingen auch Hans Kindemann und Hans Schütz fassen, die ebenfalls selber Einträge im Schuldbuch notierten. Zudem wird sehr oft ein Hentzmann Gottfried genannt, der anscheinend für den Empfang der Schulden und Stiftungen zuständig war und somit eine eher assistierende Funktion innehatte, wie die Formeln «het Gottfriden geben» oder «seit mir Gottfried» andeuten. Von den über 1250 Einträgen, welche die Jahre 1448 bis 1475 umfassen, lassen sich rund 41% Thüring von Ringoltingen zuweisen, rund 38% Schütz, 9% Kindemann, weitere 8% sich nicht zuordnen lassen und der Rest, also gut 10%, verteilt sich auf einzelne Einträge verschiedener Amtsträger. Das St. Vinzenzen-Schuldbuch als Dokument kommt am ehesten einer Notizensammlung gleich. Über mehr als zwei Jahrzehnte wurde in diesem Buch alles gesammelt, was in irgendeiner Form Einträge versprach, die dem Helg5 zugute kommen sollten. Es finden sich von verbrieften Schulden über Versprechungen bis hin 1 2 3 4 5 So zum Beispiel bei Mojon 1960. Vgl. die ausführliche und beispielhaft aufgearbeitete Studie von KurmannSchwarz 1998. Sladeczek 1999. Stadtarchiv Bern A 338. Mit dem Ausdruck «helg» bezeichnet die Quelle zwei Dinge, einerseits den betreffenden Patron der zu erbauenden Kirche, andererseits aber auch die «fabrica». 14.11.2009 14:54:41 Uhr 174 Abb. 1 Einführungstext im St. Vincenz-Schuldbuch. zu irgendwann vernommenen Äusserungen vielfältigste Formen von Notizen. Trotzdem lässt sich eine gewisse Systematik fassen und diese soll auf den nächsten Seiten rekonstruiert werden. Was die Grundidee und die Arbeitsweise anbelangt, so hat diese der Initiator, also Thüring von Ringoltingen, dem Schuldbuch in seinem Vorwort als konkrete Inhaltsdefinition gleich selbst mitgegeben (Abb. 1): Transkription: «Dis ist sanct Vincencyen der luettkilchen von Bern schuld buoch und ward angefangen zu der heilgen dry kueng tag genempt epiphanya oder der XIIe tag, als ich Thuering von Rinkoltingen ein jaer davor der kilchen buwes pflaeger gesin was und ich die schulden eigentlich us allen buechren und roedeln har in geschriben ha. Ouch stand dar inne des heilgen Sanct Vincencyen und der pfarrkilchen von Baern jaerliche guelt so noch vor handen und unveraendert sind uff den tag, als dis buoch angefangen ward und fieng man an zellen zu wienacht, do dis buoch angefangen ward, von Christi gebuert tusent vierhundert viertzig und acht jaer. Doch was den buw an triffet das staet im buw buoch.»6 In diesem Schuldbuch notiert Thüring von Ringoltingen in seiner Funktion als des «kilchen buwes pflaeger» die Schulden, die er sich aus Büchern und Rödeln herausschreibt, sowie die «jaerliche guelt», das heisst die festen, regelmässigen Einnahmen wie Zinsen und Zehnten von Immobilien. Dass es sich beim Niederschreiben um eine Momentaufnahme handelt, darauf weist Thüring selber hin, indem er ausdrücklich festhält, dass das Schuldbuch nur die Schulden verzeichnet, die zu diesem Zeitpunkt noch offenstehen. Obwohl eben gerade nicht alle Einnahmen verzeichnet sind und sich hier nur ein Zeitfenster Buch SKAM 36.indd 174 Der Berner Münsterbau auftut, soll im Folgenden aufgezeigt werden, dass trotzdem sinnvolle Ergebnisse aus diesem Schuldbuch gewonnen werden können und dass gerade dieser pragmatischpraktische Ansatz des Buches die Handhabung von Buchhaltung und den städtisch-administrativen Alltag in einer spätmittelalterlichen Stadt erhellen kann. Vorerst aber zurück zum Vorwort des Schuldbuches. Ausdrücklich weist Thüring von Ringoltingen am Ende dieser kurzen Einführung auf das Baubuch hin, in dem diejenigen Schulden, die den Bau direkt anbelangen, vermerkt sein sollen. Dies betrifft Materialkosten, Arbeiterlöhne, etc. Es muss wohl an dieser Stelle nicht erwähnt werden, dass gerade das Baubuch eine wunderbare und optimal ergänzende Quelle darstellen würde, doch ist uns dieses leider nicht überliefert, ebenso wenig ein Hüttenbuch. An diesem Vorwort kann gezeigt werden, dass Thüring von Ringoltingen mit diesem Schuldbuch ein Verzeichnis anlegt, um eine Übersicht über die dem Helg geschuldeten Beträge zu bekommen, und zudem auch eine handfeste Hilfe, um die Schulden einzufordern. Es geht also in erster Linie darum, den Inhalt von Briefen und Urkunden, die sich vermutlich lose und unsystematisch in der oft erwähnten «kiste» stapelten, sowie mündliche oder gebrauchsrechtliche Vereinbarungen zu erfassen und in einem einzigen Dokument zu vereinen. Gleichzeitig soll aber auch eine Aktualisierung der jeweiligen Besitzverhältnisse durchgeführt werden. So werden im Schuldbuch, gerade was Zinsen von Immobilien anbelangt, oft Einträge gefunden, welche die «Besitzergeschichten» aufrollen und die Besitzverhältnisse genauer beleuchten. Grundsätzlich ist Thüring von Ringoltingen für die systematische Erfassung der Einträge der Jahre 1448/49 verantwortlich. Er wie auch andere Kirchenpfleger und städtische Beamte notierten später ebenfalls Vermerke, vor allem aber Ergänzungen zwischen Thürings Einträgen. Solche nachträglich hinzugefügten Vermerke zusammen mit Streichungen und Quervermerken haben zur unübersichtlichen Darstellungsweise des Schuldbuchs beigetragen, dennoch lässt sich eine Grundsystematik in der Anlage des Schuldbuchs durch Ringoltingen herauslesen. Im Folgenden soll diese Grundsystematik des Schuldbuchs herausgearbeitet und gedeutet werden. Die Systematik des Schuldbuches lässt sich anhand der Kapitelüberschriften fassen, welche von Beginn an 6 SVSB, fol. 0r. 14.11.2009 14:54:42 Uhr Der Berner Münsterbau angelegt worden zu sein scheinen, denn die Überschriften sind nicht nur vom Format her ähnlich gehalten, sondern wurden über das Buch verteilt, so dass wir heute zwischen den «Kapiteln» teilweise leere oder aber mit nachträglichen, nicht systematischen Notizen gespickte Blätter finden. Einzig Einträge zu bestimmten Personen, wie zum Beispiel zu Fränkli oder Miltenberg, scheinen erst nachträglich der Übersichtlichkeit halber überschrieben worden zu sein. Diese relativ unübersichtliche Auflistung der Kapitelüberschriften lässt sich jedoch in eine strukturiertere Form bringen: 1. Jährliche Einnahmen (z. B. Zinsen, Zehnt, ewig Gült) 2. Gewisse Einnahmen (z. B. Schenkungen, Stiftungen) 3. Ungewisse Einnahmen (ausstehende Schulden, mündliche Zusagen) 4. Almosen nach Jahren 5. Ordnungen von Privatpersonen im Wortlaut 6. Gefundene Güter 7. Bussen 8. Ausgaben des Helg Arnd Reitemeier hat für die von ihm erfassten Rechnungsbücher herausgearbeitet, dass die Reihenfolge der Einträge erkennen lässt, dass zu Beginn die Festhaltung der Rechtstitel im Vordergrund zu stehen scheint. Diese Rechtstitel umfassen in erster Linie Einnahmen von Liegenschaften, auf welche die fabrica rechtlichen Anspruch hat. Er verweist auf den Umstand, dass solche Rechtstitel in Rechungsbüchern nicht nur einen vorrangigen, sondern auch einen umfassenden Platz einnehmen. Dies erklärt sich daraus, dass gerade bei dieser Einnahmequelle eine rechtliche Handhabe vorlag und somit nachvollzogen werden konnte, wer der fabrica welche Beträge tatsächlich schuldig war.7 In Bezug auf das St. VinzenzenSchuldbuch bestätigt sich diese Vorgehensweise, denn mit den «jaerlichen guelt» sind nichts anderes als Zinsen oder Renten von Gütern gemeint, auf welche ein rechtlicher Anspruch bestand. Viel schwieriger erweist sich der Nachweis von geschuldeten Schenkungen oder freiwilligen Leistungen, da – wie Arnd Reitemeier ausführt – diese eher summarisch aufgelistet wurden und oft im Gegensatz zu den besonderen Einkünften auf einem gemeinsamen Konto verbucht wurden.8 175 Bauetappen und konkret materiellem Baualltag stellen jedoch nur eine Auswahl dar und sollen in keiner Weise Anspruch auf Vorrang oder Alleingültigkeit anklingen lassen. Weitere Ansätze wie zum Beispiel die soziale Verteilung der Stifter oder die Verhältnisse zwischen Vermögen und Stiftungen sind Teil einer separaten Untersuchung, die in diesem Rahmen nicht diskutiert wird. 1. Finanzierungsstrategien Um ein Mammutprojekt, wie es der Berner Münsterbau darstellt, langfristig finanzieren zu können, musste die Stadt auf verschiedene Finanzquellen zurückgreifen können. Grundsätzlich sollen die festen Einnahmen den regelmässigen Zufluss von Einkünften in den Säckel der Kirchenpfleger sichern. Zinsen von Immobilien waren zwar sehr wichtig, machten aber nicht den grössten Anteil der Einnahmen aus. Bereits 1418, also noch vor der Grundsteinlegung, waren Gesandte nach Rom entsandt worden, um den bereits bestehenden Ablass von 10 Jahren durch Papst Martin V. verlängern zu lassen. Entscheidender als dieser Ablass erwies sich die ebenfalls in diesem Zeitraum erwirkte Inkorporation der Kirchensätze von Grenchen, Aeschi, Aarberg und Ferenbalm.9 Der Hauptteil der Einkünfte wurde durch die inkorporierten Kirchensätze Grenchen und Aeschi geleistet, wobei darauf hingewiesen werden muss, dass Angaben zu Aarberg fehlen und Ferenbalm im Schuldbuch nicht erwähnt wird. Ringoltingen selbst spricht auch nur von drei Kornzehnten.10 Vermutlich wurden diese Zehnten nicht durch die Kirchenpfleger eingezogen. Wie und ob überhaupt Anspruch auf diese Zehnten erhoben wurde, kann an dieser Stelle nicht erläutert werden. Am ehesten noch drängt sich die Vermutung auf, dass der Rat andere Verhandlungen mit diesen Kirchensätzen geführt hatte. Vergleicht man die Einnahmen aus ewig Gülten, Zinsen und Zehnten miteinander, zeigt sich, dass die Einnahmen aus den Zehnten die ertragstechnisch wichtigsten Einnahmen darstellen. Die folgende Graphik verdeutlicht die Relation der drei en détail ausgewerteten Kategorien von festen, regelmässigen Einnahmen. Weniger die absoluten Zahlen, die hier in Schilling angegeben II. Inhaltliche Auswertung Es stellt sich hier die Frage nach den Auswertungsmöglichkeiten, denn diese sind es letztlich, welche die Quelle erst nutzbar machen. Die nachstehenden vier Auswertungsansätze zu Finanzierungsstrategien, Jahresbilanz, Buch SKAM 36.indd 175 7 8 9 10 Reitemeier 2005, 396. Reitemeier 2005, 396. Rennefahrt 1960, 51–54. SVSB, fol. 7v. 14.11.2009 14:54:42 Uhr 176 Der Berner Münsterbau Abb. 2 Graphik 1: Übersicht über die Relationen der ersten, regelmässigen Einnahmen. (s = Schilling) Abb. 3 Graphik 2: Geschuldete Einnahmen und tatsächliche Einnahmen im Vergleich für das Jahr 1448. (fl = Gulden) werden, als vielmehr die Relationen sollen damit verdeutlicht werden (Abb. 2). Weiter stellt sich die Frage, inwiefern diese dem Helg zugute kommenden Einkünfte überhaupt eingetrieben und bezahlt wurden. Für sämtliche Einträge im Schuldbuch lässt sich sagen, dass die Nachvollziehung der tatsächlichen eingenommenen Gelder sehr schwierig ist. Während in den ersten Jahren der Führung des Schuldbuches viele Einträge mit Kommentaren zur Bezahlung versehen sind, verliert sich diese detaillierte, nachvollziehbare Handhabung nach 1449. Oft werden Einträge durchgestrichen, ohne einen Hinweis auf die Bezahlung zu geben, einige Einträge werden mit dem Vermerk versehen, dass der Schuldner tot sei und nichts mehr zu holen wäre, oder es gibt auch Schuldner, die durch den Rat von ihrer Schuld freigesprochen werden. Dennoch kann sich eine gewisse Tendenz fassen lassen, dass sich im Schuldbuch die Hälfte bis rund zwei Drittel der geschuldeten Beträge als bezahlt nachweisen lassen. In Bezug auf die regelmässigen Einnahmen zeigt sich ein noch etwas höherer Durchschnittswert, vor allem für die Zehntabgaben und die Ewiggülten. Zudem gibt es die als «gewiss» titulierten Einnahmen, unter denen sich Einkünfte, die zwar nicht jährlich eingenommen werden können, aber festgelegt sind, verstehen. Reitemeier bezeichnet diese Einnahmeform mit «besondere Einnahmen».11 In der Regel handelt es sich bei solchen gewissen einmaligen Einnahmen um Schenkungen, Legate, Stiftungen und Verkäufe. Thüring von Ringoltingen selber überschreibt die Einträge für diese gewissen Einkünfte folgendermassen: «Hie nach stant die gewissen schulden sanct Vincencyen und sines buws der luetkilchen von Bern ouch usstaende allmuosen so von frommen lueten geben und noch unbezalt sind.»12 Die übrigen Einnahmekategorien wie z.B. Almosen stellen unsichere monetäre Quellen dar. Diese durch Einmaligkeit gekennzeichneten Einnahmen sollen jedoch nicht weiter ausgeführt werden, da sie einer Behandlung als Einzelfallbeispiele bedürften, um ihrer gerecht zu werden. Buch SKAM 36.indd 176 2. 1448: Versuch einer Jahresbilanz Fast schon naturgemäss interessieren sich der Historiker und die Historikerin für festmachbare Daten und Zahlen, da diese konkrete Aussagen zulassen. Im Falle des Schuldbuchs muss allerdings vor summarischen Auswertungen und Ergebnissen gewarnt werden, da diese den effektiven Baukosten und den Aufwendungen rund um den Bau in keinem Fall gerecht werden können. Auch lässt sich keine Bilanz für das ganze Schuldbuch ziehen, da die Unregelmässigkeit und Unzuverlässigkeit der Einträge ab 1449 dies nicht zulassen. Die einzige einigermassen vertrauenswürdige Momentaufnahme für den Rechnungshaushalt des Schuldbuchs ergibt sich für das Jahr 1448. Dies ist das Stichjahr, von welchem Thüring ausgeht, und die Einträ- 11 12 Reitemeier 2005, 449f. SVSB, fol. 9v. 14.11.2009 14:54:42 Uhr Der Berner Münsterbau ge für dieses Jahr scheinen zuverlässig und einigermassen vollständig zu sein. Mit Vorbehalt können die geschuldeten Summen sowie die tatsächlich eingenommenen Schulden für dieses Jahr zusammengerechnet werden, damit sich eine Vorstellung eines möglichen jährlichen Ertrages der fabrica ergibt und die finanziellen Relationen des Finanzhaushalts der Kirchenpflegschaft nachvollziehbar werden. Es handelt sich mit dem Jahr 1448 aber nicht unbedingt um ein repräsentatives Jahr. Dies liegt zum einen daran, dass 1448 auf die Initiative von Thüring von Ringoltingen hin die Schulden und deren Eintreibung neu organisiert wurden, das heisst, dass wahrscheinlich das erste Jahr zahlungstechnisch überdurchschnittlich gut verlief. Zum anderen scheint es, dass das Schuldbuch in den darauf folgenden Jahren nicht mehr ganz auf dem detaillierten Stand von 1448 gehalten werden konnte. Dies ist insofern verständlich, als dass die Schuldbezahlung meist auf kompliziertem Weg verlief, der Aufwand als Kirchenpfleger neben den sonstigen Tätigkeiten nicht unerheblich und das Schuldbuch nicht gerade übersichtlich aufgebaut war. Allgemein gilt es natürlich auch noch mitzubedenken, dass die Schuldbeträge meist nicht durch eine einmalige Bezahlung beglichen wurden, sondern sich die Schuldenbegleichung durch Teilzahlungen oft auf mehrere Jahre und mehrere Spender verteilen konnte. Für das Jahr 1448 lässt sich folgende Bilanz ziehen, die cum grano salis eine erstaunlich hohe tatsächlich eingenommene Summe ausweist. Diese relativ erfolgreiche Schuldeneinziehung lässt sich, obwohl dies aus dem Schuldbuch nicht direkt ersichtlich ist, wahrscheinlich auf die Initiative und Beharrlichkeit von Thüring von Ringoltingen zurückführen (Abb. 3). 3. Bauetappen und deren Finanzierung Während die Finanzierungsstrategien den Münsterbau erst ermöglichten, werden nun in einem weiteren Schritt die konkreten Bauetappen anhand der Einträge ins Schuldbuch nachvollzogen und deren Potenzial als Ergänzung zu kunsthistorischen Befunden aufgezeigt. Die Tatsache, dass das Schuldbuch in den 1440er Jahren von Ringoltingen initiiert wurde, ist nicht unbedeutend, wenn man den Verlauf des Münsterbaus betrachtet. Die Grundsteinlegung war 1421 mit grossem Zeremoniell vollzogen worden und ist uns vor allem durch Justingers Chronikeinträge zugänglich: «Do man zalt von Gots geburt MCCCCXX iar vor den CC ze Buch SKAM 36.indd 177 177 Berne wart geoffnet dick, daz notduerftig were ein nuewe muenster ze buwenne, won die alte kilche dem volk ze klein were, darzu were es ein alt boes werck und were ze foerchten, daz es nit lange stunde, es viele danider […] Nu hat der tuefel veste gearbeit in der sach, wie daz hinderzogen were, won er sich versichet, daz im manige sele entlouffen were dur den grossen aplas, den man mit dem almusen daran ze gebenne verdienot. Do zugen doch frome luete, gewaltig und ungewaltig, so vast fuer sich und woten nid ablassen, daz do aber gesamnot und geheissen wart, daz man daz werk anvachen solt. Also kamen die ersten steine zu dem werke uf den kilchhoff ze Berne uf den nechsten zinstag nach sant Frenentag, daz do der drit tag septembris. Und also soll sich daz heilig werk anheben mit den almusen. Gott geb im daz himelrich der darzu stueret.»13 Luc Mojon hat sehr schön herausgearbeitet, wie in der ersten Phase des Baus vor allem die von den vermögenden Berner Geschlechtern gespendeten Seitenkapellen um die alte Kirche herum aufgebaut wurden.14 Diese Strategie sicherte einerseits den Weitergebrauch der alten Leutkirche für den Gottesdienstalltag, andererseits aber auch die Finanzen. Der Berner Rat hatte sich 1427 von den Deutschen Herren das Recht übertragen lassen, den Bau der Seitenkapellen und die Finanzierung der Glasfenster der Leutkirche durch einzelne vermögende Bürger finanzieren und «privatisieren» zu lassen. Gerade diese letzte Finanzierungsmethode lässt sich im Schuldbuch sehr schön ablesen, da sich Vertreter der vermögenden Berner Geschlechter diese Möglichkeit nicht entgehen liessen und sich der Bau in dem vom Schuldbuch abgedeckten Zeitraum zwangsläufig auf diese Seitenkapellen konzentrierte.15 Das Schuldbuch bietet also neben den archäologischen und kunsthistorischen Untersuchungen des Münsters eine Möglichkeit, die Bauetappen nachzuvollziehen und diese in ihren historischen Kontext zu setzen. 4. Der konkret materielle Alltag Der Helg trug in einem nicht zu vernachlässigenden Mass zur städtischen Wirtschaft bei, da die Summe, die er aus den verschiedensten Verkäufen erzielte, überaus hoch war. Erstens verkaufte die fabrica die eingenommenen Naturalabgaben, zweitens betätigte sich der Helg aber 13 14 15 Studer 1871, 290. Mojon 1960, 17. Brigitte Kurmann-Schwarz 1999, 457–465. 14.11.2009 14:54:42 Uhr 178 auch als Baumaterialvertrieb und drittens verkauften sich Grabstellen in der entstehenden Leutkirche St. Vinzenz besonders gut. Der Verkauf von eingenommenen Naturalien war zwar einigermassen lukrativ, brachte aber logistische Nachteile mit sich, da der Verkauf organisiert und durchgeführt werden musste und zudem Bedarf an Lagerungsmöglichkeiten herrschte. Der Verkauf von Naturalgaben nimmt im Schuldbuch keinen grossen Stellenwert ein. Grössere Verkäufe betreffen vor allem Korn, Holz, Metallwaren und Textilien (Tuch und Kleidung). Vor allem der Verkauf von Baumaterial erwies sich als sehr einträglich. So wurden vor allem Stein, Nägel, Holz, Ziegelsteine, Eisen, aber auch Pferde des Helgs verkauft. Von den knapp über 200 Verkäufen belaufen sich fast 60 auf Helg-Material. Den grössten Anteil der Verkäufe, über 60, macht der «Verkauf» von Grabstellen und Grabsteinen aus. Hier ein Beispiel eines solchen «Grabkaufs» in der Kirche: «Item Heinrich Hafner sol dem helgen 1 guldin umb ein grab.» 16 Dass man aber solche Grabkäufe teilweise auch wieder rückgängig machen wollte, mag den heutigen Leser erstaunen, wurde aber tatsächlich gemacht: «Item Meister Phetder der stat arzat sol 1 grab und 1 stein dar uff in der kilchen neben der von Diesbach kappelen, er hat das grab ledig gesprochen, und sol Hensli Balsinger das selb grab 4 guldin dar fuit gen und ist in diser kouf geruen und vil nuit gen.»17 An einigen Stellen kann jedoch die Geldleistung klar mit ihrer Zweckbestimmung verknüpft werden. Ein sehr schönes Beispiel findet sich mit der von Hans Schütz gestifteten Seitenkapelle: «Item so denne umb die xxvij guldin so Hans Schuettz fuer sich selb dem heilgen sol wil er an der Cappellen so by der kintbettern tuerli ist verbuwen und me dar zuo des man im billich getruwen sol. Denn er by dem ersten haet das glaßvaenster verdinget ze machen».18 Dieser Eintrag zeigt sehr schön, wie das Schuldbuch hilfreiche Hinweise zu Standorten oder Baufortschritten geben kann. Während auf solch relativ klaren Einträge bereits von der Forschung verwiesen wurde,19 sparte man weniger deutliche Aussagen bisher aus. So kann zum Beispiel folgender Eintrag zu einem von Kaspar von Scharnachthal gestifteten Glasfenster nicht nur Hinweise zu Bauetappen geben (Glasfenster und Dreigestühl), sondern zeigt diese Kunstwerke auch gleich in ihrer zeitgenössischen Funktion inklusive Kosten: «[A]ber sol iunker Kaspar xx guldin het er ferheissen dar umb, das der helg im das glasfenster sol machen. Usser dissem lxxx guldin, Buch SKAM 36.indd 178 Der Berner Münsterbau das ob dem drin stuellen ist, da die phriester uff ruoven, wen si ab altdar gand, des sol gen der Gricht Schriber von des von Scharnachdal wegen l guldin also belibt Caspar von Scharnachdal schuldin xxx guldin im L iar uffen dem zwelfden dag.»20 Die Einträge sollen eben gerade nicht nur steinbruchartig als Hinweise auf Bauetappen genutzt werden, sondern als Teil des Schuldbuchs gesehen werden, welches mit diesen für den Kunsthistoriker sehr bedeutsamen Informationen manchmal ganz pragmatisch umgeht. So findet sich auf derselben Folioseite ein Eintrag von Thüring von Ringoltingen, der aufzeigt, wie unsicher die Zweckbestimmung der Geldleistungen sein konnte und wie alltagsnah und in diesem Sinne ehrlich im Schuldbuch mit den Geldleistungen umgegangen wird: «Item Caspar von Scharnachtal sol an die kilchen, ich weiß aber nitt, ob es an die gezierd oder ann buw hoert. Seit er mir selb tuot – lx guldin.»21 III. Möglichkeiten und Grenzen Das St. Vinzenzen-Schuldbuch bietet durch seine Einmaligkeit als «Notizbuch» die Möglichkeit eines Einblickes in den Alltag einer fabrica ecclesiae, welcher bereits bestehende Erkenntnisse weiter unterstützt und durch die sich ergebenden Parallelen zu bekräftigen vermag. Im Zentrum stand die Frage nach dem Finanzierungsalltag des Berner Münsterbaus. Es konnte aufgezeigt werden, dass verschiedenste Finanzierungsvarianten und -strategien zum Zuge kamen und diese möglichst «alltagstauglich» eingesetzt wurden. In der Regel lässt sich eine pragmatische Geldmittelverwaltung ausmachen, die darauf angelegt war, möglichst viele Schulden zu verzeichnen und diese einzufordern, wenn möglich in monetärer Form und nicht in Naturalien. Allerdings zeigt sich, gerade dass, was das Einfordern anbelangt, dies wahrscheinlich bei kleineren Beträgen oft nicht durchgesetzt werden konnte, obwohl es zu einzelnen Gerichtsverfahren und Mahnungen kam. Auch die Bezahlung, die oft in Raten erfolgte und sich nicht immer im Detail nachvollziehen lässt, deutet auf ein am Alltag orientiertes Wirtschaftsverständnis hin. 16 17 18 19 20 21 SVSB, fol. 89v. SVSB, fol. 67v. SVSB, 18r. Vgl. Mojon 1960, 26. SVSB, 30v. Ebd. 14.11.2009 14:54:43 Uhr Der Berner Münsterbau Ganz allgemein lässt sich verfolgen, dass sich die Finanzierung durch Schulden nicht langfristig planen liess, aber gleichzeitig immer Schulden vorhanden waren. Gerade die Vielzahl der finanziellen Einkünfte der fabrica scheint die latente Geldnot immer wieder abzumildern. Das Schuldbuch soll aber nicht als mehr gedeutet werden, als es tatsächlich ist. Als Sammlung von Notizen und Gedankenstützen ist es eine am Alltag orientierte Quelle, die zugegebenermassen oft Lücken offen 179 lässt, die für die zuständigen Kirchenpfleger einsichtlicher gewesen sein mögen als für den heutigen Leser. Luc Mojon hat das St. Vinzenzen-Schuldbuch als «wichtigste kirchen-, kultur- und baugeschichtliche Quelle, die den Münsterbau betrifft», bezeichnet.22 Dies trifft sicher zu, wenn die Quelle mit den ihr angemessenen Fragestellungen bearbeitet wird, jedoch muss auch in Kauf genommen werden, dass das Schuldbuch bleibt, was es ist: Ein Notizbuch. 22 Buch SKAM 36.indd 179 Mojon 1960, 6. 14.11.2009 14:54:43 Uhr 180 Der Berner Münsterbau Bibliografie Quellen SVSB – St. Vinzenzen-Schuldbuch, Stadtarchiv Bern A 338. Darstellungen Kurmann-Schwarz 1998 – Kurmann-Schwarz, Brigitte, Die Glasmalereien des 15. bis 18. Jahrhunderts im Berner Münster, Bern, 1998. Kurmann-Schwarz 1999 – Brigitte Kurmann-Schwarz, «…die Fenster in der kilchen allhier, die meine Herren zu machen und in Ehr zu halten schuldig…». Andenken – ewiges Seelenheil – irdische Ziele und Verpflichtungen gezeigt an Beispielen von Glasmalereistiftungen für das Münster, in: Ellen J. Beer et al., Berns grosse Zeit, Bern 1999, S. 457–465. Mojon 1960 – Luc Monjon, Das Berner Münster (Die Kunstdenkmäler des Kantons Bern, Bd. 4), Basel 1960. Reitemeier 2005 – Arnd Reitemeier, Pfarrkirchen in der Stadt des späten Mittelalters. Politik, Wirtschaft und Verwaltung (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft, Nr. 177), Stuttgart 2005. Rennefahrt 1960 – Hermann Rennefahrt, Die Rechtsquellen des Kantons Bern, 1. Teil, Stadtrechte, Bd. 6,1 Das Stadtrecht von Bern, Staat und Kirche, Bern 1960. Sladeczek 1999 – Franz-Josef Sladeczek, Der Berner Skulpturenfund. Die Ergebnisse der kunsthistorischen Auswertung, Bern 1999. Studer 1871 – Gottlieb Studer (Hg.), Die Berner-Chronik des Konrad Justinger, Bern 1871. Abbildungsnachweis 1 SVSB fol. 0 2–3 Isabelle Schürch basierend auf Abb. 1 Buch SKAM 36.indd 180 14.11.2009 14:54:43 Uhr Hülle als Konzept 181 Martina Stercken und Lotti Frascoli Hülle als Konzept Konstruktion und Rekonstruktion von Stadtbildern Bildliche Darstellungen der Stadt, gleich welcher Zeit, sind verführerisch: Ob als Abbreviatur seit dem hohen Mittelalter, als gemalte oder gedruckte, individuelle Repräsentationen seit dem ausgehenden Mittelalter, als massstabgerechte Pläne, als Fotos, architektonische Entwürfe und übers Internet generierbare Stadtkarten der Neuzeit beziehungsweise Gegenwart: Bildliche Darstellungen wirken als anschauliche, glaubwürdige und selbstevidente Zeugen städtischer Zustände. Im Unterschied zu Geschriebenem, das die Möglichkeit eröffnet, Sachverhalte zu relativieren, scheinen sie Verhältnisse kompakt und eindeutig wiederzugeben. Nicht zuletzt deshalb setzen sie sich als Vorstellung von der historischen Stadt im Kopf fest und bilden die Grundlage für die Verortung von Wissen, sei dies im Rahmen wissenschaftlicher Forschung, bei der Stadtplanung oder im Kontext von re-enactment und living history (Abb. 1). Eben diesen Stadtbildern gelten die folgenden Überlegungen, die vor allem den methodischen Prämissen des disziplinären Gebrauchs bildlich generierter Vorstellungen von der Stadt nachgehen, den Stadtdarstellungen vergangener Zeiten, die im Rahmen historischer und archäologischer Arbeit konsultiert werden, mit denen argumentiert wird, die irritieren, und solchen, die neu hergestellt werden. Ausgehend von einer wichtigen Bildquelle zum vormodernen Zürich, dem Holzschnitt Jos Murers aus dem Jahre 1576, sollen historische und archäologische Ansätze in den Blick genommen werden, die um den Abbildungscharakter von Stadtbildern, um ihre Aussagekraft als Quelle für die städtische Baugestalt kreisen, und die versuchen, den unterschiedlichen Umgang der beiden Disziplinen mit bildlicher Überlieferung zu präzisieren (Abb. 2). Illustration – Abbildung – Konstrukt (Martina Stercken) Obschon Historiker traditionell überwiegend mit schriftlicher Überlieferung arbeiten, sind seit dem 19. Jahrhundert gerade in der Auseinandersetzung mit der mittelalterlichen Stadt, die ja sowohl neue Lebensform wie auch Gehäuse einer besonderen Gesellschaft darstellt, auch bildliche Quellen einbezogen worden.1 Dabei wurden die seit dem ausgehenden Mittelalter und besonders in der frühen Neuzeit produzierten Darstellungen der Stadt im Grund- und Aufriss in unterschiedlicher Weise für die Untersuchung mittelalterlicher Verhältnisse fruchtbar gemacht. Drei Formen des Umgangs charakterisieren den Zugriff der Historiker auf bildliches Material vor allem: 1. Eine gängige Verwendung bildlicher Darstellungen der Stadt ist diejenige als illustratives Zitat. Gerade in den vergangenen drei Jahrzehnten, mit einem zunehmenden Bedürfnis an populär aufbereiteter Geschichte, werden derartige Abbildungen immer mehr herangezogen, um Untersuchungen zu städtischen Zuständen und Phänomenen anschaulich zu machen. Allerdings ist die Überlieferung aus dem Mittelalter und der frühen Neuzeit begrenzt und sind lediglich einzelne Stadtzustände 1 Abb. 1 Abbildungen, Rekonstruktionen, Imaginationen von Stadt. Buch SKAM 36.indd 181 Vgl. dazu z. B. die neueren Sammelbände: Bild der Stadt 1999; Stadtbilder 2006; Bild und Wahrnehmung 2004; Stercken 2004, 219–240; Stercken 2006, 105–122; s. zum Umgang mit Bildern in der Historischen Forschung insgesamt: Historische Bildkunde 1991; Talkenberger 1994; Burke 2003; Roeck 2004. 14.11.2009 14:54:44 Uhr 182 Hülle als Konzept Abb. 2 Jos Murer, Zürich 1576 (Original 88 × 132 cm). durch Bildquellen dokumentiert. Deshalb dienen historische Darstellungen oft dazu, um ganz allgemein auf einen geschichtlichen Status zu verweisen und einen Zustand der Stadt vor Augen zu führen, der zeitlich nahe bei den im Text dargestellten Verhältnissen liegt. Sie erzeugen also – unvermeidbar – vielfach jeweils mehr oder minder anachronistische Vorstellungen älterer Stadtzustände. Dies gilt nicht nur dann, wenn frühneuzeitliche Stadtdarstellungen abgebildet werden, um mittelalterliche Verhältnisse zu dokumentieren, sondern auch, wenn historische Bildzeugnisse als Layer für die Verortung von Wissen über ältere Verhältnisse verwendet werden. In diesem Fall werden etwa über andere Quellen gewonnene Ergebnisse zur Geschichte von Stadt und Bürgerschaft auf eine historische Darstellung projiziert, also deren Verortung in einer Raumrepräsentation angezielt, die möglichst nahe bei der Berichtszeit liegt. Eine derartige Historisierung aktueller Forschungsresultate lässt sich zum Beispiel an thematischen Karten beobachten. Vor allem aber sind es dreidimensionale Buch SKAM 36.indd 182 Stadtbilder – wie Murers Planvedute –, die es ermöglichen, Aussagen zur Entwicklung der Gesamtstadt, zu Stadtteilen und einzelnen Bauten eine lebenswirkliche, räumliche Dimension und damit grössere Authentizität zu verleihen (Abb. 3 A und B). 2. Als Quelle zur städtischen Topographie sind bildliche Darstellungen der Stadt vor allem in Perioden markanten Stadtumbaus – mit dem Abbau der Befestigungen, den neuen Verkehrsmitteln und mit der Landflucht im ausgehenden 19. Jahrhundert sowie der Zeit des Wiederaufbaus und urbanen Ausbaus nach dem Zweiten Weltkrieg – analysiert worden. 2 In besonderem Masse wurden sie im Rahmen der Erforschung der 2 Vgl. z. B. für Schweizer Städte: Rahn 1889; Vögelin 1878; Vögelin 1890; Strahm 1948; Strahm 1950, zur allgemeinen Entwicklung einschlägig: Fröhlich 1938; Schlesinger 1961; Schlesinger 1963; Schlesinger 1969; Die Stadt des Mittelalters 1978; Hall 1978; Altständisches Bürgertum 1989; Blaschke 1997a; Braasch-Schwersmann 2005. 14.11.2009 14:54:45 Uhr Hülle als Konzept 183 Abb. 3 Beispiele für historische Stadtdarstellungen als Layer für die Verortung von Forschungsergebnissen: links Illi 1992; rechts Gisler 1993. mittelalterlichen Stadtentstehung in Europa in die Auswertung der schriftlichen Quellen einbezogen und als Ausdruck des Verhältnisses von Herrschaft und Gemeinde und dann sukzessive auch als Spiegel des städtischen Wirtschaftslebens und einer differenzierten Gesellschaft interpretiert. Die mehrheitlich neuzeitliche bildliche Tradition wird in diesem Kontext in verschiedener Hinsicht als Zeuge für einen historischen Stadtzustand genutzt. Sie gilt als Referenz für die Erforschung der städtischen Frühgeschichte, die über die schriftliche Überlieferung unzureichend rekonstruiert werden kann, wie auch für die Entwicklungsstufen von Stadtentstehung und -ausbau (Abb. 4). Sie wird ferner als Konzept der Gesamtstadt verwendet, das den Endpunkt der mittelalterlichen Entwicklung darstellt und ermöglicht, das aus der schriftlichen Überlieferung zusammengetragene, punktuelle Wissen über Epochen der Stadtgeschichte und spezifische städtische Entwicklungen zu verorten. Gleichzeitig ist die historische Darstellung selbst Quelle für topographische Befunde. Bereits in der Kantonsgeschichte von 1910 wird der Murer-Plan als eine «erfreuliche Fundgrube jeder topographischen Erforschung des alten Zürich» betrachtet.3 Erst in der Nachkriegszeit allerdings werden vor allem Stadtgrund- und -aufriss systematischer auf die Permanenz älterer Strukturen untersucht, wird begonnen, über die Lesbarkeit nicht-schriftlicher Überlieferung zur Stadtentwicklung nachzudenken.4 Dabei hat sich immer wieder gezeigt, wie wichtig und nützlich es ist, die bildliche Tradition als Geschichtsquelle auszuwerten, aber gleichzeitig auch, dass diese mit Bedacht interpretiert werden muss. Insbesondere wurde dies in Diskussionen um Beiträge zur frühen Stadtplanung deutlich, die mit einer fixen Vorstellung vom Planungsprozess an die historische Überlieferung herangegangen sind (Abb. 5 A u. B).5 Gerade im Rahmen der in den vergangenen Jahren wieder aufgeflammten Auseinandersetzungen um den hochmittelalterlichen Städtebau wurde nicht nur erneut die Komplexität von Stadtgenese und die Notwendigkeit betont, bei ihrer Erforschung Befunde unterschiedlicher Disziplinen einzubeziehen. Ebenso wurde ins Bewusstsein gerufen, dass es in jeglicher Auseinandersetzung mit städtischer Entwicklung gilt, die Historizität der bildlichen Überlieferung zu reflektieren, 3 4 5 Abb. 4 Der Stadtgrundriss wird als Geschichtsquelle einbezogen: Beispiel Peyer/Vogt/Meyer 1971. Buch SKAM 36.indd 183 Dändliker, 1910, 402f. Vgl. z. B. Schlüter 1899, 446–462: Keyser 1958; Keyser 1963, 345–351; Meckseper 1982; Peyer 1990; Blaschke 1997, 193–204; Pfaff 1990, 27–35. Vgl. z. B. Hamm 1932; Hofer 1963; Hofer 1973; Hofer 1977; Hofer 1982; Keller 1981; Humpert/Schenk 2001; neuere Ansätze: Stadt- und Landmauern 1995/1999; Die vermessene Stadt 2004; Albrecht 2004; La belleza della città 2004; Baeriswyl 2003; Stercken 2006. 14.11.2009 14:54:46 Uhr 184 Hülle als Konzept Abb. 5 Der moderne Stadtplan ist Hauptquelle für Theorien zur mittelalterlichen Stadtplanung. Beispiele: A Zürcher Rennweg, Hofer 1963; B Stadtvermessung Villingen, Humpert/Schenk 2001. die jeweils verschiedene Stufen der Stadtentwicklung amalgamiert und, zeitspezifischen Darstellungsweisen folgend sowie mit bestimmten Absichten hergestellt, einen jeweils besonderen Abbildungscharakter besitzt. 3. Keine Frage: Stadtbilder können als Quelle für topographische Strukturen und zum Teil auch für die städtische Lebenswelt ausgewertet werden. Können aber frühneuzeitliche Planveduten, wie Murers Darstellung, ohne weiteres als «zuverlässige Darstellung der baulichen Verhältnisse» in einer spätmittelalterlichen Stadt gelten, wie dies vielfach suggeriert wird?6 So plausibel derartige Aussagen auf den ersten Blick erscheinen, sie werden fragwürdig, wenn man Bildquellen selbst, ihre Entstehungskontexte, ihre Darstellungstechniken und ihre Aussagekraft näher betrachtet. Insbesondere die Auseinandersetzung mit der medialen Vielschichtigkeit bildlicher Überlieferung zur Stadt, die in der historischen Forschung der vergangenen Jahre immer mehr thematisiert wurde,7 hat neue Perspektiven im Umgang mit diesem Material eröffnet und auf komplexe zeitspezifische Formen der Sinnstiftung aufmerksam gemacht: Murers Plan etwa, der 1576 datiert ist, gibt die Stadt in der Gestalt des ausgehenden 16. Jahrhunderts und nicht zu einem exakt definierbaren Zeitpunkt wider. Über etliche Jahre ohne Auftrag der Stadtregierung aufgenommen und in einem langwierigen Prozess zunächst als Bild und dann in einem vielteiligen Holzschnitt hergestellt (Abb. 6), stellt sie gewissermassen eine Verlaufsform des Stadtzustands vor.8 Hinzukommt, dass Murer dem modernen Auge fremden Darstellungskonventionen seiner Zeit folgt, indem er den städtischen Grund- und Aufriss auf einer schiefe Ebene anlegt, um Überschneidungen und Verdeckungen von Gebäuden zu vermeiden und damit den Blick in die Gassen zu öffnen. Zieht man zudem – im Sinne neuerer kulturgeschichtlicher Ansätze – die Bildkomposition und die 6 7 8 Buch SKAM 36.indd 184 Z. B. in der Geschichte des Kantons Zürich 1995, 246. Vgl. dazu die Literatur unter Anm. 1 Vgl. dazu Dürst 1975. Dürst 1996. Dürst 1997. 14.11.2009 14:54:47 Uhr Hülle als Konzept 185 Abb. 6 Murers Stadtdarstellung: Aufteilung nach Druckplatten. Interferenzen von Bild- und Textelementen in Betracht, so wird fassbar, dass der Murer Plan integral als bewusst konzipierte, rhetorisch vielschichtige Überlieferung interpretiert werden muss.9 Dann wird etwa deutlich, dass hervorstechende Bildelemente, wie das Rathaus in der Bildmitte, das überdimensionierte Grossmünster oder die beeindruckend visualisierte, dominante Stadtmauer, nicht nur herausgestellt werden, weil es die Konvention bestimmt oder technisch erforderlich ist, sondern auch, weil diesen Bedeutung zugeschrieben werden soll. Darauf lassen auch die eingelassenen Textfelder schliessen, die die Geschichte der Stadt seit biblischen Zeiten und insbesondere die Leistungen der Stadtregierung, die Bedeutung Zürichs als Zentrum des neuen reformierten Glaubens und als wehrfähige Stadt aufrufen.10 Zwar präsentiert uns Murer ein detailliertes Stadtbild und beteuert selbst dessen Präzision, indem er Messinstrumente (Massstab, Windrose) abbildet und – durch Legenden, die Strassen und Gebäude bezeichnen – eine klare Verortung im Stadtraum ermöglicht. Wie Buch SKAM 36.indd 185 die vorangehenden Bemerkungen zeigen, funktioniert Murers Stadtbild jedoch gleichzeitig als bildlich angelegte Chronik der Zürcher Geschichte und kann deshalb nicht allein als Abbild der bestehenden Stadtgestalt betrachtet, sondern muss als hochreflektierter Multilayer von vielfältigem Wissen über die historische und aktuelle Stadt gelesen werden. Sicher, nicht alle Darstellungen von Stadt sind so dicht konstruiert wie Jos Murers Planvedute von Zürich aus dem 16. Jahrhundert. Aber auch Ansichten oder Pläne anderer Zeiten generieren durch das jeweils spezifische Zusammenwirken von Absichten, Techniken und Formen der Präsentation Aussagen über die Stadt. Und den palimpsestartigen Charakter bildlicher Darstellungen wie auch ihre kommunikativen Möglichkeiten gilt es im Blick zu halten, wenn sie als Quelle für die Baugestalt der Stadt am Ende des Mittelalters oder sogar für frühere Zeitstellungen genutzt werden sollen. 9 10 Vgl. dazu Harley 2001, Baxandall 1985, 1990; Stercken 2006. Vgl. Dürst 1997b; Stercken 2006. 14.11.2009 14:54:48 Uhr 186 Hülle als Konzept Abb. 7 Zwei Abbildungen aus dem Denkmalpflegebericht 1997/98. Links: Lage der untersuchten Liegenschaft Predigergasse 8 in Zürich auf modernem Stadtplan. Rechts: In der Häuserzeile zwischen Eckhaus am «Nüwmerckt» (heutiger Neumarkt) und der Häuserzeile parallel zur Stadtmauer links vom Stadttor ein offenes Gartengelände, wo nach archäologischen Untersuchungen ein Haus stehen sollte. Zustandsdarstellung – Referenzbild – Vorstellungsgenerator (Lotti Frascoli) Der Umgang mit historischem Bildmaterial in der archäologischen Forschung ist insofern ein anderer, als die methodischen Prämissen der Untersuchung von Stadtgenese in diesem Kontext andersartig gelagert sind. Denn das aus archäologischen Quellen generierte Bild der Stadt setzt sich aus den Auswertungsresultaten der einzelnen Ausgrabungen und aus baugeschichtlichen Untersuchungen zusammen. Die überlieferten Körper im Raum sind die Quellen der Siedlungsarchäologie.11 Entlang der Erfassung von Zeitgeschehen in stratigrafisch eingeordneten Schichtpaketen, versucht die Siedlungsarchäologie – patchworkartig und lückenhaft – horizontale Gleichzeitigkeit zu rekonstruieren und die Stadt zu bestimmten Zeitschnitten (also etwa Zürich um 1150 oder Zürich um 1320) zu visualisieren. Zugleich erfasst sie in den Grabungen darüber- und darunterliegende, ältere oder jüngere Siedlungsteile. Die so rekonstruierte archäologische Stadt ist ein ideales Konstrukt.12 Denn die horizontalen Buch SKAM 36.indd 186 Beziehungen enthalten immer auch Verwerfungen, die vertikal ausgerichtet sind; manchmal spielt ältere aufscheinende Siedlungsstruktur keine Rolle für spätere Entwicklungen, manchmal aber determiniert sie die spätere Stadtentwicklung sehr wohl. Der Murerplan von 1576 hat bei der archäologischen Rekonstruktion des mittelalterlichen Zürichs immer eine grosse Rolle gespielt. Anders als die partielle Stadtansicht von Hans Leu dem Älteren, die um 1500 entstanden ist und damit eher spätmittelalterliche Verhältnisse wiedergibt, zeigt dieser als erster die Gesamtheit der frühneuzeitlichen Stadt. Als detailreiche Gesamtschau der Stadt am Ende des Mittelalters ist er eine wichtige Referenz für die archäologische Erforschung der mittelalterlichen Stadt: Gerade deshalb wird er benutzt, um zu verifizieren, wo Baukörper gestanden haben, welche Beschaffenheit sie hatten 11 12 Frommer 2007, 138ff. Jäggi 2004, 125. 14.11.2009 14:54:48 Uhr Hülle als Konzept 187 Abb. 8 Links Westfassade der Predigerkirche in Zürich auf dem Murerplan von 1576, rechts die Westfassade, wie sie sich leicht verändert bei der Bauuntersuchung von 2004 zeigte. und auch, um Orte von Handlungen zu bestimmen. Er wird aber nicht nur gebraucht, um Grabungsflächen zu bestimmen, gilt als Bauarchiv und wird zur Entzifferung sozial gebrauchter Räume benutzt, der Plan dient auch als Massstab für die Berechtigung bestimmter archäologischer Aussagen und zur chronologischen Absicherung von baugeschichtlichen Phasen einzelner Gebäude oder Quartiere. Somit hilft der Murerplan in verschiedener Hinsicht bei der unbedingt notwendigen Verbildlichung archäologisch gewonnener Einzelerkenntnisse und formt – neben archäologischen Quellen – die Rekonstruktion der historischen Stadt durch Archäologen entscheidend mit. Archäologen sind gewohnt mit Bildern zu arbeiten, mit fremden und selbst generierten. Anhand dreier Beispiele soll im Folgenden gezeigt werden, in welcher Weise der Murerplan durch die jüngere archäologische Stadtforschung in Zürich benutzt wird und welche Rolle er als Referenz bei der Untersuchung von einzelnen Bauten, aber auch ganzen Quartieren und Siedlungsvorstellungen spielt. Buch SKAM 36.indd 187 1. Zwei baugeschichtliche Untersuchungen durch Mitarbeitende der Stadtarchäologie Zürich haben am bisher unangefochtenen Charakter von Murers Plan als exakte baugeschichtliche Quelle zweifeln lassen. Schon die Titel der Artikel weisen auf die Verwunderung der Archäologen über die mangelnde Übereinstimmung von archäologisch generierten Bildern der Gebäude mit der Darstellung Murers hin, denn etliche Male vorher hatte sich Murer als exakter Abbildner erwiesen. Der Text «Auf dem Murerplan vergessen?» beschäftigt sich mit dem Haus «Zum Rosenstock» an der Predigergasse 8. Eigentlich erwarteten die Archäologen auf Grund ihrer Bauuntersuchungen spätestens ab dem 14. Jahrhundert hier ein Gebäude, mussten aber feststellen, dass das Gebäude bei Murer fehlt und an seiner Stelle ein eingezäunter Garten abgebildet ist (Abb. 7).13 Im Artikel mit dem Titel «Auf dem Murerplan beschönigt?» wird ein anderes Beispiel für das 13 Kohler-Rummler et al. 1999, 83ff. 14.11.2009 14:54:49 Uhr 188 Hülle als Konzept Abb. 9 Der Murerplan von 1576 als Hintergrund zum Hervorheben und Visualisieren von ganzen Stadtbereichen in Zürich, die heute nicht mehr existieren: dunkler Raster im Vordergrund: Stadtmauer, hellerer Raster links: Dominikanerinnenkloster Oetenbach. Auseinanderklaffen von Baugeschichte und Planansicht angesprochen. Es wird die Hypothese formuliert, Murer hätte das Aussehen der Westfassade der Predigerkirche in einer Phase künstlerisch rekonstruiert, als die Predigerkirche nachreformatorisch als Profanbau benutzt wurde und mit etlichen grossflächigen Fassadenöffnungen verändert worden war (Abb. 8).14 Mit diesen Beispielen wird deutlich, wie sehr archäologisches Arbeiten bedeutet, sich mit unterschiedlich gearteten Quellenbefunden auseinandersetzen zu müssen. Denn sowohl der Plan aus der frühen Neuzeit wie auch die Darstellung archäologisch rekonstruierter Gebäude sind mit spezifischen Absichten verbundene Repräsentationen von Stadtzuständen. Der im vorangegangenen Beispiel angesprochene Widerspruch zwischen Murerplan und archäologisch generierten Ergebnissen ist deshalb jeweils quellenkritisch zu hinterfragen. Die Archäologen lösen im diesem Falle die Widersprüche, indem sie ihre Befunde, – in diesem Fall aus der Unter- Buch SKAM 36.indd 188 suchung zweier Bauwerke – höher gewichten als das dem historischen Bauzustand zeitlich näher liegende Zeugnis Murers. 2. Ein zweites Beispiel betrifft die Quartiergenese beim Rennweg und die Veränderungen in der Sozialtopografie, welche sich in der materiellen Hinterlassenschaft aufzeigen lassen. In der Untersuchung dieses Quartiers von Brigitte Moser etwa dient der Murerplan dazu, eine Vorstellung von einem Quartier, also von Gebäuden im Verband, in einer bestimmten Phase der Zürcher Geschichte zu generieren, das archäologisch noch nicht zur Gänze untersucht ist (Abb. 9).15 Er ermöglicht zudem, eine Vorstellung vom Aussehen des nahe des Rennwegquartiers 14 15 Wild/Jäggin/Wyss 2006, 42ff. Moser 2006, 26. 14.11.2009 14:54:49 Uhr Hülle als Konzept 189 gelegenen, heute nicht mehr existierenden Oetenbachklosters, eines dominikanischen Frauenkonvents, zu entwickeln. Er füllt also visuelle Leerstellen in den anderweitig nicht generierbaren Stadtrekonstruktionen auf. 3. Das dritte Beispiel des Umgangs von Archäologen mit dem Murerplan gilt seiner Rolle bei der Untersuchung grösserer Siedlungsbilder: Es geht um den Versuch, die spätmittelalterliche Stadt und die darunterliegenden Siedlungen zu erkennen und zu interpretieren. Den Lindenhof etwa stellt schon der Murerplan als baumbestandene Freifläche dar (Abb. 10). Der Plan also deutet auf die Möglichkeit hin, dass an dieser Stelle womöglich der Zugriff auf ältere Schichten einfacher sein könnte als in anderen Bereichen der Stadt. Und tatsächlich zeigt sich, dass gerade auf dem Lindenhof auf engstem Raum verschiedene Schichten städtischer Entwicklung, vor allem das spätrömische Kastell und seine Transformationen in mittelalterliche Pfalzen fassbar werden (Abb. 11). Also hilft die Stadtplanvedute bei der Planung von Ausgrabungen und der Entwicklung eines Untersuchungskonzepts. Allerdings verändern sich die baugeschichtlichen Befunde mit jeder neuen Grabung. Murers Plan spielt ferner eine Rolle bei der Generierung archäologischer Vorstellungen von der mittelalterlichen Stadt. Im Zuge einer Ausstellung im Jahre 2004 wurde eine Abfolge von Stadtbildern entworfen, welche die verschiedenen Stadtbefestigungen von Zürich zwischen der Castrumszeit und dem späten Mittelalter zeigen sollten.16 Dabei wurde der Murerplan für die Gebäuderekonstruktionen herangezogen, die in Form von Kuben Bauvolumen im Stadtraum wiedergeben (Abb. 12). Archäologische Befunde sind fragmentiert, aber gerade in Bezug auf die Frühgeschichte von Siedlungen wesentlich, zu denen wenig lokalisierbares Schriftliches und Bildliches überliefert ist. Zudem zwingen Ergebnisse archäologischer Ausgrabungen, mehr als eine Vorstellung von der historischen Siedlung zu berücksichtigen. Bei der Herstellung von Rekonstruktionen spielen Darstellungen wie der Murerplan eine wesentliche Rolle: Die an archäologischen Befunden entwickelte Abfolge von Siedlungsbildern muss jeweils am Plan überprüft werden, der seinerseits die Entwicklung der Stadt am Ende einer langen Entwicklung präsentiert. Der Murerplan ist also Ausgangs- und Endpunkt für archäologische Stadtrekonstruktionen. Er lenkt zudem die archäologische Perspektive. Die starke Betonung der Stadtmauern auf Murers Buch SKAM 36.indd 189 Abb. 10 Der baumbepflanzte Lindenhof in Zürich auf dem Murerplan von 1576. Abb. 11 Archäologisches Spurenbild von Kastell und früh- bis hochmittelalterlichen Gebäuden auf dem Areal des Lindenhofs in Zürich. Neueste Befunde noch nicht eingetragen. Abb. 12 Ein neues Bild entsteht. Rekonstruktion der Siedlung Zürich um 890 mit Hilfe von kubischen Gebäudeflächen: zwischen Vorstellungen über das römische Kastell und Murerplan von 1576. 16 Wild/ Motschi/Hanser 2004. 14.11.2009 14:54:50 Uhr 190 Stadtdarstellung hat mit dazu beigetragen, gerade diesen Teil der Stadttopographie und damit die Grenzen der Stadt im Spätmittelalter zu untersuchen. Die erwähnten archäologischen Auseinandersetzungen mit unterschiedlichen Ausschnitten des Murerplan, so kann man zusammenfassen, nutzen diesen sowohl als Anhaltspunkt für den Stadtzustand wie auch für die Stadtentwicklung. Dabei bestimmt das von Murer präsentierte Stadtbild die Fragestellungen der Archäologie und die Auseinandersetzung mit archäologischen Resultaten. Gleichzeitig können die archäologischen Befunde durchaus auch darauf aufmerksam machen, dass im Bild festgehaltene Baustruktur den historischen Verhältnissen nicht entspricht und damit die Aussagekraft der Darstellung als präzise Abbildung eines geschichtlichen Zustands relativieren. Zeitspezifische Konzepte Der Blick auf Stadtdarstellungen als wesentliche Quelle zur mittelalterlichen Stadtgeschichte hat auf vergleichbare Interessen und Gebrauchsformen, gleichzeitig aber auch auf unterschiedliche methodische Prämissen der Buch SKAM 36.indd 190 Hülle als Konzept historischen, traditionell auf Schrifttum fixierten und der auf die Schichtung von Stadtboden und aufgehendem Mauerwerk konzentrierten archäologischen Forschung aufmerksam gemacht. Deutlich wurde, wie sehr historische Darstellungen – insbesondere die detaillierten Planveduten der frühen Neuzeit – Detailwissen einen Rahmen geben, Vorstellungen vom bürgerlichen Leben vergangener Zeiten beflügeln und gleichzeitig einen wichtigen Ausgangspunkt für die Erforschung von Baugeschichte und städtischer Entwicklung bilden. Wie die schriftliche Tradition so lässt sich aber auch die bildliche Überlieferung nur angemessen für mittelalterliche Zustände der Stadt interpretieren, wenn zum einen die zeitspezifischen Bedingungen und Motive ihrer Herstellung im Blick gehalten und zum anderen ihre Aussagekraft als Quelle mit den Rekonstruktionen baulicher Entwicklung in Beziehung gesetzt wird, wie sie aus der Untersuchung von Stadtboden und aufgehendem Mauerwerk entwickelt werden. Denn sowohl historische Darstellungen wie auch rekonstruierte Stadtzustände stellen Hüllen für Vorstellungen von Stadt her, die vielfach eng aufeinander bezogen, jedoch stets eigens konzipiert sind. 14.11.2009 14:54:50 Uhr Hülle als Konzept Bibliografie Albrecht 2004 – Stefan Albrecht, Die vermessene Stadt – mittelalterliche Stadtplanung zwischen Mythos und Befund. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit, Bamberg 24.–26. März 2003, in: Kunstchronik 2 (2004), 80–85. Altständisches Bürgertum 1989 – Heinz Stoob (Hg.), Altständisches Bürgertum. Bd. 3: Siedlungsgestalt und bauliches Gehäuse (Wege der Forschung 646) 1989. Baeriswyl 2003 – Armand Baeriswyl, Stadt, Vorstadt und Stadterweiterung im Mittelalter. Archäologische und historische Studien zum Wachstum der drei Zähringerstädte Burgdorf, Bern und Freiburg i. Br. (Schweizer Beiträge zur Kulturgeschichte und Archäologie des Mittelalters 30) Basel 2003. 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Abbildungsnachweis 1 Gruber, 1952, 42; Jos Murer, Zürich 1576; Hanser/Mathis/Ruoff 1984, 79; Fröhlich/Steinmann 1975, 75; Rubli 1997, 28 2 Dürst 1975 3 Illi 1992, 50; Gisler 1993, 46f. 4 Peyer/Vogt/Meyer 1971, 197 5 a Hofer 1963, 107 5 b Humpert/Schenk 2001, 81 6 Dürst 1975, 32f. 7 Kohler-Rummler/Kohler-Rummler/Hanser et al. 1999, 83f. 8 Wild/Jäggin/Wyss 2006, 42f. 9 Moser 2006, 26 10 Dürst 1975 11 Küng 2006, 21 12 Wild/Motschi/Hanser 2004, 28 Dr. Anita Rieche, Köln, gilt herzlicher Dank für anregende Gespräche über Disziplinen und ihre Methoden. Buch SKAM 36.indd 192 14.11.2009 14:54:51 Uhr Geschichte und Archäologie bei der Erforschung der mittelalterlichen Stadtentwicklung in Ungarn 193 Katalin Szende Geschichte und Archäologie bei der Erforschung der mittelalterlichen Stadtentwicklung in Ungarn Die Ebenen der Zusammenarbeit am Beispiel von Budapest Erinnerung und Einleitung An den Anfang meines Beitrags möchte ich einige Worte der Erinnerung stellen. Im November 2007 ist Professor András Kubinyi, der Gründer des Lehrstuhls für Mittelalterarchäologie an der Eötvös Loránd Universität, Budapest, verstorben. Ich bin eine von den Glücklichen, die bei ihm studiert und promoviert haben. Ihm ist es zu verdanken, dass es für praktisch alle Vertreter der Mittelalterarchäologie in Ungarn, aber auch für sehr viele Historiker als selbstverständlich gilt, schriftliche Quellen, archäologische Befunde und bildliche Darstellungen zusammen auszuwerten.1 Die methodologischen Fragen und Problemstellungen der internationalen Forschung2 wurden in seinen Vorlesungen sofort rezipiert und manchen sogar vorgegriffen. Kubinyis Konzept für diesen Ansatz war sicherlich stark davon beeinflusst, dass er, ursprünglich als Historiker und Archivar ausgebildet, für 15 Jahre die mittelalterliche Abteilung des Historischen Museums der Stadt Budapest leitete, 3 bevor ihm eine Stelle am damaligen Lehrstuhl für Archäologie an der Loránd-Eótuös Universität Budapest angeboten wurde. Dort leitete er den Unterricht in der Mittelalterarchäologie bis kurz vor seinem Tod.4 Ich möchte diesen Beitrag seinem Andenken widmen.5 Dass man die mittelalterliche Geschichte der ungarischen Hauptstadt nur erforschen kann, wenn man alle erreichbaren Quellengattungen dafür nutzt, mag folgender Sachverhalt kurz erklären. Das einst umfangreiche Archiv der Stadt Buda (Ofen) wurde während der Türkenzeit, d. h. im 16. und 17. Jahrhundert, so stark zerstört, dass das heutige Archiv der Stadt Budapest lediglich zwölf mittelalterliche Dokumente besitzt, die fast alle in der Truhe der Zunft der deutschen Fleischer von Buda 1529 nach Pressburg transportiert und damit gerettet wurden.6 Selbst wenn man alle mittelalterliche Dokumente, die sich auf die Hauptstadt beziehen oder von deren Administration ausgestellt worden sind, aus anderen Archiven beizieht, genügen diese doch nicht, eine zusammenhängende Buch SKAM 36.indd 193 Geschichte der Stadt Budapest zu schreiben.7 So haben die besonders nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs intensiv geführten Ausgrabungen und die Erforschung von noch bestehenden Wohnbauten, vor allem der Keller, sowohl im Burgviertel als auch in den ehemaligen Vorstädten unsere Kenntnisse über die Geschichte der Hauptstadt wesentlich erweitert.8 Die Lage ist ähnlich in den anderen Städten Ungarns. Während der Türkenzeit, besonders aber im Zuge der Vertreibung der Osmanen und der Rückeroberung des Landes wurden sowohl die Archive als auch die Bausubstanz der Siedlungen sehr stark beschädigt oder gänzlich vernichtet. Mit der Ausnahme von Sopron (Ödenburg)9 sind mehr oder weniger vollständige städtische Archive nur in den Gebieten des Karpatenbeckens erhalten geblieben, die ausserhalb der heutigen Landesgrenzen Ungarns liegen.10 Dieser Mangel an Schriftquellen macht es noch dringender, alle zur Verfügung stehenden Quellen mit einzubeziehen, um ein Bild des mittelalterlichen städtischen Lebens (re)konstruieren zu können. Wie ist es aber möglich, ein sinnvolles Bild aus 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Einer seiner exemplarischen Beiträge, in dem er diese Arbeitsmethode erklärte und anwandte, ist: Kubinyi 1985. Seine letzte Publikation zu diesem Thema: Kubinyi 2003. Siehe zuletzt Untermann 2004 (mit der älteren Literatur). Seine Hauptwerke in dieser Periode sind die monographische Darstellung der Entstehung von Buda (Ofen) und der spätmittelalterliche Teil der fünfbändigen Reihe «Geschichte von Budapest»: Kubinyi 1972 bzw. Kubinyi 1973. Kubinyi/Laszlovszky 1993. Vollständige Bibliographie seiner Werke: Laszlovszky 2009b. Kenyeres 2008, vgl. Kubinyi 1973, 118–120. Die zwei bisher erschienenen Urkundensammlungen zur Geschichte von Budapest sind: BTOE I 1936, BTOE III 1987. Ein innovatives Projekt, ein «digitales Archiv» der Städte Buda (Ofen), Pest, und Óbuda (Altofen) zusammenzustellen, läuft seit 2004 unter der Leitung von Péter Kis und Iván Petrik im Budapest Föváros Levéltára (Stadtarchiv Budapest). Die beste deutschsprachige Zusammenfassung der Ergebnisse zur archäologischen Forschung: Budapest 1991. Siehe auch seit neuestem: Kincsek 2005 (zweisprachig). Die Urkunden, Rechnungen und zwei Stadtbücher sind in Házi 1921–1943 publiziert, weitere Stadtbücher sind seit 1993 in der Reihe «Quellen zur Geschichte der Stadt Ödenburg» veröffentlicht. Ein Überblick der Materialien zum gesamten Karpatenbecken: Bevezetés (in Vorbereitung). 14.11.2009 14:54:51 Uhr 194 Geschichte und Archäologie bei der Erforschung der mittelalterlichen Stadtentwicklung in Ungarn so unterschiedlichen Bruchstücken zusammenzusetzen? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir zuerst kurz die Eigenschaften, Vor- und Nachteile der Schriftquellen und der mit archäologischen Methoden entdeckten Quellen im ungarischen Kontext betrachten.11 Die Quellen: Aussagekraft und Beschränkungen Der Rahmen dieses Beitrags erlaubt es nicht, das Thema anhand eingehender Quellentypologie zu beleuchten; an dieser Stelle soll es genügen, die Qualität der Information aus den beiden Quellentypen darzustellen.12 Die vier Aspekte, die ich im Folgenden vergleichend betrachte, sind: Beziehungen zu Zeit, Raum, Menschen und Inhalten. Die Schriftquellen sind zeitlich gut einzuordnen, die einzelnen Stücke sind meistens datiert. Eine Einschränkung stellt aber die Tatsache dar, dass sie sich nicht die gesamte Zeitspanne der Existenz der jeweiligen Siedlung erstrecken, und besonders für die frühere Perioden lückenhaft sind. In Ungarn sind fast keine stadtbezogenen Dokumente vor Anfang des 13. Jahrhunderts überliefert,13 eine regelmässige schriftliche Tätigkeit der lokalen Behörden, d. h. der städtischen Kanzleien, beginnt erst nach der Mitte des 14. Jahrhunderts. Die archäologischen Quellen decken ein breiteres zeitliches Spektrum ab, sind aber meistens nur über verschiedene indirekte Methoden (Stratigraphie, Typologie, Münzen, Dendrochronologie usw.), mit jeweils unterschiedlicher Genauigkeit datierbar. Räumliche Beziehungen sind dagegen nur für einen Teil der Schriftquellen relevant, und auch dann oft nicht genau, sondern nur in relativer Weise bezeichnet: Die Lage von einem Gebäude oder Objekt ist in der Regel in Bezug auf seine Nachbarn oder auf ein lokales Merkmal angegeben, was eine Identifizierung heute oft schwierig macht. Räumlich beziehen sich aber solche Quellen oft auf das gesamte Stadtgebiet, wie z. B. Steuer- und Zehntlisten, Vermögensbücher und ähnliche serielle Aufzeichnungen. Mit archäologischen Angaben ist die Lage gerade umgekehrt: Sie sind ipso facto räumlich gut bestimmt, decken aber nur einen Bruchteil der ehemaligen Siedlung ab. Obwohl manchmal die Ausgrabungsflächen nicht von wissenschaftlichen, sondern von modernen wirtschaftlichen Interessen bestimmt sind, trägt jedoch jede Ausgrabung ein neues Erkenntnis-Element zur städtischen Topographie bei. Personen, d. h. Mitglieder der ehemaligen Stadtbevölkerung, sind auch unterschiedlich in den zwei Quellentypen vertreten. Schriftquellen beziehen sich oft Buch SKAM 36.indd 194 auf bestimmte Einzelpersonen, wobei die soziale Oberschicht überrepräsentiert ist. Im archäologischen Befund sind dagegen fast kaum Individuen zu finden, sondern vielmehr zufällige Ausschnitte der Gesamt-Gesellschaft, die ausserdem meistens (mit der Ausnahme von Gräberfeldern) nur indirekt, über ihre Gebrauchsgegenstände vertreten sind. Es gibt auch wesentliche Unterschiede hinsichtlich der Lebensbereiche, über welche die Quellen berichten. Die auf uns gekommenen Dokumente haben einen sehr starken rechtlichen Charakter. Wenn eine Angelegenheit keine rechtlichen oder finanziellen Folgen hatte, war sie nicht «schriftwürdig». Dementsprechend kommen Aspekte des Alltagslebens eher sporadisch, meistens im Zusammenhang von Regelungen oder Streitigkeiten vor. Dagegen sind die Ausgrabungen voll von Überresten – oder eher Abfällen – des täglichen Lebens, die Zusammenhänge mit anderen Bereichen des Lebens, wie z.B. Recht oder Gesellschaft, sind aber nicht immer offensichtlich. Aspekt Schriftquellen Archäologie Zeit Raum Menschen Inhalte genaue Datierung Raum oft nicht relevant bestimmte Personen Recht- und Finanzsachen indirekte Datierung genaue Lokalisierung (fast) keine Einzelpersonen Abfälle des täglichen Lebens Jedoch: derselbe Raum, dieselbe Zeit, dieselbe Menschen! Neben den bedeutenden Unterschieden haben die beide Quellentypen ein gemeinsames Merkmal: ihre Lückenhaftigkeit – sie sind wie zwei Puzzlespiele mit fehlenden Teilen. Jedoch haben beide dasselbe Musterbild im Hintergrund: Sie beziehen sich auf denselben Raum, dieselbe Zeit, dieselbe Menschen. In Folgenden möchte ich einige Beispiele für die verschiedenen Ebenen zeigen, auf welchen man versuchen kann, die Beziehungen zwischen den sporadischen Angaben oder lückenhaften Bildern nachzuweisen. Räumlich bleibe ich im ehemaligen engeren Forschungsgebiet von Herrn Prof. Kubinyi, dem Gebiet der heutigen Hauptstadt Ungarns, Budapest, die bis Ende des 19. Jahrhunderts aus drei verschiedenen selbständigen städtischen Einheiten, nämlich Óbuda (Altofen), Pest und Buda (Ofen) bestand. Zeitlich umfassen die Beispiele die 11 12 13 Vgl. Holl 1991, Holl 1995. Der jüngste Überblick: Szende K. 2009. S. Kubinyi 1985, 615–617. Vgl. Elenchus 1997, Elenchus 2005. 14.11.2009 14:54:51 Uhr Geschichte und Archäologie bei der Erforschung der mittelalterlichen Stadtentwicklung in Ungarn 0 195 50m Abb. 1. Óbuda im Spätmittelalter, topographischer Überblick: 1 Franziskanerkloster; 2 Marienkirche des Kollegiatstiftes; 3, 6, 8 Wohnhäuser; 4 Marktplatz; 5 Königsburg (seit 1343 Burg der Königin); 7 Hl. Margarethen-Pfarrkirche; 9 Kloster der Klarissen. Periode, aus der auch schon einige Schriftquellen zur Verfügung stehen, d.h. den Zeitraum zwischen dem späten 13. und dem frühen 16. Jahrhundert.14 Die Ebenen der Verknüpfung von schriftlichen und archäologischen Angaben Die «unterste» Ebene, d.h. die anscheinend einfachste Aufgabe, ist, ausgegrabenen Gebäudereste oder Objekte mit der Hilfe von Schriftquellen zu identifizieren – oder umgekehrt, die Angaben von Schriftquellen mit der Hilfe von archäologischen Befunden zu «verifizieren». Ein viel zitiertes Beispiel dafür ist der Klarissenkonvent von Óbuda (Altofen). Die Siedlung war vermutlich ein Zentrum schon in der Landnahmezeit, in einigen späteren Quellen als Etzelburg bezeichnet. Später in der Arpadenzeit war sie eine der königlichen Residenzen und Sitz des Mitte des 11. Jahrhunderts gegründeten Kollegiatstiftes St. Peter.15 Eine neue königliche Burg wurde dort Buch SKAM 36.indd 195 Anfang des 13. Jahrhunderts erbaut; südöstlich davon gründete Königin Elizabeth Łokietek 1334 mit päpstlicher Erlaubnis ein bedeutendes Klarissenkloster, wo sie 1380 – in der Corpus-Christi-Kapelle – auch begraben wurde. Die Vorliebe der Königin zu diesem Ort beweist auch die Tatsache, dass sie sich die Burg und die dazu gehörenden Besitztümer 1343 von ihrem Sohn König Ludwig I. (1342–1382) schenken liess. Das mit Pfründen reich dotierte Kloster wurde im Laufe des 16. Jahrhundert, zusammen mit fast allen anderen Gebäuden vollständig zerstört. Seine Ruinen legten im Laufe der 1970er Jahre Herta Bertalan und Júlia Altmann bei Bauarbeiten für eine grosse Wohnsiedlung frei (Abb. 1, Nr. 9).16 Die 14 15 16 Ich möchte mich bei András Végh (Historisches Museum der Stadt Budapest) für seine Hinweise und Vorschläge bedanken. Altmann/Bertalan 1991a. Bertalan 1982, Altmann/Bertalan 1991b. 14.11.2009 14:54:52 Uhr 196 Geschichte und Archäologie bei der Erforschung der mittelalterlichen Stadtentwicklung in Ungarn Abb. 2 Buda, die Lage und Umgebung der St. Sigismund-Propstei auf dem Burgberg am Anfang des 16. Jahrhunderts: A Könisgpalast, E St. Sigismund-Propstei, F Beginenhaus der Franziskaner, G Franziskanerkloster St. Johannes, H St. Johannestor, I Judentor; Szent János utca = St. Johannesgasse, Szent Zsigmond utca = St. Sigismundgasse (alte Judengasse). Hausbesitzer am Anfang des 16. Jahrhunderts (nach András Végh): 1 István Szapolyai, Voivode von Siebenbürgen; danach István Henczelffy, königlicher Rechtsverweser; danach János Kakas, Kustos von Pécs; 2 der Abt von Pannonhalma, 3 László Kubinyi, königlicher Hofrichter (provisor curiae); 4 István Désházi, Hofrichter des Erzbischofs von Esztergom; 5 György Mekcsei, königlicher Sekretär; 6 István von Ragusa, königlicher Barbier und Kastellan von Óbuda; 7 Martin von Preussen, königlicher Kanonenmeister, danach Imre Perényi, Palatin; 8 Gáspár Somi, königlicher Kämmerer, danach Imre Perényi, Palatin; 9 die Kanoniker des St. Sigismund-Kollegiatkapitels; 10 János Bánfi, königlicher Mundschenk und Kämmerer; 11 der Propst des St. Sigismund-Kollegiatkapitels. Ausgrabung brachte jedoch viel mehr ans Tageslicht als die genaue Stelle der aus den Gründungsdokumenten und topographischen Quellen schon bekannten Gebäude, die vor allem in der 1355 ausgestellten Teilungsurkunde zwischen dem königlichen Stadtteil (damals schon de facto im Besitz der Königin) und dem St. Peter-Kollegiatstift erwähnt wurden.17 Dank der Ausgrabungen kann man heute die Grosszügigkeit der vielleicht einflussreichsten Königin von Ungarn im Mittelalter besser einschätzen, ebenso wie man nun die Bedeutung dieser zwischen der Burg der Königin und dem wirtschaftlichen Zentrum der Stadt gelegenen Institution für die städtische Topographie besser verstehen kann.18 Die genaue Bestimmung des Marktplatzes von Óbuda war auch ein Ergebnis dieser Ausgrabungen. Seine Buch SKAM 36.indd 196 Orientierung entlang wichtiger Handelsstrassen in Richtung der über die Donau führenden Fähre zeigte eine bewusste Standortwahl; die vielmals erneuerte Pflasterung deutet eine kontinuierliche Benutzung an und die solide Fundamente von Steinhäusern aus den 14./15. Jahrhunderte beweisen, dass die Siedlung nach der Gründung von Buda in der Mitte des 13. Jahrhunderts ihre Bedeutung nicht völlig verlor. Keine von diesen drei Folgerungen lassen sich so aus den wenigen erhaltenen Schriftquellen ziehen.19 Ebenso wichtig war die archäologische Freilegung des Kollegiatsstiftes zu Unserer Lieben Frau oder St. Sigismund auf dem Burgberg von Buda (Ofen).20 Da diese Kirche erst im frühen 18. Jh. abgebrochen wurde, war ihre Lage aufgrund von Stadtveduten und Plänen im Grossen und Ganzen bekannt (Abb. 2, E). Dank ihrer königlichen Gründung von König Sigismund (1387–1437) um 1410 und ihrer Nähe zum Königspalast kommt diese Kirche nicht nur in Urkunden, sondern auch in einigen erzählenden Quellen, z. B. in den Denkwürdigkeiten von Eberhard Windecke vor.21 Ihre Wichtigkeit für die königliche Residenzbildung wurde aber erst nach der Entdeckung eines sehr bedeutenden Fundes von gotischen Skulpturen aus einem Gebäude neben der Kirche im Jahre 1995 wirklich klar.22 Diese Fundstelle zeigt erneut, dass mit der 17 18 19 20 21 22 Eine ausführliche Analyse der topographischen Quellen bietet Fügedi 1959 an, die Teilungsurkunde veröffentlichte Kumorovitz 1976. Altmann/Bertalan 1991b, McEntee 2006, Szende L. 2007. Altmann 2004. Feld 1999. Kumorovitz 1963, Végh 1998, Kubinyi 1999; neue Sichtweisen zur Gründung: Tóth 2005. Buzás 1999. 14.11.2009 14:54:54 Uhr Geschichte und Archäologie bei der Erforschung der mittelalterlichen Stadtentwicklung in Ungarn gemeinsamen Auswertung von schriftlichen und archäologischen Quellen auch die Kleinfunde, etwa die Keramik von hoher Qualität, u.a. zahlreiche importierte Gefässe und glasierte Tafelkeramik, eine tiefere Bedeutung gewinnen können, wenn sie mit den historischen Kenntnissen über ihren gesellschaftlichen Kontext im Zusammenhang gebracht werden.23 In einigen Fällen können die Funde sogar mit Einzelpersonen verknüpft werden, wofür auch die Forschung auf dem Burgberg ausgezeichnete Beispiele liefert. Mit der sorgfältigen Auswertung der wenigen erhaltenen urkundlichen Angaben ist es András Végh gelungen, die Besitzer der einzelnen Grundstücke beim königlichen Palast am Anfang des 16. Jahrhunderts zu identifizieren, ohne Ausnahme hochrangige Würdenträger des königlichen Hofes, Prälaten oder Leiter der lokalen kirchlichen Institutionen (Abb. 2).24 Zwischen 1994 und 2006 wurden in diesem Bereich durch Archäologen des Budapester Historischen Museums auf einer unüblich grossen Fläche intensive und systematische Ausgrabungen durchgeführt.25 Das Fundmaterial der freigelegten Wohnhäuser widerspiegelt nicht nur ein den bürgerlichen Lebensstandard weit überschreitendes Niveau der materiellen Kultur, sondern stellt manchmal sogar die Besitzer dieser Bauten und Auftraggeber der prunkvollen Stücke in ein neues Licht. Einer der interessantesten Besitzer war Stefan (István) von Ragusa, nachweisbar zwischen 1487 und 1511, königlicher Barbier und Kastellan des erwähnten Schlosses der Königin in Óbuda. Von bürgerlicher Abstammung, aus der dalmatinischen Stadt Ragusa (heute Dubrovnik, bis 1526 formell unter ungarischer Herrschaft), aber täglich in den hochgestellten Kreisen des Hofes anwesend, liess er sein wahrscheinlich mit einem Innenhof mit Arkaden ausgestattetes Haus mit Reliefschmuck höchster Qualität, mit RenaissanceMotiven wie Fruchtbündeln, cornucopiae, Balustern usw. verzieren. Vor den Ausgrabungen war nicht bekannt gewesen, dass die Wohnhäuser von Buda schon am Anfang des 16. Jahrhunderts die hochmodischen Renaissance-Dekoration des Königspalastes nachgeahmt hatten.26 Die Ergebnisse der archäologischen Untersuchungen bei der St. Sigismund-Kirche zeigen auch den Weg zu einer zweiten Ebene der gemeinsamen Auswertung von archäologischen und schriftlichen Quellen, durch die erfolgreiche Integration der Bebauungstopographie mit der sozialen Topographie. An der Ostseite dieses Bereichs lag die St. JohannesGasse mit dem Franziskanerkloster, während die Gasse an der Westseite, wo eine kontinuierliche Reihe von rund Buch SKAM 36.indd 197 197 19 Parzellen freigelegt wurde, in zahlreichen Quellen als «Judengasse», später als «St. Sigismund-Gasse» oder «Alte Judengasse» bezeichnet wurde. 27 Dieser Name führte zur Erwartung, bei den Ausgrabungen die spezifischen Gebäude und den materiellen Nachlass der ehemaligen jüdischen Bevölkerung festzustellen. Die Reihenfolge der Entdeckungen war selbst sehr aufschlussreich. Es gab zuerst keine Anhaltspunkte für eine jüdische Bebauung: Weder die Struktur der Häuser noch die Zusammenstellung der Kleinfunde wich von denen in den anderen Teilen des Burgbergs ab. Erst mit der Auswertung der Tierknochenfunde, die in einem der zahlreichen Brunnen im Hof eines Hauses gefunden worden waren, wurde es klar, dass es an dieser Gasse in einer bestimmten Periode tatsächlich jüdische Bevölkerung gegeben haben könnte, da es unterhalb einer bestimmten Schicht keine Schweineknochen gab.28 Ausserdem wurden im demselben Brunnen ein Tonbecher mit hebräischen Buchstaben sowie ein Holzteller mit eingekratztem David-Stern gefunden.29 Einige Jahre später kam aus einem anderen Brunnen eine Schiefertafel mit dem einkratzten Namen «Hajjim Katz» ans Tageslicht.30 Die Lage der Synagoge war aber weiterhin unbekannt. Die genaueste topographische Angabe war in der sog. Ungarischen Bilderchronik (auch Wiener Bilderchronik genannt) zu lesen, wo im Bezug auf das Jahr 1307 der westliche Tor der Burg (Abb. 2, I) als «porta que est iuxta synagogam Iudaeorum» bezeichnet wird.31 Es war aber nicht klar, wie genau das Wort «iuxta» zu verstehen ist. Erst im Jahre 2005 konnte der Archäologe András Végh im Graben einer Fernheizungsleitung den Boden und zwei Säulenbasen der Synagoge identifizieren. Im benachbarten Grundstück fand er die Mikhwe, d.h. das rituelle Bad der Gemeinde.32 Damit ist es klar, dass die Synagoge tatsächlich unmittelbar neben dem Tor, d. h. an einem strategisch sehr bedeutenden Platz, lag (Abb. 3). Aufgrund dieser Lage stellt sich nun die Frage, was für eine Rolle die Juden bei der Gründung der Stadt auf dem Burgberg gespielt hatten. 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 Veres 1999. Végh 2003a, 27–35. Végh 2003b, Nyékhelyi 2003, 5–21, Kincsek 2005, 160–167, Végh 2006a. Végh 2003a, 33–34, Végh 2008. Végh 2003a, 14–15, Végh 2006a, 126. Nyékhelyi 2003, 44 (Untersuchungen von László Daróczi-Szabó). Nyékhelyi 2003, 33–34, 40–41. Végh 2006a, 137, 148: Fig. 14. Scriptores 1937–1938, I, 485, Vgl. Végh 2006a, 125–126. Végh 2006a, 126–148. 14.11.2009 14:54:54 Uhr 198 Geschichte und Archäologie bei der Erforschung der mittelalterlichen Stadtentwicklung in Ungarn Abb. 3 Buda, die Lage und die freigelegten Gebäude und Brunnen in der mittelalterlichen «Alten Judengasse». Diese und ähnliche Fragen führen bereits auf eine dritte Ebene, bei der die gemeinsame Auswertung von archäologischen und schriftlichen Quellen nicht nur zur Erklärung und Kontextualisierung der jeweiligen Befunde führt, sondern auch Aussagen zu Fragen allgemeiner Prozesse der Siedlungsgeschichte und der königlichen Städtepolitik ermöglicht, diese in ein neues Licht stellt oder neue Fragen aufwirft. Im Kontext des Judenviertels am Ofener Burgberg etwa betrifft dies sowohl dessen Entstehung, vielleicht mit dem Umzug einer vermuteten Gemeinde von Pest33 nach dem Mongolensturm, als auch dessen Umsiedlung von der südlichen zur nördlichen Seite des Bergplateaus. Die Funde deuten darauf hin, dass das alte (am Süden gelegene) Judenviertel ungefähr bis Anfang des 15. Jahrhunderts benutzt wurde. Dieses Datum fällt mit der Gründung der oben erwähnten St. Sigismund-Propstei zusammen. Eine Erklärung für den archäologischen wie den schriftquellenkundlichen Befund könnte laut András Végh sein, dass König Sigismund eine grosszügige Umgestaltung der Umgebung seiner Ofener Residenz vorhatte, Buch SKAM 36.indd 198 wobei die Anwesenheit eines Judenviertels ausgerechnet zwischen den beiden Toren und dem Palast nicht als wünschenswert erschien.34 In der vor 1439 entstandenen Rechtssammlung, dem sog. Ofner Stadtrecht wurde das Tor schon als «pey der alten Iuden gassen» bezeichnet.35 Mit der Verlegung des Judenviertels und der Gründung der Propstei St. Sigismund neben dem seit der Ende des 13. Jahrhundert existierenden Franziskanerkloster und dem Beginenhaus der Franziskaner (Abb. 2, F und G) ist eine Konzentration kirchlicher Gebäuden beim Königspalast zu beobachten. Damit entstand unter König Sigismund im frühen 15. Jahrhundert eine von József Laszlovszky jüngstens als «transitional zone» («Übergangszone»)36 genannter Bereich zwischen der am südlichen Ende des Burgbergs gelegenen königlichen Residenz und dem bürgerlichen Teil der Stadt. Charakteristisch für diesen Zwischenbereich war eine hohe Zahl von kirchlichen Bauten und, seit dem Anfang des 16. Jahrhunderts, von Wohnsitzen Adliger und hochgestellten Persönlichkeiten am Hof.37 Das letzte Beispiel führt uns ans andere Donauufer nach Pest (Abb. 4). Dort legte die Archäologin Katalin IrásMelis südlich des mittelalterlichen Stadtzentrums einen umfangreichen Ausschnitt einer Siedlung frei, die mehrere Perioden zwischen dem späten 14. und dem frühen 16. Jahrhundert aufwies (heute: Molnár Str. 36–40). Ihre Ergebnisse lassen sich auf alle drei dargestellten Ebenen interpretieren. Erstens kann man auf die Freilegung von Gerberwerkstätten hinweisen. Die Anwesenheit von Gerbern in Pest war schon aus Schriftquellen bekannt: András Kubinyi hat über ihre Bruderschaft, die einen dem St. Stephan, St. Emmerich und St. Ladislaus geweihten Altar in der Pfarrkirche besass, gearbeitet.38 Die Stelle aber, an der sie ihr Handwerk ausübten, und ihre Werkzeuge, u. a. eine grosse Menge von Rinderkiefern, die sie zum Glätten des Leders benutzten, konnte erst jetzt identifiziert werden.39 33 34 35 36 37 38 39 Es gibt zur Zeit keinen eindeutigen Beweis über die Existenz einer Judengemeinde in Pest vor dem Mongolensturm (1242/42), aber Ismaeliten waren dort sicherlich angesiedelt, s. Berend 2001, 60–68. Über die Umsiedlung der Bevölkerung von Pest nach Buda in den 1240er Jahren s. Kubinyi 1972. Végh 2006a, 125–127, 131–132. Ofner Stadtrecht 1959, X/D. Über den neuen Judenviertel am nördlichen Teil des Burgbergs und die dort gefundenen Überreste von zwei Synagogen s. Zolnay 1987, 5–23. Laszlovszky 2009a, 195–199. Végh 2003a, 35, Végh 2006b. Kubinyi 1973, 115, 126. Irásné Melis 1996. 14.11.2009 14:54:55 Uhr Geschichte und Archäologie bei der Erforschung der mittelalterlichen Stadtentwicklung in Ungarn 199 Abb. 4 Pest im Spätmittelalter. Zweitens ist die mehrfache Umwandlung dieses Gebietes bei der Donau von einem früheren suburbanen Siedlungsteil zu einem «Industriequartier» und danach wiederum zu einem dichter bebauten Wohngebiet festzustellen. Die Errichtung des Gerberviertels kann man als eine logische Konsequenz der kontinuierlichen Ansiedlung von verschiedenen mit Leder arbeitenden Handwerkszweigen (Schuster, Beutler, Sattler usw.) in Pest bezeichnen, denen die Viehhaut als Rohstoff aus dem landesweit bedeutenden dortigen Viehmarkt leicht zugänglich war. Das spätere Verschwinden der Werkstätten hingegen war Teil von Veränderungen auf einer gesamtstädtischen Ebene. Dazu gehörte der Ausbau eines zweiten, wesentlich erweiterten Mauerringes, der an mehreren Stellen in der heutigen Stadt noch steht bzw. archäologisch freigelegt wurde; seine Linie ist ausserdem im modernen Stadtplan erkennbar. Mit dieser Erweiterung des ummauerten Stadtgebietes ist der Ort der Gerbereien Teil der Innenstadt geworden, was zur Buch SKAM 36.indd 199 Beseitigung dieser stinkenden und schmutzigen Aktivitäten führte.40 Drittens ist die Errichtung der zweiten Stadtmauer Teil der auch in den Schriftquellen dokumentierten Blütezeit von Pest als wichtiges Handelszentrum und königliche Stadt im 15. Jahrhundert. Den Grund dafür bildete die für Pest sehr günstige Städtepolitik König Sigismunds.41 Hatte er vielleicht vor, die Stadt gegenüber Buda auf derselben Weise weiterentwickeln und ausbauen lassen, wie sein Vater, Karl IV. die Neustadt von Prag? Die Antwort auf diese Frage würde uns stark über den archäologischen Befund hinausführen. 40 41 Irásné Melis 2004. Im allgemeinen: Kubinyi 2000, über Pest: Szende K. 2006, 205. 14.11.2009 14:54:56 Uhr 200 Geschichte und Archäologie bei der Erforschung der mittelalterlichen Stadtentwicklung in Ungarn Fazit Das Fallbeispiel der Erforschung der ungarischen Städte Óbuda, Buda und Pest erlaubt uns mindestens in zwei Richtungen Rückschlüsse zu ziehen. Einerseits könnte man argumentieren, dass Ungarn in einer speziellen Lage sei, da hier wegen der Armut an Schriftquellen mittelalterliche Stadtgeschichte ohne Stadtarchäologie einfach nicht geschrieben werden kann. Andererseits aber unterscheidet sich die Situation in Ungarn nicht wesentlich von der in anderen Ländern, es sind eher quantitative als qualitative Unterschiede. Die Ebenen der Zusammenarbeit zwischen Geschichte und Archäologie lassen sich, hier wie anderswo, wie folgt zusammenfassen: 1. Identifizierung der gefundenen archäologischen Überreste; Buch SKAM 36.indd 200 2. Gegenseitige Erklärung und Kontextualisierung der in den schriftlichen bzw. archäologischen Quellen auffindbaren Phänomene; 3. Entwicklung und Beantwortung gemeinsamer Fragestellungen. In meinem Beitrag habe ich versucht darzustellen, dass alle drei Ebenen einen festen Platz und eine wichtige Rolle im Laufe der Forschung haben. Am weitesten führt uns aber zweifellos die dritte Ebene. Laut einem französischen Bonmot ist die Ehe ein Bündnis von zwei Leuten mit dem Zweck, Probleme zu lösen, die sonst nie entstanden wären. In unserem Fall ist es umgekehrt: Es sollten gemeinsame Probleme und gemeinsame Fragen auftauchen, damit das Bündnis enger wird. 14.11.2009 14:54:56 Uhr Geschichte und Archäologie bei der Erforschung der mittelalterlichen Stadtentwicklung in Ungarn Bibliografie Altmann 2004 – Júlia Altmann, Piactér a középkori Óbudán [Marktplatz im mittelalterlichen Óbuda], in: Balázs Nagy/Gyöngyi Erdei (Hg.), Változatok a történelemre. Tanulmányok Székely György tiszteletére [Variationen zur Geschichte. Festschrift für György Székely], Budapest 2004, 59–63. Altmann/Bertalan 1991a – Júlia Altmann/Herta Bertalan, Óbuda vom 11. bis 13. Jahrhundert, in: Gerd Biegel (Hg.), Budapest im Mittelalter (Schriften des Braunschweigischen Landesmuseums 2), Braunschweig 1991, 113–131. Altmann/Bertalan 1991b – Júlia Altmann/Herta Bertalan, Óbuda im Spätmittelalter, in: Gerd Biegel (Hg.), Budapest im Mittelalter (Schriften des Braunschweigischen Landesmuseums 2), Braunschweig 1991, 185–189. 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Wie so häufig war der Anlass die Erwähnung des Namens in einer Urkunde, und das Festkomitee liess sich die Freude durch nichts verderben: Weder durch die Tatsache, dass die Urkunde von 1189 eine Fälschung wohl aus der Zeit um 1218 ist,1 noch durch den Hinweis, dass die Nennung eines «villicus de Lihstal» für ein Stadtjubiläum nicht eben standesgemäss ist … Die erste sicher datierte Nennung des Ortes, eine blosse Ortsangabe, stammt von 1226.2 Erst ab 1241 wird der Ort als «burgus» bezeichnet, später als «munitio», «municipium», «civitas», «stat» und «oppidum», was auf eine Befestigung schliessen lässt. 1273 ist ein Schultheiss genannt, 1295 die «burger», 1381 «schultheiss und rat», und 1397 ist von einem Stadtsiegel die Rede. Kurzum, trotz der überaus dürftigen schriftlichen Überlieferung lässt sich Liestal im 13. und 14. Jahrhundert als eine der häufigen Kleinstädte nachweisen, ohne dass wir jedoch aus den wenigen schriftlichen Quellen präzisere Auskünfte über Stadtrecht und Privilegien, Organisation und Bebauungskonzept herauslesen könnten. Was die Besitzgeschichte angeht, so endete die frohburgische Herrschaft 1305 mit dem Verkauf durch die letzte Erbtochter der Linie Neu-Homberg an den Basler Bischof. Dessen notorischer Geldmangel sorgte in der Folge für turbulente Zeiten, wurde die Herrschaft Liestal doch wiederholt verkauft oder verpfändet und sah nacheinander Ulrich von Ramstein, den Markgrafen von Hachberg-Rötteln und Leopold von Österreich als Stadtherrn, letzteren gleich zweimal. Beim zweiten Mal leisteten die Liestaler Widerstand, worauf der Herzog das Städtchen 1381 in Brand stecken liess. 1400 wurde es schliesslich an die Stadt Basel verpfändet, wo es bis zur Kantonstrennung 1832 bleiben sollte. Die schriftlichen Quellen zeigen ein stark vom Stadtherrn kontrolliertes Gemeinwesen. Bürgerliches Selbstbewusstsein ist ebenso wenig zu fassen wie der konkrete Inhalt eines Stadtrechts oder anderer Privilegien. Die spärlichen aus den ersten 100 Jahren überlieferten Schriftstücke betreffen meist einzelne Liegenschaften und Buch SKAM 36.indd 203 vermögen nicht, das Bild einer wie auch immer gearteten baulichen Entwicklung zu zeigen. Häufig kann bei einer solch dünnen Quellenlage die Archäologie weiter helfen. Im Folgenden sollen die ins Auge fallenden Elemente der Stadtkirche, der Stadtbefestigung und schliesslich der Innenbebauung näher betrachtet werden. Wenden wir uns zunächst der letzteren zu. Nehmen wir die Stadt als Ganzes (Abb. 1), so fällt auf, dass im Norden im Laufe des 19. Jahrhunderts die mittelalterliche Bebauung verschwunden ist. Der Aufstieg Liestals vom unbedeutenden Landstädtchen zum Hauptort des 1832 gegründeten Kantons Basel-Landschaft hatte hier mit dem Bau von repräsentativen Verwaltungsgebäuden, denen etwas später noch eine Brauerei folgte, ihren Tribut gefordert. Das Regierungsgebäude steht an der Stelle des ehemaligen Freihofs und hat damals einen weiteren wichtigen Bestandteil einer mittelalterlichen Stadt beseitigt. Von diesem Freihof oder seinen Nachfolgerbauten sind lediglich einige wenige Mauerreste bekannt, die weder einen Eindruck des gesamten Ensembles vermitteln noch Hinweise zur Datierung liefern können. Bei den im Archiv der Archäologie Baselland verzeichneten Fundstellen kann unterschieden werden zwischen Untersuchungen mit sicheren Dendrodaten, wobei manchmal neben der Bauuntersuchung auch Grabungen durchgeführt wurden, Grabungen ohne Dendrodaten, die für die Stadtgeschichte relevante Beobachtungen ermöglicht haben, und schliesslich Untersuchungen, die allenfalls Aussagen zur relativen Bauabfolge innerhalb eines Gebäudes ermöglichen, für die Entwicklung der Stadt aber nicht weiter verwertbar sind. Die bisher ältesten dendrochronologischen Daten gehen nicht weiter zurück als bis zum Jahr 1400. Bei der einzigen Ausnahme, einer Fachwerkwand von 1387/88, 1 2 Rück 1966, 151ff.; Rippmann 1991, 50 erwägt aufgrund der Nennung eines Erpherat von Augst in der Zeugenliste gar eine Datierung ins späte 13. Jahrhundert, da ein gleichnamiger Meier von Augst von 1274 und 1287 vorkommt. Wiggenhauser 2006, 110. Urkunde: SUB 1, 183–185. Die folgenden Angaben sind zusammengestellt bei Rippmann (im Druck). Eine Zusammenfassung auch bei Fridrich 2004, 11ff. 14.11.2009 14:54:56 Uhr 204 Liestal – Annäherung an die Entstehung einer Kleinstadt Abb. 1 Plan der Stadt Liestal. Grau die Liegenschaften und Flächen, in denen archäologische Untersuchungen stattgefunden haben. Eingezeichnet sind der Verlauf der Stadtmauer mit den sichtbaren Teilen (1=Oberes Tor; 2=Thomasturm; 3=Mauer bei der Pfarrscheune) sowie die abgebrochenen Strukturen (4=Unteres Tor; 5=Costentzer Turm; 6=Wasserturm). Im Norden die grossräumigen Störungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts (A=Regierungsgebäude; B=Amtshaus; C=Brauerei). R und K bezeichnen die Lage der Befunde Rosengasse (Abb. 2) und Kanonengasse (Abb. 3). Die Jahreszahlen bezeichnen die ältere Schicht der Dendrodaten; kursiv sind jene Befunde gekennzeichnet, wo ganze Bauteile wiederverwendet wurden. handelt es sich um die sekundäre Verwendung eines ganzen Bauteils. Neben den exakt datierbaren Befunden lassen sich jedoch immer wieder Bauteile fassen, die älter sein müssen. Weit verbreitete Brandspuren an solchen Überresten legen – bei aller Vorsicht – den Verdacht nahe, es könnte sich um die Spuren des Stadtbrandes von 1381 handeln. Diese älteren Bauteile gehören oft zu einzeln stehenden Gebäuden auf grösseren Parzellen. Im Folgenden sollen einige der gut untersuchten Liegenschaften vorgestellt werden, wobei ich nicht die Einzelbeobachtungen im Detail beschreiben möchte, sondern die aufgrund dieser Beobachtungen rekonstruierbaren Bauentwicklung. Rosengasse 5 (Abb. 2) gehört zum Häuserring um die Kirche.3 Die ältesten Spuren sind zwei Pfostengruben Buch SKAM 36.indd 204 zur Strasse hin und ein im hinteren Teil der Parzelle stehendes Gebäude. Die Parzelle wird in der Folge vollständig überbaut, schliesslich werden die recht grossen Häuser in schmalere Einheiten unterteilt. Die Verfüllung der Pfostengruben enthielt Keramik des 15. Jahrhunderts, und ein parallel zur Gasse verlaufender Mauerrest war nur noch in der untersten Fundamentlage erhalten. Dies weist darauf hin, dass hier das Gelände wohl im 15. Jh. grossflächig abgetragen worden ist. Ein ähnliches Bild zeigt sich an der Kanonengasse 31–37 (Abb 3).4 In dieser Häuserzeile liessen sich zwei Kernbauten nachweisen. Einer stand direkt an der Gasse, 3 4 Aktennummer 40.150. Publiziert in Jahresbericht 1993, 61ff. Aktennummer 40.168. JbSGUF 85 (2002), 348f. 14.11.2009 14:54:57 Uhr Liestal – Annäherung an die Entstehung einer Kleinstadt 205 Abb. 3 Schematische Darstellung der Bauentwicklung an der Kanonengasse 33–35 mit der Stadtmauer (schwarz) und den beiden «Kernbauten» (dunkelgrau) sowie den späteren Ergänzungen (hellgrau). Die hellgrau eingefärbte Struktur mit gestrichelter Umrandung ist die Fachwerkwand Abb. 4. Abb. 2 Schematische Darstellung der Befunde an der Rosengasse 5. Das vermutete Haus 1 und das (in einer zweiten Phase erweiterte) Haus 2 sind die ältesten Steinbauten. Das grosse Haus 4 wird ebenso wie Haus 2 in der spätesten Phase unterteilt. seine rückwärtige Fassade etwa 4 Meter von der Stadtmauer entfernt. Der zweite hingegen war an die Stadtmauer angelehnt. Auch hier ist eine sukzessive Verdichtung der Parzellenbebauung nachzuweisen; schliesslich wird das grosse Haus 35 durch eine Querwand unterteilt. Diese lässt sich bis zur Stadtmauer verfolgen, so dass wir annehmen, dass der ursprünglich vorhandene Zwischenraum damals überbaut wurde. Die Stadtmauer selbst war hier so durchlöchert, dass eine sinnvolle Bauanalyse nicht mehr möglich war. Die Dendrodaten rücken die Unterteilung ins spätere 16. Jahrhundert, wobei im 2. OG eine Fachwerkwand aus dem 14. Jh. (1387/88) erhalten ist; sie steht auf einem aus Spolien unterschiedlichen Alters zusammengesetzten Fachwerk (Abb. 4) und dürfte wohl 1573 en bloc hierher versetzt worden sein. 1387/88 ist bisher das älteste Dendrodatum aus Liestal. Ein paar Häuser weiter steht der Thomasturm, der laut schriftlichen Quellen 1509–1511 erbaut wurde und auf halbrundem Grundriss aus der Stadtmauerflucht nach aussen vorspringt.5 Inwendig scheint wenige Jahre zuvor – nach den Dendrodaten 1506/07 – ein Neu- oder tiefgreifender Umbau stattgefunden zu haben (Abb. 5). Dessen Besitzer Zachäus Wurstisen, der Ziegler, erhielt 1583 die Erlaubnis, sein Haus Richtung Gasse zu erweitern,6 was er nach Ausweis der verbauten Balken offensichtlich unverzüglich tat. Buch SKAM 36.indd 205 Diese Beispiele mögen für eine Zwischenbilanz genügen; sie wären mit weiteren Beispielen ohne Weiteres zu erweitern. Wir können feststellen, dass seit der Zeit um 1400 eine intensive Bautätigkeit fassbar ist, die in einem eigentlichen Bauboom im späteren 16. Jahrhundert gipfelt. Damals scheinen die geschlossenen Gassenfluchten entstanden zu sein. Wie weit die wenigen nachweisbaren Bauteile zurückgehen, die noch aus der Zeit vor dem späten 14. Jahrhundert stammen dürften, Abb. 4 Ausschnitt aus der Trennwand von Kanonengasse 35 mit der Zweitverwendung eines Fachwerkes aus dem 14. Jahrhundert. 5 6 Aktennummer 40.232. Merz 1910, 290ff., hier 293; Text von Karl Gauss. 14.11.2009 14:54:59 Uhr 206 Abb. 5 Die Liegenschaft beim Thomasturm mit den beiden anhand der Balkendecken fassbaren Bauphasen des inwendig an die Stadtmauer angelehnten Hauses. Abb. 6 Abbruch der Häuserzeile zwischen Oberem Tor und Wasserturm 1971. Der Pfeil deutet auf den Wehrgang, der durch die Dachgeschosse sämtlicher Häuser führte. können wir durch Bauuntersuchungen bisher nicht präzisieren. Grossflächige Brandverfärbungen an solchen Mauerteilen lassen vermuten, dass sie aus der Zeit vor dem Stadtbrand von 1381 stammen. Nun stützt sich die Archäologie nicht nur auf bauarchäologische Untersuchungen, sondern mindestens in gleichem Masse, wenn nicht noch mehr auf Ausgra- Buch SKAM 36.indd 206 Liestal – Annäherung an die Entstehung einer Kleinstadt bungen. Die im Boden überlieferten Schichten und ihr Verhältnis zu den Fundamenten vermögen in der Regel Licht ins Dunkel der Anfänge einer Siedlung zu bringen. Im Falle von Liestal stehen wir aber vor der doch eher aussergewöhnlichen Tatsache, dass mit ganz wenigen Ausnahmen keinerlei Schichten vorhanden sind. Wird in einem Haus ein Boden entfernt oder wird der Strassenbelag irgendwo aufgerissen, so erscheint darunter in der Regel sofort steriler Kies. Es gibt ganz wenige Ausnahmen, etwa Reste einer Brandschicht in 80 cm Tiefe an der Amtshausgasse 7,7 oder Schlackenfunde in der Kanonengasse.8 Beide Fundstellen ergeben aber keine Anhaltspunkte zur Datierung. An der Salzgasse, einer Querverbindung zwischen der Hauptachse des Städtchens, der Rathausstrasse und dem parallel dazu verlaufenden Fischmarkt kam hingegen beim Neubau des städtischen Rathauses ein kaum einen halben Quadratmeter grosser Schichtrest zum Vorschein, der etwas Keramik des 12. Jahrhunderts enthielt.9 Die Höhenkote der Fundstelle liegt bezeichnenderweise etwas höher als jene der genannten Strassen, was wiederum wie bei den Befunden in der Rosengasse vermuten lässt, dass grossflächige Geländeveränderungen die älteren Schichten zum Verschwinden gebracht haben. Bestätigt wurde diese Vermutung im Haus Ecke Rathausstrasse/Rosengasse:10 Hier kam im Treppenhaus beim Eingang an der Rosengasse ebenfalls ein kleiner Schichtrest mit Funden des 10. bis 13. Jahrhunderts zum Vorschein. Er lag bezeichnenderweise rund 60 cm über dem heutigen Strassenniveau! Eine weitere Fundstelle mit Material aus der Frühzeit der Siedlung bildet die Grabung in der inwendig an die Stadtmauer angebauten Pfarrscheune. Diese Befunde sind im Zusammenhang mit der Stadtmauer zu betrachten, deren Existenz aufgrund der Bezeichnungen Liestals als «burgus» (1241) und «munitio» (ab 1259) vorausgesetzt werden kann. Heute ist von der Befestigung nicht mehr viel zu sehen, da sie in grossen Teilen entweder abgebrochen oder aber in den Häusern integriert ist.11 So liess sich bei Abbrucharbeiten immer wieder feststellen, dass ein vom Dachraum abgetrennter Wehrgang (Abb. 6) durch sämtliche Häuser führte und die als Brandmauern gedachten 7 8 9 10 11 Aktennummer 40.265. Jahresbericht 2007, 72f. Aktennummer 40.166. Aktennummer 40.154. Aktennummer 40.171. Eine Zusammenstellung des Forschungsstandes bei Ewald 1996, 116ff. 14.11.2009 14:55:00 Uhr Liestal – Annäherung an die Entstehung einer Kleinstadt 207 Abb. 7 Der Wasserturm vor dem Abbruch von 1897. Buch SKAM 36.indd 207 14.11.2009 14:55:01 Uhr 208 Liestal – Annäherung an die Entstehung einer Kleinstadt Abb. 8 Die Fundamente des Wasserturms mit der bogenförmig verlaufenden Stadtmauer. Trennmauern zwischen den einzelnen Liegenschaften durchlöcherte. Von der Stadtbefestigung heute noch sichtbar sind das Obere Stadttor, der Thomasturm sowie einzelne Partien an der Ostseite des Städtchens. Mehrere Befunde konnten in den letzten Jahrzehnten immerhin dokumentiert werden, so dass wir einige Details der heute verschwundenen Partien kennen. Besonders interessant war der Befund beim 1897 abgebrochenen Wasserturm (Abb. 7) an der Südwestecke der Stadt, bei welchem ursprünglich Wasser aus dem Orisbach in die Stadt hineingeleitet wurde. Bei Ausgrabungen wurde in den Jahren 1983 und 1984 das Fundament dieses Bauwerks freigelegt (Abb. 8).12 Eine erste Bauphase zeigt eine einfache Mauer von rund 1 Meter Stärke. Erst in einem zweiten Schritt wurde der mächtige Turm von rund 8 mal 8 Metern rittlings darüber gesetzt. Wie man sich diese Bauabfolge im Aufgehenden vorzustellen hat, muss offen bleiben. Die bisher ergiebigsten Forschungen zur Geschichte der Stadtmauer konnten in der bereits erwähnten Buch SKAM 36.indd 208 Pfarrscheune stattfinden (Abb. 9). Die Funktion dieses Gebäudes als reiner Zweckbau, der bis in jüngste Zeit nie zum Wohn- der Geschäftshaus umgebaut wurde, hatte zur Folge, dass die Stadtmauer in nahezu unveränderter Form erhalten und in verhältnismässig bescheidenem Umfang mit Durchbrüchen durchlöchert war, was eine grossflächige Untersuchung des Aufgehenden sowohl auf der Innen- als auch auf der Aussenseite möglich machte.13 Im Innern war die ursprüngliche Stadtmauer aus dem 13. Jahrhundert bis zu den Zinnen erhalten. Sie zeigte grossflächig Brandspuren, die wohl mit dem Stadtbrand von 1381 zu tun haben. Eine Reparatur der Zinnen ohne diese Brandspuren ist wohl in die Zeit unmittelbar danach zu datieren. Etwas später wurden einzelne Zinnen erhöht, und noch später die Zwischenräume verschlossen und mit Schartenfenstern versehen. Ein in einem solchen 12 13 Aktennummern 40.123 und 40.127. Eine knappe Zusammenfassung der Ergebnisse bei Ewald 2004, 116ff. 14.11.2009 14:55:03 Uhr Liestal – Annäherung an die Entstehung einer Kleinstadt 209 Abb. 9 Schnitt, Aussen- und Innenansicht der Stadtmauer im Bereich der Pfarrscheune. Fenster noch erhaltener Holzladen konnte auf das Jahr 1463 datiert werden. Balkenlöcher zeugen von zwei zeitlich auseinander liegenden Wehrgängen. Die Aussenseite trug grossflächig einen Verputz, der frühestens aus dem späten 17. Jahrhundert stammt. Ältere Verputzreste wohl aus der Zeit um 1400 fanden sich lediglich im Bereich der Zinnen. Ein Schichtenprofil, das dank einer Sondierung an der Innenseite beobachtet werden konnte, ergab Hinweise auf eine vorstädtische Siedlung (Abb. 10). Es zeigte sich zunächst eine klassische, dem Verlauf der Mauerkontur knapp folgende Mauergrube, die aus statischen Gründen allerdings nicht bis zur Sohle verfolgt werden konnte. Dahinter waren zwei deutlich trennbare Schichtenpakete zu erkennen; das eine, untere, war von der Mauergrube durchschlagen, das obere zog über die Mauergrube hinweg an den inneren Mantel der Stadtmauer heran. Aus beiden Schichtenpaketen konnten datierende Funde geborgen werden: Im oberen Keramik aus dem 13. Jahrhundert, im unteren solche aus dem 10. bis 12. Jahrhundert. Das Vorkommen von Ofenkacheln im unteren Schichtenpaket deutet darauf hin, dass in diesem Bereich bereits in dieser frühen Zeit mit einem gehobenen Wohnstil gerechnet werden muss. Die aufgrund der Befunde und Funde postulierte zeitliche Abfolge konnte durch eine Serie von C14Datierungen bestätigt werden, die zwischen oberem und unterem Schichtenpaket einen deutlichen Unterschied ergaben (Abb. 11). Abb. 10 Aufnahme des im rechten Winkel an die Stadtmauer stossenden Profils im Bereich der Pfarrscheune mit den wichtigsten Schichtpaketen. Ziehen wir eine Zwischenbilanz: Im datierbaren Baubestand der Liestaler Altstadt lassen sich kaum Elemente fassen, die vor die Wende des 14. zum 15. Jahrhundert zurückgehen: Hier eine als Spolie wiederverwendete Fachwerkwand, dort einige nicht datierbare «Kernbauten», von denen meistens nur einzelne, spärliche Mauerteile unter- Buch SKAM 36.indd 209 14.11.2009 14:55:05 Uhr 210 Abb. 11 Zwei Radiokarbondaten aus dem an die Stadtmauer anstossenden Schichtenprofil: Oben ein Wert aus dem unteren Schichtenpaket, unten aus den an die Mauer heranführenden Deckschichten. sucht werden konnten. Grösserflächige Brandspuren an solchen Mauern könnten darauf hindeuten, dass die entsprechenden Häuser schon vor dem Stadtbrand von 1381 gestanden haben. Andererseits lassen verschiedene Indizien auf eine Siedlung schliessen, die älter ist als die Zeit der Stadterhebung im 13. Jahrhundert. Bezeichnenderweise liegen die entsprechenden Funde in zwei Fällen in Positionen, die über dem heutigen Strassenniveau liegen, was umfangreiche Geländeveränderungen wohl in der Zeit um 1400 erschliessen lässt. Betrachten wir nun noch die letzte für die Stadt wichtige Komponente, die Kirche bzw. das Kirchengeviert. Die in der älteren Literatur immer wieder aufgelisteten Eckdaten sind folgende: – Die Patrozinien der Liestaler Kirche lassen auf eine bewegte Geschichte schliessen: Es sind die Heiligen Martin, Brida (=Brigida), Eusebius, Georg, Appolinaris und Haimo.14 Buch SKAM 36.indd 210 Liestal – Annäherung an die Entstehung einer Kleinstadt – Für die Geschichte Liestals wichtige Hinweise aus den die Kirche betreffenden schriftlichen Quellen sind in dem ins 13. Jahrhundert zurückgehenden Jahrzeitenbuch enthalten.15 Dort werden neben St. Martin und Brida in Liestal oft auch St. Nikolaus in Lausen(-Bettenach) und St. Laurentius in Munzach genannt, offensichtlich eine Art Kirchentrias, die von den Grafen von Frohburg und ihren zum Teil in Liestal ansässigen Ministerialen mit Vergabungen bedacht wurde. – Die archäologischen Sondierungen von 1942 haben im Kircheninnern zahlreiche Spuren aufgedeckt. Die damaligen Ausgräber (allesamt keine Archäologen) haben daraus eine Abfolge von Sakralbauten rekonstruiert, die bei einem römischen Marstempel beginnt und über mehrere Kirchenphasen (unter anderem eine romanische Anlage mit gestelzter halbrunder Apsis) beim heutigen Gotteshaus endet.16 – Die isolierte Lage auf einem Geländesporn mitten im Tal sowie die mittseits des Gevierts angelegten Zugänge haben 1978 Peter Degen veranlasst, ein spätrömisches Kastell vom Typ Irgenhausen zu postulieren. 17 Die Analyse des 1942 zum Vorschein gekommenen Fundmaterials durch Reto Marti 1988 zeigte denn auch, dass seit dem 1. Jahrhundert auf dem nachmaligen Kirchhügel eine römische Siedlung unbekannter Grösse und Funktion bestand. Die These eines spätrömischen Kastells wird durch entsprechende Keramik (unter anderem Argonnensigillata und Paléochrétienne) erhärtet. Ausserdem lassen die Funde auf eine kontinuierliche Besiedlung des Platzes über die Spätantike hinaus schliessen.18 Neuere Forschungen haben diesen Informationen einige Aspekte hinzugefügt, welche die Informationen erweitern, teilweise aber auch widerlegen bzw. korrigieren. Beginnen wir mit den Patrozinien: Maria Wittmer-Butsch hat die Liste unter die Lupe genommen19 und kommt (unter anderem) zu folgenden Aussagen: Martin kann uns nicht weiter erstaunen, wenn wir Degens These nicht grundsätzlich verwerfen wollen, was angesichts der Funde wohl schwierig sein dürfte. Seine Wahl als Patron 14 15 16 17 18 19 Zu den Patrozinien der Liestaler Stadtkirche Merz 1910, 190ff.; Text von Karl Gauss. Rippmann 1991, 48. Schmassmann 1943. Degen 1978, 30f. Marti 1988, 44ff. Wittmer-Butsch 1995 und Wittmer-Butsch 2001, 210. 14.11.2009 14:55:06 Uhr Liestal – Annäherung an die Entstehung einer Kleinstadt würde bedeuten, dass die in unserer Gegend archäologisch greifbare fränkische Oberschicht den exponierten und mit wohl hervorgehobener Funktion ausgestatten Platz als Stützpunkt im Ergolztal besetzt hat. Die heilige Brida oder Brigida von Kildare gehört zu den irischen Heiligen, die auch in Basel eine Rolle spielen. Wittmer-Butsch möchte darin den Einfluss des Klosters Honau bei Strassburg sehen, welches von den elsässischen Herzögen sehr gefördert wurde. Die irischen Mönche wären auch für das Liestaler Eusebiuspatrozinium verantwortlich. Eine solche indirekte Präsenz elsässischen Einflusses wäre in unserer Region nichts Aussergewöhnliches. So schenkte Odilia, die Tochter Herzog Etichos, den Hof zu Arlesheim dem von ihr gegründeten Kloster Hohenburg (heute Odilienberg). Das Domstift Strassburg war im Besitz von Muttenz und der Burgen auf dem Wartenberg. Für das von Graf Eberhard aus der Familie Etichos gegründete Kloster Murbach schliesslich ist unter anderem Besitz im Augst- und im Frickgau belegt.20 Neben den neueren historischen Überlegungen ist auch auf die Grabungen im Chorbereich der Stadtkirche von 2005 hinzuweisen, die insofern neue Resultate erbrachten, als sich die von den früheren Ausgräbern postulierte romanische Kirche mit gestelzter Apsis21 in Luft aufgelöst hat.22 Nach heutigen Erkenntnissen dürfte die älteste Kirche möglicherweise noch ins 7. Jahrhundert zurückgehen und wurde im Hochmittelalter mit einer Anlage mit einfachem Rechteckchor ersetzt. Dieser überlagert eine Dreierbestattung, die als Beigabe eine Börse von 36 Denaren des burgundischen Königs Konrads des Friedfertigen (937–993) enthielt. Werfen wir nun noch einen Blick auf die anderen Kirchen der «Kirchentrias» bzw. auf die zugehörigen Siedlungen. Munzach geht auf einen römischen Gutshof der frühen Kaiserzeit zurück.23 Aufgrund des Fundmaterials ist im 5. Jahrhundert eine Ausdünnung der Besiedlung zu erschliessen; für die Annahme eines längeren Siedlungsunterbruchs reicht jedoch die Aussagekraft dieser Quellengattung nicht aus. Auf jeden Fall aber ist die Besiedlung seit der Mitte des 6. Jahrhunderts wieder klar und intensiv zu fassen. Einer Zeugenliste der Zeit kurz vor 800, die sich auf eine früher erfolgte Schenkung an das Kloster St. Gallen bezieht, wurde «ad ficum Monzacha in placidum» aufgeschrieben und weist Munzach als Gerichtsort aus. Wittmer-Butsch hält es für wahrscheinlich,24 dass in den Zeugenführern Adabero und seinem Sohn Bero Buch SKAM 36.indd 211 211 Nachkommen der elsässischen Herzöge zu sehen sind. Das Dorf Munzach wird kurz nach 1200 aufgegeben, die dem Heiligen Laurentius geweihte Kirche bleibt stehen, bis sie 1765 abgebrochen wurde. Auch das heute im Gemeindebann von Lausen liegende Bettenach hat seine Ursprünge in einem frühkaiserzeitlichen Gutshof.25 Im Gegensatz zu Munzach ist hier aber keine Siedlungsausdünnung zu spüren. Im 6. Jahrhundert wird eine kleine Grabkapelle für eine hochgestellte Persönlichkeit errichtet,26 die ihre beste Parallele in St-Geoges neben der Kathedrale von Vienne hat, in welcher Bischof Panthagatius bestattet ist. Auch die in einer zweiten Bauphase im Westen und Norden angebauten Annexe, die weitere Gräber aufnehmen, entsprechen einem im Rhônetal bekannten Bautyp. Erst im 11. Jahrhundert erhält Bettenach eine neue, grössere Kirche.27 Ihre Dimensionen und vor allem die Orientierung sind derart von der bescheidenen Vorgängerin verschieden, dass von einem bewussten Traditionsbruch gesprochen werden kann. Wir gehen davon aus, dass hier Rudolf von Rheinfelden mit dem Bau einer Nikolauskirche28 eine Besitzmarke gesetzt hat. Ähnlich wie Munzach verschwindet auch Bettenach kurz nach 1200; die Kirche bleibt wie dort ebenfalls stehen und dient noch heute der Gemeinde Lausen auf der anderen Talseite als Pfarrkirche. In beiden abgegangenen Siedlungen fanden sich in den Schichten und Befunden des 7. Jahrhunderts Keramikscherben, die offensichtlich nicht einheimisch sind: die so genannte ältere gelbtonige Drehscheibenware. Nach neueren Untersuchungen handelt es sich um eine Ware, die in grossen Mengen nördlich von Strassburg, in der Gegend um Soufflenheim, hergestellt worden ist.29 Auch hier ist demnach eine Verbindung zum Elsass greifbar. Schliesslich ist in diesem Zusammenhang auch noch auf die Kirche von Sissach hinzuweisen, die lediglich 4 Kilometer östlich von Lausen liegt und ebenfalls zu den wichtigen frühmittelalterlichen Fundorten des 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 LexMA VI, Spalte 939f.; Wittmer-Butsch 2001, 212. Noch bei Marti 2000, B, Tafel 180 abgebildet. JbAS 89 (2006), 277 und Abb. 43. Marti 2000, Munzach. Wittmer-Butsch 1995, 45ff.; Wittmer-Butsch 2001, 207. Tauber 1998; Marti 2000. Marti/Tauber 2006, 56f. Marti/Tauber 2006, 76ff. Wittmer–Butsch 1995, 50ff. Châtelet et al. 2005. 14.11.2009 14:55:06 Uhr 212 Ergolztales zu zählen ist. Der Name der Siedlung ist auch im übergeordneten Sisgau enthalten, was die Bedeutung des Ortes unterstreicht. Auch hier ist – wenn auch nur sehr spärlich – ein römischer Gutshof belegt (zusammen mit zahlreichen wichtigen vorrömischen Fundstellen). Uns interessiert hier aber die Kirche, die aus dem 7. Jahrhundert stammt und einer begüterten Familie als Grablege diente. Die reichen Beigaben zeigen ebenfalls eine kulturelle Affinität in den Raum des Oberrheins, damit auch hier ins Elsass. Die Tatsache, dass in Sissach fast ausschliesslich Frauen bestattet wurden, könnte darauf hinweisen, dass für die Männer der Sippe eine andere Grablege (vielleicht im Raum Strassburg?) reserviert war.30 Dieser Blick über die Stadtmauern hinaus soll zeigen, dass es in der Kleinregion «Mittleres Ergolztal» durchaus auch andere Orte mit langer Tradition und mehr als lokaler Bedeutung gegeben hat, die als Anknüpfungs- oder Kristallisationspunkt einer Stadtgründung hätten dienen können. Weshalb also gerade Liestal? Die Grafen von Frohburg haben erst nach 1223 in der Gegend Fuss gefasst, nachdem sie das Erbe der damals ausgestorbenen Grafen von Alt-Homberg angetreten hatten. Die Erhebung Liestals zur Stadt muss bald nach diesem Zeitpunkt erfolgt sein. Dabei haben sie wohl an ein bereits bestehendes herrschaftliches Zentrum angeknüpft, das sich durch einige Besonderheiten auszeichnet: – Liestal ist der einzige der genannten Orte in Spornlage, was die Anlage einer Befestigung erleichtert haben dürfte. – Weniger als 1 Kilometer weiter östlich deutet der noch heute geläufige Flurname «Altmarkt» auf einen ehemaligen offenen Markt hin, der mit der Stadtgründung in die Stadt hereingeholt werden konnte, übrigens das gleiche Vorgehen wie im ebenfalls von den Frohburgern gegründeten Städtchens Waldenburg. – Schliesslich dürfte auch die verkehrsgeografisch wichtige Lage an der Gabelung der beiden Passübergänge über den Oberen und den Unteren Hauenstein eine Rolle gespielt haben. Die als Abbildung 12 gezeigte Karte ist ein Zusammenzug31 verschiedener itinerarischer Quellen der Spätantike und des frühen Mittelalters, schwergewichtig des Kosmographen von Ravenna. Wir gehen davon aus, dass das dort an einem sonst nicht nachvollziehbaren Weg vom Rheintal ins Mittelland genannte «Frincina» ein älterer Buch SKAM 36.indd 212 Liestal – Annäherung an die Entstehung einer Kleinstadt Name für Liestal ist, fliesst doch die in mittelalterlichen Quellen fast gleich lautende «frenchina», der Fluss Frenke, an dieser Stelle in die Ergolz. Der Obere Hauenstein war für die Frohburger von grosser Bedeutung, hatten sie doch in der Nähe der Passhöhe um 1140 das Kloster Schöntal gegründet. Zur Zeit der Liestaler Stadtgründung stand in dessen Nähe ein möglicherweise von den Frohburgern betriebener früher Hochofen, in dem Eisenerz nach dem indirekten Verfahren verhüttet wurde – damals ein technische Innovation von grosser Tragweite.32 Zwischen der Passhöhe und Liestal gründeten sie an einer unüberwindbaren Talenge zudem das 1244 erstmals erwähnte Städtchen Waldenburg. Nicht weniger wichtig war den Frohburgern wohl auch der Untere Hauenstein, steht doch oberhalb der Passhöhe ihre Stammburg. Liestal am nördlichen Ausgangspunkt dieser beiden Routen war deshalb für die Frohburger ein wichtiger Stützpunkt. Möglicherweise knüpften sie bei der Stadterhebung an bestehende Strukturen an, die bereits auf die Grafen von Alt-Homberg zurückgehen. Es fällt auf, dass die Siedlungsintensität in den benachbarten Dörfern Munzach und Bettenach um 1200 massiv zurückgeht. Kurz darauf sind beide Wüstungen, was nur zu erklären ist, wenn man davon ausgeht, dass die Bewohner nach Liestal umgesiedelt sind. Und hier ist nochmals auf das Schichtenprofil in der Liestaler Pfarrscheune hinzuweisen: Das ältere, an den senkrecht abgestochenen Kies anschliessende Schichtenpaket macht nicht den Eindruck eines natürlich abgelagerten Hangschuttes, sondern sieht eher wie eine Hinterfüllung aus. Da es nicht jene der heutigen Stadtmauer gewesen sein kann, halten wir es für wahrscheinlich, dass schon früher, wenn auch keine ausgewachsene Stadtmauer, so doch mindestens eine Böschungsmauer den Sporn gegen Aussen gesichert hat. Die erwähnten Ofenkacheln aus dem 12. Jh. würden jedenfalls zu einem frühen befestigten Platz mit entsprechender Bewohnerschaft durchaus passen. Ob wir mit dieser Vermutung auf dem richtigen Weg sind, werden hoffentlich künftige Grabungen zeigen. 30 31 32 Marti 2000; Marti/Tauber 2006. Aus Marti 2000. Tauber 2007, 26ff. 14.11.2009 14:55:06 Uhr Liestal – Annäherung an die Entstehung einer Kleinstadt 213 Abb. 12 Versuch einer Rekonstruktion der spätantik-frümittelalterlichen Verkehrsgeografie mit den Verkehrsknotenpunkten und Kastellen und soweit möglich mit ihren antiken Bezeichnungen (nachgewiesen: schwarz; vermutet: gerastert). Die Hauptrouten sind ausgezogen, Nebenrouten gestrichelt; durchnumeriert sind die Passübergänge des Pierre Pertuis (1), des Oberen Hauensteins (2), des Unteren Hauensteins (3), der Staffelegg (4) und des Bözbergs (5). Buch SKAM 36.indd 213 14.11.2009 14:55:08 Uhr 214 Liestal – Annäherung an die Entstehung einer Kleinstadt Bibliografie Châtelet et al. 2005 – Maddeleine Châtelet et al., Une centralisation des ateliers céramiques au VIIe siècle? Bilan d’un programme d’analyses sur la production de la céramique en Alsace et en Pays de Bade pendant la période du haut Moyen Âge, in: Archéologie médiévale 35 (2005), 11–38. Degen 1978 – Peter Degen, Altstadtplanung Liestal. 1. Zwischenbericht, Liestal 1978. Ewald 1996 – Kanton Basel-Landschaft, in: Stadt- und Landmauern. Bd. 2: Stadtmauern in der Schweiz (Veröffentlichungen des Instituts für Denkmalpflege an der ETH Zürich 15.2), Zürich 1996, 27–40 Ewald 2004 – Liestal archäologisch, in: Jürg Ewald/Lukas Ott (Hg.), Liestal. 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Abbildungsnachweis Abb. 1–12 Kantonsarchäologie Baselland Buch SKAM 36.indd 214 14.11.2009 14:55:08 Uhr Die bernischen Dominikaner und die totgeborenen Kinder von Oberbüren 215 Kathrin Utz Tremp Die bernischen Dominikaner und die totgeborenen Kinder von Oberbüren Beispiele für gelungene Zusammenarbeit zwischen Geschichte und Archäologie Einleitung «Der Ruf nach Inter-, Multi- und Transdisziplinarität ist überall zu vernehmen; er scheint aber ungehört zu verhallen oder ist auf Lippenbekenntnisse beschränkt, und selten kommt es zu erfolgreichen Kooperationen zwischen historischen und archäologischen Fachbereichen. Zu weit auseinander zu liegen scheinen Methoden, Fragestellungen und Begrifflichkeit; zu wenig wird vielfach die eigene Position reflektiert, noch viel weniger diejenige des andern». Dieser Satz aus dem Call for Papers für diese Tagung hat auf mich wie ein hingeworfener Fehdehandschuh gewirkt, denn ich habe bereits mindestens zweimal sehr erfolgreich mit Archäologen zusammen gearbeitet, einmal bei der Restaurierung der Berner Dominikanerkirche in den Jahren 1988– 1990 und einmal bei der Ausgrabung des Marienheiligtums von Oberbüren (Kt. Bern) in den Jahren 1993–2003, das erste Mal mit Georges Descoeudres, das zweite Mal mit Daniel Gutscher und Peter Eggenberger (Publikation noch ausstehend). Was hatten wir denn falsch gemacht, dass es uns gelungen war, unsere auf verschiedenen Wegen gefundenen Ergebnisse so gut zur Übereinstimmung zu bringen? Eine Erfolgsgeschichte ist freilich viel schwieriger zu schildern als eine Misserfolgsgeschichte, denn man kann nicht nach Widerhaken suchen und diese dann zu erklären versuchen; ich will es dennoch versuchen, auf die Gefahr hin, für unkritisch und naiv gehalten zu werden. I. Die bernischen Dominikaner Die Ergebnisse der Restaurierung und der bei diesem Anlass vorgenommenen archäologischen Untersuchungen an der Dominikanerkirche (heute Französische Kirche) in Bern wurden 1993 publiziert und bereits damals im Vorwort gerühmt: «als geradezu exemplarische Ergänzung von historischer und archäologischer Analyse, indem die topographischen Verhältnisse, wie sie sich anhand der Schriftquellen darstellen, an den Ergebnissen der Bauuntersuchung verifiziert werden konnten und in einzelnen Teilen zu völlig neuen und überraschenden Erkenntnissen geführt haben». Dieses Lob stammt selbstverständlich weder von Georges Descœudres noch von mir, sondern von Hans Grütter, damals Kantonsarchäo- Buch SKAM 36.indd 215 loge des Kantons Bern.1 Dabei hatten Georges Descoeudres und ich in den Jahren 1988–1990 keineswegs ständig miteinander gearbeitet oder die Köpfe zusammengesteckt; wir haben uns lediglich ein einziges Mal gesehen, an einem Nachmittag, als Georges mir die Ausgrabungen in der Berner Dominikanerkirche zeigte; den Rest haben wir per Post – damals noch nicht per Mail – erledigt. Wir standen auch nicht in ständigem Austausch, sondern haben einfach am Schluss die Manuskripte ausgetauscht und angepasst. Der springende Punkt lag anderswo, nämlich in den schriftlichen Quellen zum Berner Dominikanerkloster. Das Berner Dominikanerkloster hat allerdings nicht mehr schriftliche Quellen hervorgebracht als ein anderes Dominikanerkloster auch, auch nicht weniger,2 aber doch ein ganz spezielles Stück: die Akten des Jetzerprozesses. Der Jetzerhandel war ein Skandal, den das bernische Dominikanerkloster in den Jahren 1507–1508 verursachte und der 1508–1509 mit einem Inquisitionsprozess geahndet wurde, eben dem Jetzerprozess. Es ist hier weder der Ort noch die Zeit, auf die sehr komplexe Schuldfrage einzugehen, aber es sieht doch danach aus, als hätten die Klostervorsteher, der Prior Johannes Vatter, der Lesemeister Stephan Boltzhurst, der Subprior Franz Ueltschi und der Schaffner Heinrich Steinegger, dem Konversbruder Hans Jetzer in den Jahren 1507–1508 falsche Heiligenerscheinungen vorgespielt (oder vorspielen lassen), die keinen andern Zweck hatten, als für die Lehre von der Befleckten Empfängnis Mariens zu werben, welche die Dominikaner vertraten und welche sie damals, am Ende des Mittelalters, in gehörigen Nachteil gegenüber den Franziskanern brachte. 3 Ich hatte mich 1 2 3 4 Descœudres/Utz Tremp 1993, 11. Rezensionen (soweit zu meiner Kenntnis gelangt) von Christian Hesse, in: Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde 55 (1993), 239–241, und von Martina Wehrli-Johns, in: Zeitschrift für Schweizerische Kirchengeschichte 89 (1995), 160f. Descœudres/Utz Tremp 1993, 122–142; siehe inzwischen auch Utz Tremp 1999, 285–324. Utz Tremp 1999, 297–299, siehe auch Utz Tremp 1993. Tremp-Utz 1988. 14.11.2009 14:55:08 Uhr 216 Die bernischen Dominikaner und die totgeborenen Kinder von Oberbüren Abb. 1 Rekonstruierter Grundriss des ehemaligen Dominikanerklosters von Bern nach Descœudres 1993. Grau: archäologischer Befund bzw. noch im aufgehenden Mauerwerk enthalten. damals schon einmal mit dem Jetzerhandel beschäftigt,4 und die Idee lag nahe, die topographischen Verhältnisse in Kirche und Kloster aufgrund dieser Prozessakten zu rekonstruieren, die seit 1904 gedruckt vorliegen.5 Was immer sie zur Schuldfrage beitragen: für die topographischen Verhältnisse in Kirche und Kloster sollten sie unparteiische Zeugen sein. Ich habe also die Akten des Jetzerprozesses – rund 600 Seiten manchmal eng bedruckter lateinischer Text – auf die topographischen Verhältnisse in Kloster und Kir- Buch SKAM 36.indd 216 che hin verzettelt – wenn ich mich recht erinnere: noch alles von Hand – und habe mehr oder weniger ausführliche Informationen zu verschiedenen Örtlichkeiten in der Kirche und im Kloster gefunden.6 Ich werde mich hier auf einige Lokalitäten in der Kirche beschränken, denn die Klosteranlage war Ende des 19. Jahrhunderts abgeris- 5 6 7 Akten des Jetzerprozesses 1904. Descœudres/Utz Tremp 1993, 143–160. Descœudres/Utz Tremp 1993, 91ff. 14.11.2009 14:55:09 Uhr Die bernischen Dominikaner und die totgeborenen Kinder von Oberbüren sen worden, um dem Stadttheater Platz zu machen,7 und es fehlten – und fehlen – deshalb die Argumente von Seiten der Archäologie. Dagegen erwies sich eine gewisse Zone in der Kirche sowohl als Brennpunkt der archäologischen Ausgrabungen wie auch als Brennpunkt des Jetzerhandels, nämlich der Bereich, wo Chor und Lettner aufeinandertreffen (Abb. 1). Georges Descoeudres hatte schon damals, an jenem Nachmittag, als er mir die Ausgrabungen zeigte, den Eindruck geäussert, dass es nördlich und südlich des Chors noch je eine Kapelle gegeben habe und dass man von der nördlichen Kapelle auch auf den Lettner gelangen konnte. Aufgrund der Akten des Jetzerprozesses ist es dann gelungen, diese Vermutung zu erhärten bzw. die beiden Räume als Johannes- und Marienkapelle zu identifizieren, von denen vor allem die Marienkapelle im Jetzerhandel eine grosse Rolle spielte. Aber auch die Johanneskapelle ist in diesem Zusammenhang recht gut belegt, denn sie war für die Laienbrüder bestimmt, zu denen auch Hans Jetzer gehörte. Bei einer Erscheinung einer gekrönten Maria auf dem Lettner wird deutlich, dass von der Johanneskapelle tatsächlich eine Treppe auf den Lettner hinaufführte. Vom Lettner aus hatte man andererseits freie Einsicht sowohl in die Marien- als auch in die Johanneskapelle.8 In der Marienkapelle stand damals eine Pietà, die über und über mit Kleinodien behängt war und die bei den Leuten in besonderer Verehrung stand. An einem entscheidenden Punkt im Jetzerhandel fing diese Pietà an, blutige Tränen zu vergiessen und sich bei ihrem Sohn zu beklagen, dass man ihm das Privileg der unbefleckten Empfängnis wegnehme und ihr zuteile. Auf dieses «Wunder» hin wurden vier Berner Ratsherren, darunter der Schultheiss Rudolf von Erlach und der Altschultheiss Wilhelm von Diesbach, morgens um fünf aus dem Bett geholt und auf den Lettner der Dominikanerkirche geführt, «weil man von dort aus gegen Osten sowohl in die Marienkapelle rechts als auch in die Johanneskapelle links des Chores hinuntersehen konnte».9 Demnach ist die Marienkapelle als eigentliches südliches Gegenstück zur Johanneskapelle nördlich des Chores zu sehen. Die ältere Forschung hatte sie freilich immer westlich des Lettners in der Aussenwand des rechten Seitenschiffes situiert, aber dort stand sie ganz offensichtlich nicht. Es ist indessen anzunehmen, dass die Marienkapelle, gerade weil sich in ihr ein wichtiger Teil der unrühmlichen Jetzergeschichte zugetragen hatte, nach der Reformation rasch abgebrochen wurde, gewissermassen als Damnatio memoriae, und entsprechend schnell Buch SKAM 36.indd 217 217 hat sich denn die Erinnerung an die genaue Situierung der Kapelle auch verloren.10 Erst in der Abstimmung von archäologischen und historischen Befunden ist es gelungen, die beiden Kapellen nördlich und südlich des Chors wieder ihren ursprünglichen Bestimmungen zuzuführen, und ganz kürzlich hat Charlotte Gutscher-Schmid freundlicherweise auch noch den äusserst gut überlieferten Johannesalter der Berner Nelkenmeister, «das grösste und vollständigste Altarwerk der bernischen Spätgotik», in die von uns «entdeckte» Johanneskapelle der Berner Dominikanerkirche «gestellt».11 II. Die totgeborenen Kinder von Oberbüren Auch für das vorreformatorische Marienheiligtum in Oberbüren, das in den Jahren 1993–2003 ausgegraben wurde, fliessen sowohl die schriftlichen als auch die archäologischen Quellen reichlich, nur ist das für Oberbüren vielleicht (noch) weniger selbstverständlich als für das Berner Dominikanerkloster. Beim Marienheiligtum in Oberbüren handelte es sich um ein sog. «sanctuaire à répit», ein Begriff, der sich fast nicht ins Deutsche übersetzen lässt, es sei denn mit «Aufschubs-Heiligtum». «Aufschub» oder eben frz. «répit», meint, dass hier ein Aufschub erwirkt wurde, und zwar für totgeborene Kinder, die für einen Augenblick zum Leben erweckt wurden, nicht, um weiterzuleben, sondern um getauft zu werden und auf diese Weise in den Himmel gelangen zu können. Die Alternative zu Taufe und Himmel war seit dem Hochmittelalter der sog. Limbus puerorum, der im Hochmittelalter für die ungetauft verstorbnen Kinder geschaffen wurde, in Analogie zum Limbus patrum für die Gerechten des Alten Testaments, die noch nicht hatten getauft werden können, weil es die Taufe zu ihrer Zeit noch gar nicht gab. Der Limbus puerorum ist erst kürzlich von Papst Benedikt XVI. abgeschafft worden, aber die im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit über ganz Europa verstreuten «sanctuaires à répit» beweisen eigentlich mit der nötigen Deutlichkeit, dass er von den trauernden Müttern und Vätern für ihre totgeborenen Kinder lange nicht akzeptiert und rezipiert worden war.12 Die «sanctuaires à répit» sind vor allem ein Phänomen der frühen Neuzeit, und das heisst auch der katholischen Reform, aber ihre Anfänge reichen ins Spätmittel- 8 9 10 11 12 Descœudres/Utz Tremp 1993, 154. Descœudres/Utz Tremp 1993, 155. Descœudres/Utz Tremp 1993, 59f., 137, 154f. Gutscher-Schmid 2007, 69. Hier und im folgenden nach Gélis 2006 und Utz Tremp Ms. 14.11.2009 14:55:09 Uhr 218 Die bernischen Dominikaner und die totgeborenen Kinder von Oberbüren Abb. 2 Karte des Bistums Lausanne im Jahr 1228 mit den Dekanaten, Pfarrkirchen und und Klöstern. Hervorgehoben mit schwarzen Punkten die «sanctuaires à répit», mit Stern die Lage von Oberbüren nach Utz Tremp. alter zurück, als die ersten von ihnen in Frankreich auftauchten, und zwar alle östlich einer Linie, die sich von der Seine bis zum Languedoc zieht, in grosser Dichte in Lothringen, im Elsass, in der Freigrafschaft und vor allem in Burgund, mit abnehmender Dichte in der Champagne, im Bourbonnais, in der Auvergne und in der Provence.13 Zu diesem «Gürtel» gehört auch die nachmalige Westschweiz, und es ist deshalb nicht erstaunlich, dass es auch hier bereits im Spätmittelalter «sanctuaires à répit» gegeben hat – an der Kathedrale von Lausanne (??) – an der Kollegiatkirche von Neuenburg – bei den Augustinereremiten in Genf – an der Pfarrkirche von Freiburg (??) – an der Kapelle von Dürrenberg (Pfarrei Gurmels) – an der Kapelle von Notre-Dame de Tours (Pfarrei Montagny) und – an der St. Pankrazkapelle in Châtillens Aus dieser Aufzählung geht hervor, dass die «sanctuaires à répit» sich zunächst gewissermassen an den «Hauptorten» der Diözesen Lausanne und Genf befanden und dann, Buch SKAM 36.indd 218 aber noch im Spätmittelalter, aufs Land verlegt wurden. Alle diese westschweizerischen «sanctuaires à répit» haben sehr wenige schriftliche Quellen hervorgebracht und sind auch noch nicht archäologisch erforscht worden, mit Ausnahme von Dürrenbühl, wo man bei archäologischen Grabungen 1982–1985 im vorbarocken Kirchenschiff 117 Säuglingsskelette gefunden hat, die indessen nicht anthropologisch untersucht worden sind. Was die schriftlichen Quellen betrifft, so sind die meisten dieser westschweizerischen «sanctuaires à répit» nur aus der Polemik durch die Reformatoren bekannt, die den «Aufschubswundern» nur mit dem allergrössten Unverständnis begegneten. Ganz anders das Marienheiligtum von Oberbüren, für das wir für den Zeitraum von 1185 bis 1749/1765 rund 155 Quellenstücke gefunden und zusammengetragen haben, oder für den engeren Zeitraum von 1470 bis 1550 147 Quellenstücke.14 Diese Quellenflut lässt sich eigentlich 13 14 Gélis 2006, 271f. Utz Tremp Ms., Anhang: Quellen und Quellenregesten. 14.11.2009 14:55:10 Uhr Die bernischen Dominikaner und die totgeborenen Kinder von Oberbüren nur dadurch erklären, dass der Rat der Stadt Bern fast von allem Anfang an lebhaften Anteil an dem Marienheiligtum nahm und die weltliche Aufsicht darüber der Stadt Büren und das Patronatsrecht der Benediktinerabtei St. Johannsen bei Erlach zu entwinden versuchte (1482–1495), was doch einige Tinte fliessen liess. Es ist anzunehmen, dass die Stadt Bern ein eigenes «sanctuaire à répit» haben wollte, wie die Städte Lausanne(?), Neuenburg und Freiburg(?) sie auch hatten, wenn auch nicht innerhalb der eigenen Stadtmauern, so doch in einiger Nähe. Der bernische Rat förderte das Heiligtum und die Wallfahrt dahin so ungestüm, dass er bereits in den 1480er Jahren in Gegensatz zum Bischof von Konstanz, Otto von Sonnenberg (oder von Waldburg) (1474/1480–1491), geriet. Denn – und das war der Haken an der ganzen Sache –: Oberbüren lag in der Diözese Konstanz und nicht, wie die Stadt Bern selber, in der Diözese Lausanne (Abb. 2). In der Diözese Konstanz gab es damals, im Unterschied zur Diözese Lausanne, noch kein einziges «sanctuaire à répit», und der Bischof von Konstanz nahm heftigen Anstoss an den Dingen, die sich in Oberbüren zutrugen und die vom bernischen Rat hemmungslos gefördert wurden. Der Bischof versuchte zunächst, Ende 1485/ Anfang 1486, eine Untersuchung einzuleiten, wozu er als Ordinarius absolut das Recht hatte, aber der bernische Rat fiel ihm in den Arm und führte eine eigene Untersuchung durch, die natürlich – wen wunderts? – in seinem eigenen Sinn ausfiel. Dem Bischof blieb schliesslich nichts anderes übrig, als sich im März oder April 1486 an den Papst zu wenden und ihn in einer Supplik zu bitten, die Missstände in Oberbüren abzustellen. Diese Supplik ist überliefert, und kann wohl als das wichtigste Stück in der schriftlichen Überlieferung zum Marienheiligtum in Oberbüren überhaupt gelten.15 Der Bischof von Konstanz brachte dem Papst zur Kenntnis, «dass sich in der Pfarrkirche der heiligen Jungfrau in der Stadt Büren, der Konstanzer Diözese, die unter der weltlichen Herrschaft des Schultheissen, der Räte und der Gemeinde von Bern steht, ein Bild der heiligen Jungfrau befindet, unter welchem die Christgläubigen beiderlei Geschlechts und besonders die Ungebildeten unter dem Scheine der Frömmigkeit die Frühgeburten und die verstorbenen Kinder, sogar bisweilen solche, welche noch nicht ausgebildete Glieder haben, sondern nur Klumpen bilden, sowohl aus der Konstanzer Diözese als auch aus den umliegenden Bistümern in grosser Zahl bringen. Sie glauben, diese Kinder und Frühgeburten, deren einige Buch SKAM 36.indd 219 219 Abb. 3 Körperlängenverteilung der totgeborenen Kinder von Oberbüren. Unter den bisher ausgewerteten Kinderskeletten bilden die Kinder mit einer Körperlänge zwischen 45 und 55 cm die Mehrheit. Nur wenige hatten eine grössere Körperlänge (bis maximal 57 cm). Die restlichen Kinder sind Frühgeburten. Abb. 4 Skelettreste eines der kleinsten Frühgeborenen von Oberbüren im Vergleich mit einem etwa 50 cm grossen Kind. 15 Bittschrift 1909. 14.11.2009 14:55:11 Uhr 220 offenbar noch kein Leben im Mutterleibe empfangen haben, würden dort auf wunderbare Weise vom Tode zum Leben erweckt, und zwar auf folgende Art: Gewisse von den weltlichen Behörden dazu bestimmte Frauen erwärmen die todten Kinder zwischen glühenden Kohlen und ringsum hingestellten brennenden Kerzen und Lichtern. Dem warm gewordenen Kinde oder der Frühgeburt wird eine ganz leichte Feder über die Lippen gelegt, und wenn die Feder zufällig durch die Luft oder die Wärme der Kohlen von den Lippen weg bewegt wird, so erklären die Weiber, die Kinder und Frühgeburten atmeten und lebten, und sofort lassen sie dieselben taufen unter Glockengeläute und Lobgesängen. Die Körper der angeblich lebendig gewordenen und sofort wieder verstorbenen Kinder lassen sie dann kirchlich beerdigen zum Hohne des orthodoxen christlichen Glaubens und der kirchlichen Sacramente. Und obgleich Euer Diener sich bemüht, diesen Aberglauben, soviel es in seiner Macht ist, auszureuten und solche Weiber, deren in der letzten Zeit mehr als 2000 todte Kinder in jene Kapelle gebracht haben, mit kirchlichen Strafen zu belegen, so verachten doch Schultheiss, Räte und Gemeinde von Bern und deren Verbündete diese Ermahnung und die Strafen und lassen diesen Aberglauben geschehen und begünstigen ihn sogar». Wir können hier leider nicht mehr im Einzelnen auf diesen Text eingehen, sondern lediglich hervorheben, wie sehr er mit den archäologischen Funden übereinstimmt. Der Bischof spricht von «Frühgeburten und verstorbenen Kindern, sogar bisweilen solchen, welche noch nicht ausgebildete Glieder haben, sondern nur Klumpen bilden», und man hat denn auch in Oberbüren rund 250 Kinderskelette und -skelettchen gefunden, nicht nur von Neugeborenen von 45–60 cm, sondern auch von Frühgeburten von 15–44 cm, die offenbar ebenfalls in den Genuss der Taufe kommen sollten (Abb. 3 und 4)! Man hat in Oberbüren aber nicht nur Kinderskelette ausgegegraben, sondern eine ganze Wallfahrtsanlage mit Wallfahrtsterrasse um die Kirche, die an die zeitgenössischen Plattformen der Kirchhöfe von Bern und Biel erinnert (Abb. 5)! Diese Wallfahrtsanlage entsprach wahrscheinlich etwa dem Stand von 1518, als in Oberbüren zu zwei bestehenden Kaplaneien noch zwei weitere gegründet wurden und für die insgesamt vier Inhaber vielleicht ein neues Kaplanenhaus gebaut wurde (Nr. 7). Obwohl das wundertätige Buch SKAM 36.indd 220 Die bernischen Dominikaner und die totgeborenen Kinder von Oberbüren Marienbild bereits 1528, kurz nach der Einführung der Reformation in Bern, verbrannt worden war, wurde die Anlage nachweisbar noch bis 1534 von Wallfahrern aus katholisch gebliebenen Gebieten besucht, so dass der Rat die Kirche und vor allem die Terrasse richtiggehend abtragen lassen musste. Das war nur möglich, weil Oberbüren insofern bereits ein nachreformatorisches «sanctuaire à répit» war, als es auf dem Land lag und man es, anders als dies in der Stadt möglich gewesen wäre, vom Erdboden verschwinden lassen konnte. Dies hat weiter dazu geführt, dass es nach rund 450 Jahren wieder ausgegraben und die grossartige Anlage rekonstruiert werden konnte. Die Grabungsbefunde bestätigen aufs Beste die schriftlichen Befunde, und Oberbüren darf sowohl aufgrund der schriftlichen als auch der archäologischen Quellenlage als eines der am besten dokumentierten «sanctuaires à répit» überhaupt gelten.16 Schluss Was wir hier sowohl im Fall der Berner Dominikanerkirche als auch des «sanctuaire à répit» von Oberbüren «gefeiert» haben, ist eine ausserordentlich gute Quellenlage sowohl auf Seiten der Geschichte als auch der Archäologie. Dies ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass es sich in den beiden hier vorgestellten Fällen um recht prominente Objekte handelt: die Dominikanerkirche in Bern und das Wallfahrtsheiligtum in Oberbüren. Doch muss sogleich eingeschränkt werden, dass gerade vom letzten bis zu den Grabungen von 1993–2003 gar nichts Sichtbares übriggeblieben war, nicht einmal, wie bei den «sanctuaires à répit» der Westschweiz, eine Kirche, sei es nun eine Kathedrale oder eine einfache Dorfkapelle. Dagegen gab es etwas historische Literatur: zwei Aufsätze von Paul Hofer, einem Hobbyhistoriker von Anfang des 20. Jahrhunderts, der dem Phänomen der «sanctuaires à répit» recht hilflos gegenüberstand,17 und einem wichtigen Aufsatz von Oskar Vasella, der als katholischer Kirchenhistoriker hier erst das nötige Verständnis geschaffen hat.18 Diese Arbeiten haben immerhin bewirkt, dass die Verantwortlichen des Archäologischen Dienst des Kan- 16 17 18 Gelungen ist im Fall von Oberbüren auch die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit der Theologie, siehe Pahud de Mortanges Ms. Hofer 1904 und 1908. Vasella 1966. Die anthropologische «Wissenschaft» von den «sanctuaires à répit» ist erst relativ jung; sie löste erst Anfang des 20. Jahrhunderts die Volkskunde ab, und zwar mit Saintyves 1911, zitiert bei Gélis 2006, 8 Anm. 1. 14.11.2009 14:55:11 Uhr Die bernischen Dominikaner und die totgeborenen Kinder von Oberbüren 221 Abb. 5 1 Toranlage; 2 Wallfahrtshof mit Umfriedung (19); 3 Feldaltar; 4 Opferstock oder Weihwasserbehälter; 5 Haus (Empfang?); 6 Wallfahrtskanzel verbunden über einen Steg mit dem 7 Kaplanenhaus (zwei Wohnungen je mit Korridor 8, Stube 9 und Kammer 10); 11 nicht bekannt (Treppenhaus?); 12 Beinhaus; 13 künstliche Terrasse um die Kirche herum; 15 Brunnenanlage; 16 Kirchweg; 17 Kirche mit 17.1 Eingangsturm, 17.2 Schiff, 17.3 Chor, 17.4 Altar, 17.5. älterem Glockenturm; 18 Sakristei (Ort zum Aufwärmen der Totgeborenen?); 19 Umfriedung; schwarze StecknadelSymbole: Bestattungsareale von Totgeburten. Buch SKAM 36.indd 221 14.11.2009 14:55:12 Uhr 222 tons Bern, der 1993 in Oberbüren eine Notgrabung durchführen musste, nicht ganz unvorbereitet waren oder sich zumindest rasch orientieren konnten, wenn auch niemand auf eine Wallfahrtsstätte von solchen Ausmassen, wie sie dann zutage kam, gefasst gewesen war. Ausserdem kannte man – oder stiess doch über Vasella recht rasch auf – die Bittschrift des Bischofs von Konstanz, die Heinrich Türler 1909 in deutscher Übersetzung herausgegeben hatte (ohne sich allerdings auf die damals bereits erschienenen Aufsätze von Paul Hofer zu beziehen).19 Kurz: Es lag etwas in der Luft, was man nicht so genau wusste, was man dann aber rasch mit den reichen und vielfältigen Bodenfunden, die man in Oberbüren machte, in Verbindung brachte. Auf dieser Ausgangslage liessen sich dann auch die Funde an schriftlichen Quellen wieder vermehren, bis zu den rund 150 Quellenstücken, von denen schon die Rede war. Nun wäre es aber ein Irrtum, zu glauben, dass mit der Zunahme der schriftlichen Quellen unsere Kenntnis darüber, was in Oberbüren geschah oder gespielt wurde, zugenommen hätte; es lässt sich vielmehr eine Tendenz zur Verschleierung und Tabuisierung beobachten, die nach der Auseinandersetzung zwischen dem Rat von Bern und dem Bischof von Konstanz 1486 noch zunahm. Da ist zwar viel von einer äusserst wundertätigen Mutter Gottes die Rede, aber was genau diese bewirkte, wird hartnäckig verschwiegen.20 In dieser Situation wirkt die Bittschrift des Bischofs von Konstanz wie ein Tabubruch oder ein Donnerschlag, aber nur auf die nachgeborenen Historiker, denn es ist keineswegs klar, ob sie überhaupt je zur Ausfertigung und an ihren Adressaten, den Papst, gelangte. Zur Zeit ihrer Entstehung war sie jedenfalls keineswegs allgemein bekannt, und die nachgeborenen Historiker verstehen sie ja eigentlich auch nur auf dem Hintergrund der archäologischen Funde von Oberbüren; sonst würde man nämlich meinen, der Bischof habe Gespenster gesehen! Dies erklärt sich nicht zuletzt daraus, dass er – im Unterschied zu seinen Kollegen in Lausanne und Genf – nicht wusste, was ein «sanctuaire Die bernischen Dominikaner und die totgeborenen Kinder von Oberbüren à répit» war, denn Oberbüren war ja das erste Heiligtum dieser Art in seiner Diözese. Er war zwar zutiefst schockiert, versuchte aber doch, dem Phänomen einigermassen gerecht zu werden oder es zumindest zu beschreiben, so dass seine Bittschrift an den Papst doch ein ganz wichtiges Dokument in der allgemeinen Geschichte der «sanctuaires à répit» überhaupt ist.21 Anders die reformatorischen Polemiker der Westschweiz, die nur wenig später für die westschweizerischen «Aufschubsheiligtümer» nur Unverständnis in der Form von Hohn und Spott übrig hatten. Dagegen scheinen die Wallfahrer, welche die «sanctuaires à répit» aufsuchten, sehr wohl gewusst zu haben, was sie dort suchten und manchmal auch fanden, sonst wären sie wohl nicht, wie vom Bischof von Konstanz im Fall von Oberbüren beklagt, in so grosser Zahl dahin geströmt.22 Sie haben es indessen nicht aufgeschrieben, wohl aber ihre totgeborenen und vielleicht doch getauften Kinder dort zurückgelassen, so dass man die gefundenen Kinderskelette als Spuren und Überreste der Wallfahrt interpretieren kann. Der langen Rede kurzer Sinn: Die schriftlichen und archäologischen Quellen müssen komplementär, ineinander verzahnt gelesen und dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Man kann nicht für jede Einzelheit sowohl schriftliche als auch archäologische Quellen haben wollen, um die einen durch die andern bestätigen zu lassen; dafür fliessen sowohl die schriftlichen als auch die archäologischen Quellen zu spärlich, selbst in einem so reich dokumentierten Fall wie Oberbüren. So hat es keinen Sinn, an den Bodenfunden von Oberbüren zu zweifeln, nur weil die geringe Zahl von 250 bei den Grabungen von 1993–2003 gefundenen Kinderskeletten und -skelettchen nicht der vom Bischof von Konstanz genannten Zahl von 2000 (bis 1486!) entspricht.23 Die «Alternative» zu Oberbüren sind die westschweizerischen «sanctuaires à répit», für die es, zumindest vorläufig, abgesehen von der reformatorischen Polemik kaum schriftliche und noch weniger archäologische Quellen gibt. 19 20 21 22 23 Buch SKAM 36.indd 222 Bittschrift 1909. Utz Tremp Ms., Anhang: Quellen und Quellenregesten. Gélis 2006, passim. Hofer 1908; Pahud de Mortanges Ms. Gutscher/Utz Tremp/Ulrich-Bochsler 1999, 388. 14.11.2009 14:55:12 Uhr Die bernischen Dominikaner und die totgeborenen Kinder von Oberbüren 223 Bibliografie Akten des Jetzerprozesses 1904 – Rudolf Steck (Hg.), Die Akten des Jetzerprozesses nebst dem Defensorium (Quellen zur Schweizer Geschichte 22), Basel 1904. Bittschrift 1909 – H(einrich) Türler) (Hg.) Bittschrift des Konstanzer Bischofs Otto (von Waldburg) an den Papst um Abstellung eines von der weltlichen Gewalt unterstützten ungeheuerlichen Aberglaubens, in: Blätter für bernische Geschichte, Kunst und Altertumskunde 5 (1909), 91–92. Descœudres/Utz Tremp 1993 – Georges Descœudres/Kathrin Utz Tremp, Französische Kirche, Ehemaliges Predigerkloster: archäologische und historische Untersuchungen 1988–1990 zu Kirche und ehemaligen Konventgebäuden (Schriftenreihe der Erziehungsdirektion des Kantons Bern), Bern 1993. Gélis 2006 – Jacques Gélis, Les enfants des limbes. Mort-nés et parents dans l’Europe chrétienne, Paris 2006. Gutscher-Schmid 2007 – Charlotte Gutscher-Schmid, Nelken statt Namen. Die spätmittelalterliche Malerwerkstätten der Berner Nelkenmeister, Bern/Sulgen 2007. Gutscher/Ulrich-Bochsler/Utz Tremp 1999 – Daniel Gutscher/Susi UlrichBochsler/Kathrin Utz Tremp, «hie findt man gesundtheit des libes und der sele» – Die Wallfahrt im 15. Jahrhundert am Beispiel der wundertätigen Maria von Oberbüren, in: Ellen J. Beer/Norberto Gramaccini/Charlotte GutscherSchmid et al. (Hrsg.), Berns grosse Zeit. Das 15. Jahrhundert neu entdeckt (Berner Zeiten), Bern 1999, 380–391. Historischer Atlas der Schweiz – Hektor Ammann/Karl Schib (Hg.), Historischer Atlas der Schweiz, Aarau 1951. Hofer 1904 – Paul Hofer, Die Wallfahrtskapelle zu Oberbüren, in: Neues Berner Taschenbuch auf das Jahr 1904, 102–122. Hofer 1908 – Paul Hofer, Der Bruderschaftsrodel der Kapelle von Oberbüren, in: Archiv des Historischen Vereins des Kantons Bern 18, 1908, 362–453. Pahud de Mortanges Ms. – Elke Pahud de Mortanges, Was das Tor zum Himmel öffnet. 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Abbildungsnachweis 1 Descœudres/Utz Tremp 1993, 102 Abb. 119 2 Historischer Atlas der Schweiz, 14, mit Ergänzungen von Kathrin Utz Tremp (Ausführung von Andreas Zwahlen, Archäologischer Dienst des Kantons Bern). 3 Gutscher/Ulrich-Bochsler/Utz Tremp 1999, 390 Abb. 281 4 Gutscher/Ulrich-Bochsler/Utz Tremp 1999, Abb. 282 5 Gutscher/Ulrich-Bochsler/Utz Tremp, 383 Abb. 276 Buch SKAM 36.indd 223 14.11.2009 14:55:12 Uhr Buch SKAM 36.indd 224 14.11.2009 14:55:12 Uhr Autorenverzeichnis 225 Autorenverzeichnis Armand Baeriswyl, Dr. phil., Archäologe des Mittelalters und Historiker. Geb. 1962. 1983–1993 Studium der Geschichte, Kunstgeschichte, Archäologie und Bauforschung des Mittelalters an der Universität Zürich. 2001 Promotion mit einer interdisziplinären Arbeit über den mittelalterlichen Städtebau am Beispiel von Zähringerstädten. 1988–1992 Projektleiter beim Amt für Archäologie des Kantons Thurgau. 1994–2006 wissenschaftlicher Mitarbeiter und stellvertretender Abteilungsleiter beim Archäologischen Dienst des Kantons Bern. Seit 2007 Leiter der Stadt-, Burgen- und Kirchenarchäologie im Kanton Bern. Dozent für Archäologie des Mittelalters an den Universitäten Basel, Bern und Heidelberg sowie an der Berner Fachhochschule für Architektur, Holz und Bau in Burgdorf. Vorstandsmitglied im Schweizerischen Arbeitskreis für Stadtgeschichte und im Schweizerischen Burgenverein. Auswahlbibliografie: Stadt, Vorstadt und Stadterweiterung im Mittelalter. Archäologische und historische Studien zum Wachstum der drei Zähringerstädte Burgdorf, Bern und Freiburg im Breisgau (Schweizer Beiträge zur Kulturgeschichte und Archäologie des Mittelalters 30), Basel 2003. – Innovation und Mobilität im Spiegel der materiellen Kultur. Archäologische Funde und historische Fragestellung, in: Rainer Christoph Schwinges/Christian Hesse/Peter Moraw (Hg.), Europa im Spätmittelalter. Politik – Gesellschaft – Kultur (Historische Zeitschrift, Beiheft 40), München 2006, 511–537. – Die Topografie des städtischen Marktes im Mittelalter und der Frühen Neuzeit am Beispiel süddeutscher und schweizerischer Städte, in: Markt und Handwerk. 9. Treffen des Arbeitskreises zur archäologischen Erforschung des mittelalterlichen Handwerks. Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters 34 (2006), 231–248. – Zum Verhältnis von Stadt und Burg im Südwesten des Alten Reiches. Überlegungen und Thesen an Beispielen aus der Schweiz, in: Wartburg-Gesellschaft zur Erforschung von Burgen und Schlössern (Hg.), Burg und Stadt (Forschungen zu Burgen und Schlössern 11), München 2008, 21–36. – Sodbrunnen – Stadtbach – Gewerbekanal. Wasserversorgung und -entsorgung in der Stadt des Mittelalters und der Frühen Neuzeit am Beispiel von Bern. In: Dorothee Rippmann, Wolfgang Schmid und Katharina Simon-Murscheid (Hg.) … zum allgemeinen statt nutzen – Brunnen in der europäischen Stadtgeschichte, Trier 2008, 55–68. Adresse: Archäologischer Dienst des Kantons Bern, Brünnenstrasse 66, Postfach 5233, CH-3001 Bern. armand.baeriswyl@ erz.be.ch. Adriano Boschetti-Maradi, Dr. phil., Archäologe des Mittelalters. Geb. 1972. 1992–2000 Studium der Ur- und Frühgeschichte, Mittelalterlichen Archäologie und Mittelalterlichen Geschichte an den Universitäten Bern und Zürich. 2004 Promotion an der Universität Zürich. 2000–2004 Projektleiter beim Archäologischen Dienst des Kantons Bern. Seit 2004 Leiter des Fachbereichs Mittelalter- und Neuzeitarchäologie am Amt für Denkmalpflege und Archäologie des Kantons Zug. Buch SKAM 36.indd 225 Lehraufträge an den Universitäten Zürich und Bern. 2008 technical evaluation mission für ICOMOS International im Rahmen der UNESCO-Welterbe-Nominationen 2009. Auswahlbibliografie: Das Städtchen Wiedlisbach. Bericht über die archäologische Untersuchungen bis ins Jahr 2000 (Schriftenreihe der Erziehungsdirektion des Kantons Bern), Bern 2004 (zus. m. Martin Portmann). – Die Zuger Stadterweiterung von 1478. Eine städtebauliche Leistung der Renaissance, in: Georges-Bloch-Jahrbuch des Kunsthistorischen Instituts der Universität Zürich 11/12 (2004/05), 60–75. – Eginoturm und Wirtschaftsbauten im Oberen Garten, in: Hans Rudolf Sennhauser (Hg.), Müstair Kloster St. Johann 3 (Veröffentlichungen des Instituts für Denkmalpflege an der ETH Zürich 16.3), Zürich 2005, 9–119. – Eine romanische Schlagglocke, ebenda, 123–142. – Gefässkeramik und Hafnerei in der Frühen Neuzeit im Kanton Bern (Schriften des Bernischen Historischen Museums 8), Bern 2006. – Ein vorgefertigter Blockbau der Zeit um 1500? Das bemalte Haus Hauptstrasse 6 in Menzingen ZG, in: Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 63 (2006), 123–140 (zus. m. Heini Remy). – Der Bohlen-Ständerbau von 1355 auf der Burg Zug, in: Mittelalter – Moyen Age – Medioevo – Temp medieval, Zeitschrift des Schweizerischen Burgenvereins 11 (2006), 173–188 (zus. m. Toni Hofmann). – Geschirr für Stadt und Land. Berner Töpferei seit dem 16. Jahrhundert, Bern 2007 (Glanzlichter aus dem Bernischen Historischen Museum 19). – Bauforschung und Archäologie in der Schweiz, in: Jahr¬buch der Archäologie Schweiz 90 (2007), 103–115. – Der Ausbau der Zuger Stadtbefestigung unter habsburgischer Herrschaft, in: Tugium 23 (2007), 105–136 (zus. m. Toni Hofmann und Peter Holzer). – Archäologie einer mehrfach restaurierten Burg. Zum Abschluss der archäologischen Untersuchung und der Restaurierung der Burgruine Hünenberg, in: Tugium 25 (2009), 163–184 (zus. m. Gabriela Güntert, Lukas Högl und Gabi Meier). Adresse: Kantonsarchäologie Zug, Hofstrasse 15, CH-6300 Zug. adriano.boschetti@zg.ch. Gilles Bourgarel, Eidg. dipl., archäologischer Grabungstechniker. Geb. 1958. 1978–1990 Studium der Prähistorischen Archäologie und der Kunstgeschichte in Genf und Lausanne. 1986 Diplom. Seit 1981 Beschäftigung beim Archäologischen Dienst des Kantons Freiburg. Seit 1984 Grabungsleitungen, seit 1989 Leiter der Abteilung Mittelalter. Mitglied der Prüfungskommission Archäologischer Grabungstechniker mit eidg. Fachausweis. Vorstandsmitglied in der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit. Auswahlbibliografie: Le Canton de Fribourg, in: B. Sigel (réd.), Stadt- und Landmauern 2, Zürich 1996, 101–126. – La Maigrauge, un couvent de cisterciennes revisité par les archéologues, in: Cahiers d’archéologie fribourgeoise 2 (2000), 2–17. – Estavayer-le-Lac, La maison des Sires d’Estavayer, impasse de la Motte-Châtel 8, in: Bulletin Monumental 159 (2001), 175–179. – Les coseigneurs d’Estavayer-le-Lac et leurs demeures au XVe 14.11.2009 14:55:12 Uhr 226 siècle. De la maison bourgeoise au château, in: A>Z. Balade archéologique en terre fribourgeoise. Catalogue accompagnant l’exposition, Fribourg 2005, 58–69 – L’ancien logis abbatial de la Maigrauge. Un précieux témoin des origines du monastère, in: Cahiers d’archéologie fribourgeoise 7 (2005), 164-179. – Gruyères: du mythe à la réalité, in: La vallée de la Sarine au fil du temps, in: AS 30 (2007), cahier 2, 61–70. – Fouilles archéologiques; La production – Les formes; Répertoire des formes, in: M. Maggetti (dir.), La faïence de Fribourg (1753–1844), Dijon 2007, 68-81, 126–157, 200–231. Adresse: Service Archéologique de l’Etat de Fribourg, Planche supérieure 13, CH-1700 Fribourg. bourgarelg@fr.ch. Geoff Carver, M.A. Geb. 1962. 1983–2008 Studium der Archäologie und GIS in Calgary (Kanada), Frankfurt/Oder und Buffalo (USA). Seit 1985 Mitarbeiter, Grabungstechniker und wissenschaftlicher Leiter bei verschiedenen archäologischen Ausgrabungen in Kanada, Holland, Frankreich, England, Deutschland und den USA. 2001–2004 Teaching Assistant an den Departments of Anthropology and General Studies, State University of New York at Buffalo. 2005–2009 Arbeit als CAD/ GIS technician. 2004–2005 Forschungsstipendium des Deutschen Akademischen Austausch-Diensts (DAAD). 2007 Stipendium für Computer Applications in Archaeology (CAA). Auswahlbibliografie: Archaeological Fieldwork. In: Encyclopædia of Life Support Systems; EOLSS/UNESCO, Oxford 2004. – Digital Digits: The Human Factor in Archaeological Documentation (Session proceedings from Kulturelles Erbe und Neue Technologien/Cultural Heritage and New Technologies) Vienna 2005. – Archaeological Information Systems (AIS): Adapting GIS to archaeological contexts (Session proceedings from Kulturelles Erbe und Neue Technologien/Cultural Heritage and New Technologies), Vienna 2007. – Much Ado about Nothing: the Debate over Commercial Archaeology in Germany. In: Jeffrey A. Chartrand (Ed.), Contract Archaeology: its Strengths, Weaknesses and Spread (Session Proceedings from EAA99) Bournemouth (in Vorbereitung). Adresse: Broicher Strasse 39 B, D-51429 Bensberg. gjcarver@tonline.de. Georges Descœudres, Prof. Dr., Archäologe des Mittelalters und Kunsthistoriker. Geb. 1946. 1970–1981 Studium der Geschichte, Kunstgeschichte und Kirchengeschichte sowie der Klassischen, Frühchristlichen und Mittelalterlichen Archäologie an der Universität Zürich. 1981 Promotion mit einer interdisziplinären Arbeit im Bereich der Architektur- und Liturgiegeschichte. 1995 Habilitation an der Universität Basel. 1982– 1997 wissenschaftliche Mitarbeit beim Atelier d’archéologie médiévale, Moudon, daneben Lehrtätigkeit am Departement Architektur der ETH Zürich. 1996–1997 Professeur associé für frühchristliche Archäologie an der Universität Fribourg. Seit 1997 Lehrstuhl für Kunstgeschichte und Archäologie des Mittelalters am Kunsthistorischen Institut der Universität Zürich. Auswahlbibliografie: Von fahrenden Häusern und wandernden Siedlungen, in: Georges-Bloch-Jahrbuch 9/10 (2002/03), 7–25. – Choranlagen von Bettelordenskirchen. Tradition und Innovation, in: Anna Moraht-Fromm (Hg.), Kunst und Liturgie, Choranlagen des Spätmittelalters. Ihre Architektur, Ausstattung und Nutzung, Ostfildern 2003, 11–30. – Die Richtstätte der Thebä- Buch SKAM 36.indd 226 Autorenverzeichnis ischen Legion als sekundärer Kultplatz, in: Mauritius und die Thebäische Legion / Saint-Maurice et la Légion thébaine. Actes du colloque 2003 (Paradosis 49), Fribourg 2005, 343–358. – Herrenhäuser aus Holz. Eine mittelalterliche Wohnbaugruppe in der Innerschweiz (Schweizer Beiträge zur Kulturgeschichte und Archäologie des Mittelalters 34), Basel 2007. Adresse: Kunsthistorisches Institut der Universität Zürich, Lehrstuhl für Kunstgeschichte des Mittelalters, frühchristliche und mittelalterliche Archäologie, Rämistrasse 73, CH-8006 Zürich. descoeu@khist.uzh.ch. Lotti Frascoli, M.A., lic.phil., Archäologin. Geb. 1959. Bis 1983 Studium der Ur- und Frühgeschichte, Mittelaltergeschichte, Geophysik und Ethnologie an den Universitäten Oxford (Wolfson College) und Zürich. 1983 Master of Philosophy, 1988 Lizentiat. 1988–2005 Projektleiterin Bereich Mittelalter und Neuzeit bei der Kantonsarchäologie Zürich. Seit 1999 wissenschaftliche Mitarbeit beim Büro für Archäologie, Amt für Siedlungsplanung und Städtebau der Stadt Zürich. Seit 2001 Lehrauftrag am Kunsthistorischen Institut, Universität Zürich. Seit 2006 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Mittelalterarchäologie am Kunsthistorischen Institut der Universität Zürich. Auswahlbibliografie: Der Keltenwall von Rheinau, Kt. Zürich – Die Grabung von 1989, in: Jahrbuch der Gesellschaft für Urund Frühgeschichte 74 (1991), 7–42. – Handwerker- und Kaufmannshaushalte im frühneuzeitlichen Winterthur (Monografie der Kantonsarchäologie Zürich 29) Zürich, Egg 1997. – Keramikentwicklung im Gebiet der Stadt Winterthur vom 14.–20. Jahrhundert: ein erster Überblick, in: Archäologie im Kanton Zürich 2000–2001 (Berichte der Kantonsarchäologie Zürich 17), 127–218. – Brennofen Augustinergasse 46 in Zürich CH, in: Andreas Heege (Hg.), Töpferöfen – Pottery Kilns – Fours de Potiers. Die Erforschung frühmittelalterlicher bis neuzeitlicher Töpferöfen (6.–20. Jh.) in Belgien, den Niederlanden, Deutschland, Österreich und der Schweiz (Basler Hefte zur Archäologie 4), Basel 2007, 279–289. – Und was macht der Süden? Glas- und Keramikherstellung und -gebrauch zwischen dem 15. und Ende 19. Jahrhunderts in Winterthur, in: Archäologie der frühen Neuzeit. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit 18 (2007), 117–122. Adresse: Kunsthistorisches Institut der Universität Zürich, Lehrstuhl für Kunstgeschichte des Mittelalters, Archäologie der frühchristlichen, hoch- und spätmittelalterlichen Zeit, Rämistrasse 73, CH- 8006 Zürich. frascoli@khist.uzh.ch. Sören Frommer, Dr. phil., Archäologe des Mittelalters. Geb. 1970. 1996–2006 Studium der Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters in Tübingen. 2006 Promotion zur Methodologie einer als Geschichtswissenschaft verstandenen historischen Archäologie. Seit 2006 wissenschaftlicher Angestellter am Institut für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters in Tübingen. Wesentlich beteiligt an der Planung und Durchführung der Fachtagung Das 15. und 16. Jahrhundert: Archäologie einer Wendezeit an der Universität Tübingen im Februar 2007. Auswahlbibliografie: Die Glashütte Glaswasen im Schönbuch. Produktionsprozesse, Infrastruktur und Arbeitsalltag eines spätmittelalterlichen Betriebs (Tübinger Forschungen zur 14.11.2009 14:55:12 Uhr Autorenverzeichnis historischen Archäologie 1 ), Büchenbach 2004 (zus. m. Aline Kottmann). – Historische Archäologie. Versuch einer methodologischen Grundlegung der Archäologie als Geschichtswissenschaft (Tübinger Forschungen zur historischen Archäologie 2), Büchenbach 2007. – From Excavation to Publication, in: James Graham-Campbell/Magdalena Valor (Hg.), The Archaeology of Medieval Europe I. Eighth to Twelfth Centuries AD, Aarhus 2007, 40–41. – Überlieferungsdichte und Interpretation im Kontext der Auswertung archäologischer Ausgrabungen, in: Sören Frommer et al. (Hg.), Zwischen Tradition und Wandel. Ergebnisse und Fragen einer Archäologie des 15. und 16. Jahrhunderts (Tübinger Forschungen zur historischen Archäologie 3), Büchenbach 2009. Adresse: Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Institut für Urund Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters, Abteilung für Archäologie des Mittelalters, Schloss Hohentübingen, 72070 Tübingen. soeren.frommer@uni-tuebingen.de. Roland Gerber, Dr. phil., Historiker. Geb. 1985–1993 Studium der Geschichte und Architekturgeschichte an der Universität Bern. 1999 Promotion mit einer Arbeit über die Berner Stadtgesellschaft im Spätmittelalter. 1992–1999 wissenschaftlicher Mitarbeiter in den Nationalfondsprojekten Neubürger im späten Mittelalter und Innovationsräume. Seit 2000 wissenschaftlicher Archivar im Staatsarchiv des Kantons Aargau. Auswahlbibliografie: Öffentliches Bauen im mittelalterlichen Bern. Verwaltungs- und finanzgeschichtliche Untersuchung über das Bauherrenamt der Stadt Bern 1300 bis 1550 (Archiv des Historischen Vereins des Kantons Bern 77), Bern 1994. – Die Einbürgerungsfrequenzen der Städte Freiburg im Uechtland, Konstanz und Luzern im späten Mittelalter, in: Lenka Bobkova/Michaela Neudertova (Hg.), Reisen im Leben der Gesellschaft (Acta Universitatis Purkynianae, Studia Historica II), Usti nad Labem 1997, 95–104. – Stadt und Vogtei Aarberg unter bernischer Herrschaft 1358 bis 1528, in: Aarberg. Porträt einer Kleinstadt, Aarberg 1999, 115-145. – Gott ist Burger zu Bern. Eine spätmittelalterliche Stadtgesellschaft zwischen Herrschaftsbildung und sozialem Ausgleich (Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte 39), Weimar 2001. – Die Einbürgerungsfrequenzen spätmittelalterlicher Städte im regionalen Vergleich, in: Rainer C. Schwinges (Hg.), Neubürger im späten Mittelalter. Migration und Austausch in der Städtelandschaft des alten Reiches (1250–1550) (Beiheft zur Zeitschrift für Historische Forschung 30), Berlin 2002, 251–288. Adresse: Staatsarchiv Aarau, Entfeldenstrasse 22, CH-5001 Aarau. roland.gerber@ag.ch. François Guex, Dr. phil., Archäologe des Mittelalters. Geb. 1952. Bis 1981 Studium der Kunstgeschichte, mittelalterlichen Geschichte und Kirchengeschichte an der Universität Zürich. 1984 Promotion mit einer Arbeit über das spätmittelalterliche Bauwesen der Stadt Zürich. 1984–1988 Leiter der archäologischen Untersuchungen im Kloster St. Johann Müstair. 1988–2001 Kantonsarchäologe des Kantons Freiburg. Seit 2002 wissenschaftlicher Berater beim kantonalen Amt für Kulturgüter (=Denkmalpflege) Freiburg. 1997–2008 Vizepräsident der Eidgenössischen Kommission für Denkmalpflege. 1996–2007 Mitglied des Schweiz. Komitees für Kulturgüterschutz, 2001–2007 als Präsident. Auswahlbibliografie: Bruchstein, Kalk und Subventionen. Das Buch SKAM 36.indd 227 227 Zürcher Baumeisterbuch als Quelle zum Bauwesen des 16. Jahrhunderts, Zürich 1986 – Freiburgs Brücken und Strassen im 13. Jahrhundert. In: Freiburger Geschichtsblätter 82 (2005), 7–18. Beiträge zu den Artikeln Freiburg (Gemeinde) und Freiburg (Kanton) im Historischen Lexikon der Schweiz HLS (2005) – Die Anfänge der Stadt Freiburg: Antworten und Fragen. In: Freiburger Geschichtsblätter 85 (2008), 7–31. Adresse: Amt für Kulturgüter, Archivweg 4, CH-1700 Freiburg. guexg@fr.ch. Karsten Igel, Dr. phil., Historiker. Geb. 1970. 1996–2002 Studium der Mittelalterlichen Geschichte, Neueren und Neuesten Geschichte sowie Politikwissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. 2002 Promotion mit einer Arbeit über die Stadtgestalt und Sozialstruktur Greifswalds um 1400. Lehrbeauftragter in der Abteilung für Westfälische Landesgeschichte an der Universität Münster, verschiedene Projekte als freischaffender Historiker. Auswahlbibliografie: Von der vorkommunalen zur kommunalen Stadt. Zur frühen Stadtentwicklung Osnabrücks vom 11. bis zum 13. Jahrhundert. In: Osnabrücker Mitteilungen 109 (2004), 27–67. – Stadt-Raum und Sozialstruktur. Überlegungen zu Quellen, Methoden und Problemen an den Beispielen Greifswald und Osnabrück. In: Hansische Geschichtsblätter 122 (2004), 1–53. – ... und schal by der Lowen namen blyven. Identität und Selbstdarstellung städtischer Führungsgruppen im spätmittelalterlichen Hanseraum im Spiegel ihrer Häuser und Höfe. In: Sünje Prühlen/Lucie Kuhse/Jürgen Sarnowsky (Hg.): Der Blick auf sich und die Anderen. Selbst- und Fremdbild von Frauen und Männern in Mittelalter und frühen Neuzeit. Festschrift für Klaus Arnold (Nova Mediaevalia. Quellen und Studien zum europäischen Mittelalter 2), Göttingen 2007, 315–348. – Zwischen Bürgerhaus und Frauenhaus. Stadtgestalt, Grundbesitz und Sozialstruktur im spätmittelalterlichen Greifswald (Städteforschung A/71), Köln/Weimar/Wien 2009. Adresse: Moltkestr. 18, D-49076 Osnabrück. karsten.igel@unimuenster.de. Michaela Jansen, M.A., Archäologin. Geb. 1974. 1994–2001 Studium der Frühgeschichte, Alten Geschichte und Klassischen Archäologie in Freiburg i. Br. und Rom. 2001 Magister in Freiburg zu einem merowingerzeitlichen Gräberfeld. Arbeit an einer Dissertation über Stadtumgestaltung im Hochmittelalter. Grabungsleitungen in Konstanz (Baden-Württemberg), Arnheider Kapelle (Hessen), Kloster Hornbach (Rheinland-Pfalz) und Stade (Niedersachsen). Auswahlbibliografie: Das merowingerzeitliche Gräberfeld im Gewann Weckersgraben in Buggingen, Kreis Breisgau-Hochschwarzwald. In: Fundberichte aus Baden-Württemberg 27 (2003), 775-915. Die Umgestaltung von Marktorten zur Stadt. Das Beispiel Esslingen. In: Die vermessene Stadt. Mittelalterliche Stadtplanung zwischen Mythos und Befund. Mitteilungsblatt der Deutschen Gesellschaft für Archäologie des Mittelalters und der frühen Neuzeit 15 (2004), 41–46. Die Arnheider Kapelle St. Bartholomäus im Odenwald. In: Uta von Freeden/ Herwig Friesinger/Egon Wamers (Hg.): Glaube, Kult und Herrschaft. Phänomene des Religiösen im 1. Jahrtausend in Mittelund Nordeuropa (Kolloquien zur Vor- und Frühgeschichte 12) (im Druck). Alte Stadt - Neue Stadt. Stadtbild und Stadtwer- 14.11.2009 14:55:12 Uhr 228 dung. In: Uwe Gross/Aline Kottmann/Jonathan Scheschkewitz (Hg.): Frühe Pfalzen – Frühe Städte. Beiträge eines Fachkolloquiums vom 28.-29. April 2009 in Ulm (Archäologische Informationen aus Baden-Württemberg) (im Druck). Adresse: Gartenstr. 25, 78462 Konstanz. jansen.michaela@web.de. Bertram Jenisch, Dr. phil., Archäologe. Geb. 1962. Studium der Vor- und Frühgeschichte, Klassischen Archäologie, Geologie und Geschichtliche Landeskunde an den Universitäten Heidelberg, Freiburg und Tübingen. 1994 Promotion mit einer archäologischen Arbeit über die Entstehung der Stadt Villingen. 1991 beim Landesdenkmalamt Baden-Württemberg mit der Denkmalerfassung archäologischer Denkmale des Mittelalters und der Neuzeit betraut, ab 1998 Bearbeitung des Archäologischen Stadtkatasters Baden-Württemberg. Seit 2008 Referent für Mittelalterarchäologie im Referat Denkmalpflege beim Regierungsbezirk Freiburg. Auswahlbibliografie: Die Entstehung der Stadt Villingen. Archäologische Zeugnisse und Quellenüberlieferung (Forschungen und Berichte zur Archäologie des Mittelalters in Baden-Württemberg 22), Stuttgart 1999. – Schwarzwälder Waldglas. Glashütten, Rohmaterial und Produkte der Glasmacherei vom 12.–19. Jahrhundert. in: Alemannisches Jahrbuch (1997/98), 437–491 (zus. m. Hansjosef Maus). – Offenburg (Archäologischer Stadtkataster Baden-Württemberg 33), Esslingen 2007 (zus. m. Andre Gutmann). Adresse: Regierungspräsidium Freiburg, Referat Denkmalpflege – Fachbereich Archäologie, D-79083 Freiburg i. Br. bertram. jenisch@rpf.bwl.de. Gerson H. Jeute, Dr. phil., Archäologe. Geb. 1974. 1994– 2004 Studium der Ur- und Frühgeschichte, Mittelalterlichen Geschichte und Klassischen Archäologie an der HumboldtUniversität zu Berlin. 2005 Promotion mit einer Untersuchung zu mittelalterlichem Handwerk und Gewerbe im westlichen Brandenburg. 1991–2000 Mitarbeiter auf verschiedenen Grabungen, u.a. in Stadt und Land Brandenburg, Bulgarien, Syrien, Sudan und Polen. 1997 und 1999 Projektinitiant und Mitorganisator eines ethnoarchäologischen Surveys in Bulgarien. 2001–2006 Grabungsleitungen in verschiedenen mittelalterlichen Stadtkernen. 2006–2008 Limnologische und taucharchäologische Untersuchungen an der Saline von Salzbrunn. 2007–2009 Aufarbeitung der Grabung Neustädtischer Markt, Brandenburg an der Havel. Seit 1999 Durchführung von Lehrveranstaltungen am Lehrstuhl für Ur- und Frühgeschichte, Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 2009 Stipendiat am Römisch-Germanischen Zentralmuseum (Projekt Reiterkrieger, Burgenbauer). Auswahlbibliografie: Ländliches Handwerk und Gewerbe im Mittelalter: Untersuchungen zur nichtagrarischen Produktion im westlichen Brandenburg (Studien zur Archäologie Europas 7), Bonn 2007. – Berufs- und produktspezifische Ortsnamen aus archäologischer Sicht. Ein Werkstattbericht. In: Gerson H. Jeute, Jens Schneeweiß, Claudia Theune (Hg.), aedificatio terrae. Beiträge zur Umwelt- und Siedlungsarchäologie Mitteleuropas. FS Eike Gringmuth-Dallmer (Internationale Archäologie, Studia honoraria 26), Rahden/Westf. 2007, 191-199. – Ländliche niederadlige Burgen in Brandenburg. Methoden ihrer Erfor- Buch SKAM 36.indd 228 Autorenverzeichnis schung am Beispiel der Motte von Mahlenzien, Archäologie mittelalterlicher Burgen. Mitteilungsblatt der Deutschen Gesellschaft für Archäologie des Mittelalters und der frühen Neuzeit 20 (2008), 135–144, (zus. m. Christian Matthes). Adresse: Humboldt-Universität zu Berlin, Lehrstuhl für Urund Frühgeschichte, Hausvogteiplatz 5–7, D-10117 Berlin. ghjeute@t-online.de. Clemens Joos, M.A., Historiker. Geb. 1978. 1997–2003 Studium der Geschichte und Volkskunde in Freiburg i.Br. und Innsbruck. 2003 Magister. Seit 2000 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Universität Freiburg i.Br. Arbeit an einer Dissertation über die Chronik des Freiburger Münsterkaplans Johannes Sattler. Auswahlbibliografie: Die Rose von Eberstein. Zur Ebersteiner Wappensage, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 152 (2004) 145–164 – Kurt Andermann/Clemens Joos (Hg:), Grafen und Herren in Südwestdeutschland vom 12. bis ins 17. Jahrhundert (Kraichtaler Kolloquien 5), Epfendorf 2006 – Gelehrt sind ihre Väter und fromm. Zur Geschichte der Freiburger Kartause, in: Klaus Winkler (Hg.), 1000 Jahre Wiehre. Ein Almanach 1008–2008, Freiburg i. Br. 2007, 71–81. Adresse: Universität Freiburg im Breisgau, Historisches Seminar, Abteilung Landesgeschichte, Werthmannstraße 8, D-79085 Freiburg i. Br. clemens.joos@geschichte.uni-freiburg.de. Ulrich Klein: M.A. Bauforscher und Historiker. Geb. 1956. 1975–1982 Studium der Geschichte, Vor- und Frühgeschichte, Kunstgeschichte, Europäischen Ethnologie und Politischen Wissenschaft in Bochum und Marburg. 1982 Magister. 1982– 1987 wissenschaftlicher Angestellter der Philipps-Universität Marburg. Seit 1979 Mitarbeiter der Marburger Arbeitsgruppe für Bauforschung und Dokumentation, 1985 Mitbegründer des nachfolgenden Freien Instituts für Bauforschung und Dokumentation e.V. (IBD). Seit 1989 Lehrtätigkeit in der Architektenfortbildung des Deutschen Zentrums für Handwerk und Denkmalpflege (ZHD) Fulda. Seit 2003 Gesellschafter der nachfolgenden Propstei Johannesberg GmbH und Fortsetzung der dortigen Lehrtätigkeit. 1996–2002 Lehrbeauftragter im Fachgebiet Denkmalpflege der RWTH Aachen. Seit 1988 Schriftführer im Vorstand des internationalen Arbeitskreises für Hausforschung e.V. (AHF), Mitherausgeber des Jahrbuchs für Hausforschung und der Berichte zur Haus- und Bauforschung. Auswahlbibliografie: Das Dachwerk über dem Mittelschiff der Marburger Elisabethkirche, in: Zur Bauforschung über Spätmittelalter und frühe Neuzeit (Berichte zur Haus- und Bauforschung 1), Marburg 1991, 149–155 (zus. m. M. Langenbrinck) – Bauaufnahme und Dokumentation (Reihe Altbaumodernisierung), Stuttgart, München 2001. – Synagogen und Mikwen. Die archäologische Erforschung der mittelalterlichen jüdischen Architektur, in: Menschen–Zeiten–Räume. Archäologie in Deutschland. Stuttgart 2002, 380–382. – Spuren von Nutzungen – Nutzungsspuren, in: Arbeitskreis für Hausforschung (Hrsg.), Spuren der Nutzung in historischen Bauten (Jahrbuch für Hausforschung 54), Marburg 2007, 105–114. Adresse: Freies Institut für Bauforschung und Dokumentation e.V., Barfüßerstr. 2a, D-35037 Marburg. ibd-marburg@t-online.de. 14.11.2009 14:55:13 Uhr Autorenverzeichnis Frank Löbbecke, M.A., Archäologe und Kunsthistoriker. Geb. 1966. 1987–1992 Studium der Ur- und Frühgeschichte, Kunstgeschichte, Mittleren und Neuen Geschichte in Göttingen und Köln. 1992 Magister an der Universität Köln. Nach einer Anstellung beim Stadtkonservator Köln seit 2002 als freier Archäologe und Bauhistoriker in Freiburg im Breisgau tätig. Lehrauftrag an der Universität Freiburg. Auswahlbibliografie: Eine Bequembliche Logierung. Das Freiburger Haus «Zum Herzog» in neun Jahrhunderten (Veröffentlichungen aus dem Archiv der Stadt Freiburg 32), Freiburg i. Br. 2001 (zus. m. Ulrike B. Gollnick). Bauarchäologische Untersuchungen und baugeschichtliche Auswertung während der Sanierung. In: Vom Messbild zur Bauanalyse. 25 Jahre Photogrammetrie in Baden-Württemberg (Arbeitsheft des Landesdenkmalamtes Baden-Württemberg 9), Stuttgart 2001, 163–173. Das Haus Zum Roten Basler Stab (Salzstraße 20) in Freiburg im Breisgau (Forschungen und Berichte der Archäologie des Mittelalters in Baden-Württemberg), Stuttgart 2002 (zus. m. L. Galioto/M. Untermann) – Städtischer Profanbau des Hochmittelalters. Die Entwicklung des Wohnbaus in Freiburg im Breisgau im 12. und 13. Jahrhundert. In: ARS (Journal of the Institute of Art History of Slovak Academy of Sciences) 37 (2004), Nr. 1–2, 3–18. Der Wiederaufbau der Klosterkirche Hersfeld im 11. und 12. Jahrhundert. Aktuelle bauarchäologische Untersuchungen in der Ostapsis. In: Centre – Region - Periphery. Medieval Europe Basel 2002 (3. Internationaler Kongress der Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit, Volume 3), Hertingen 2002, 321-326. El convento de San Francisco en Panamá Viejo. In: Canto Rodado. Revista especializada en temas de patrimonio (Publicación anual del Patronato Panamá Viejo No. 2 – Año 2007), Panamá 2007, 101-124 (zus. m. Eduardo Tejeira Davis). Adresse: BauKern – Architektur und Geschichte, Tuslingerstr. 12, D-79102 Freiburg i. Br. Loebbecke@baukern.de Christoph Philipp Matt, Lic. phil., Archäologe. Geb. 1953. 1973–1980 Studium der Ur- und Frühgeschichte, Schweizer Geschichte und Volkskunde an der Universität Basel. 1980 Lizentiat. 1982 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Römermuseum in Augst BL. 1980/81 und seit 1983 Mitarbeiter der Archäologischen Bodenforschung des Kantons Basel-Stadt. Heute Ressortleiter Innerstadt. Auswahlbibliografie: Die mittelalterlichen Stadtbefestigungen am Petersgraben und die Quartiere hinter der Stadtmauer, in: Rolf D’Aujourd’hui (Hg.), Jahresbericht Archäologische Bodenforschung Basel-Stadt 1988, Basel 1990, 60–97. – Christoph Matt, mit maneger burc vil schone – Turmbau zu Basel?, in: Römerstadt Augusta Raurica (Hg.), Mille Fiori. Festschrift für Ludwig Berger (Forschungen in Augst 25), Augst 1998, 303– 311. – Zur Parzellenstruktur der Stadt Basel vor 1300, in: Rolf d’Aujourd’hui (Hg.), Jahresbericht der Archäologischen Bodenforschung des Kantons Basel-Stadt 1996, Basel 1998, 44–57. – Basels Befestigungen, in: Mittelalter – Moyen Age – Medioevo – Temp medieval, Zeitschrift des Schweizerischen Burgenvereins, 9 (2004), 40–51. – Zeugnisse jüdischen Lebens aus den mittelalterlichen Städten Zürich und Basel In: Kunst + Architektur in der Schweiz 56 (2005), 14–20 (zus. m. Dölf Wild). Adresse: Archäologische Bodenforschung des Kantons BaselStadt, Postfach, CH-4001 Basel. christoph.matt@bs.ch. Buch SKAM 36.indd 229 229 Darja Miheli , Prof. Dr., Historikerin. Geb. 1950. 1968–1974 Studium der Geschichte an der Universität Ljubljana. 1983 Promotion mit einer Arbeit über die nichtagrarische Wirtschaft der Stadt Piran 1280–1340. Seit 1974 Mitarbeiterin am Historischen Institut (des Forschungszentrums) der Slowenischen Akademie der Wissenschaften und Künste. Seit 1984 Vorlesungen zur Geschichte des Mittelalters an der Abteilung für Geschichte der Philosophischen Fakultät der Universität Ljubljana. 1985 Dozentin für die Geschichte der Slowenen bis Ende des 18. Jahrhunderts, 1990 ausserordentliche Professorin, 1995 ordentliche Professorin. Seit 1994 Vertreterin Sloweniens in der Internationalen Kommission für Stadtgeschichte (Commission pour l’histoire des villes), seit 2002 Ausschussmitglied. Vertreterin Sloweniens im 1995 gegründeten Vollzugsausschuss der Internationalen Vereinigung für die Geschichte der Alpen (Comité de l’Association internationale pour l’histoire des Alpes). Auswahlbibliografie: Neagrarno gospodarstvo Pirana od 1280 do 1340 (La produzione non rurale di Pirano dal 1280 al 1340) (Dela, Slovenska akademija znanosti in umetnosti, Razred za zgodovinske in družbene vede [Opera, Academia scientiarum et artium Slovenica], Classis I: Historia et sociologia, 27), Ljubljana, 1985. – Etni na podoba Karantanije in njenih prebivalcev v spisih zgodovinopiscev od 15. do 18. stoletja [Das ethnische Erscheinungsbild von Karantanien und seinen Einwohnern in Werken der Geschichtsschreiber des 15. bis 18. Jahrhunderts], in: Rajko Bratož (Hg.), Slovenija in sosednje dežele med antiko in karolinško dobo, Za etki slovenske etnogeneze [Slowenien und die Nachbarländer zwischen Antike und karolingischer Epoche, Anfänge der slowenischen Ethnogenese] (Situla, 39), (Razprave, 18), Ljubljana 2000, 839–961. – Piranska notarska knjiga (1298–1317), etrti zvezek [The Notary Book from Piran (1298–1317)], vol. 4. (Thesaurus memoriae, Fontes 4), Ljubljana 2006. – Ribi , kje zdaj tvoja barka plava? Piransko ribolovno obmo je skozi as [Fischerman, where does your boat sail now? The Piran fisching zone over time] (Knjižnica Annales 47), Koper 2007. Adresse: Zgodovinski inštitut Milka Kosa ZRC SAZU, Novi trg 2, p. p. 306, SI-1000 Ljubljana. mihelic@zrc-sazu.si. Isabelle Schürch, Lic. phil., Historikerin. Geb. 1981. 2001– 2008 Studium der Geschichte, der Englischen Literatur und der Sozialpsychologie an der Universität Bern. 2008 Lizentiat mit einer Arbeit über die Finanzierung des Berner Münsters im 15. Jahrhundert. Seit 2008: Assistentin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Seminar, Fachbereich Mittelalter, der Universität Zürich. Adresse: Historisches Seminar der Universität Zürich, Karl Schmid-Strasse 4, CH-8006 Zürich. isabelle.schuerch@hist. uzh.ch Martina Stercken, Prof. Dr., Historikerin, Promotion an der Universität Bonn (WS 1987/88); Habilitation an der Universität Zürich (WS 2002/03). Mitglied der Leitung des Nationalen Forschungsschwerpunkts (NFS) «Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen. Historische Perspektiven» an der Universität Zürich. Mitglied verschiedener stadtgeschichtlicher Vereinigungen, u. a. der Commission Internationale pour l’Histoire des Villes und des Schweizerischen Arbeitskreises für Stadtgeschichte. Auswahlbibliografie: Städte der Herrschaft. Kleinstadtgenese im 14.11.2009 14:55:13 Uhr 230 habsburgischen Herrschaftsraum des 13. und 14. Jahrhunderts (Städteforschung A 68), Köln/Wien 2006 – Gebaute Ordnung. Stadtvorstellungen und Planung im Mittelalter, in: B. Fritzsche, H.-J. Gilomen u. M. Stercken (Hgg.), Stadtplanung – Planstädte), Zürich 2006, S. 15-23 – Inszenierung bürgerlichen Selbstverständnisses und städtischer Herrschaft, in: Stadtbilder der Neuzeit, hrsg. v. B. Roeck (Stadt in der Geschichte 32), Sigmaringen 2006, S. 105-122 – Herrschaftsinstrument, Statussymbol und Legitimation. Gebrauchsformen habsburgischer Privilegien im 13. und 14. Jahrhundert, in: Hans-Joachim Schmidt (Hg.), Stadtgründung und Stadtplanung. Mythos und Realität, Fribourg 2009, S. 243-265. vgl.http://www.hist.uzh.ch/lehre/mittelalter/ stercken.html. Adresse: Universität Zürich, Historisches Seminar, Nationaler Forschungsschwerpunkt (NFS). Medienwandel-MedienwechselMedienwissen, Historische Perspektiven, Rämistr. 69, CH-8006 Zürich. stercken@hist.uzh.ch. Katalin Szende, Katalin Szende, PhD, Historikerin. Geb. 1965. 1983–1989 Studium der Geschichte, Archäologie und klassische Philologie an der Eötvös Loránd-Universität in Budapest. 2000 Promotion ebenda mit einer Untersuchung zu spätmittelalterlichen Bürgertestamenten aus Ungarn, 1989–1998 Mitarbeiter des Stadtmuseums Sopron (Westungarn), 1998–1999 des Ungarischen Staatsarchivs, 1999 bis heute Associate Professor am Lehrstuhl für Mediävistik der Central European University, Budapest. Seit 2002 Vertreterin Ungarns in der Internationalen Kommission für Stadtgeschichte, seit 2006 Ausschussmitglied, Herausgeberin der in Vorbereitung stehenden ungarischen Städteatlanten. Auswahlbibliografie: Medieval Archaeology and Urban History in some European Countries. In: Urban History. The Norwegian Tradition in a European Context, ed. Steinar Supphellen (Trondheim Studies in History No. 25), Trondheim 1998, 111–132. – Otthon a városban. társadalom és anyagi kultúra a középkori Sopronban, Pozsonyban és Eperjesen. [Zu Hause in der Stadt. Gesellschaft und materielle Kultur im spätmittelalterlichen Ödenburg, Pressburg und Eperjes] (Társadalom- és Müvelödéstörténeti Tanulmányok 32) Budapest: MTA Történettudományi Intézete, 2004. – Hospitals in Medieval and Early Modern Hungary. In: Martin Scheutz/Andrea Sommerlechner/ Herwig Weigl/Alfred Stefan Weiß (Hg.), Europäisches Spitalwesen. Institutionelle Fürsorge in Mittelalter und Früher Neuzeit. Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsband 51. Wien/München 2008, 409–454. (zus. m. Judit Majorossy) – Integration through Language. The Multilingual Character of Late Medieval Hungarian Towns. In: Derek Keene/Balázs Nagy/Katalin Szende (Hg.), Segregation – Integration – Assimilation. Religious and Ethnic Groups in the Medieval Towns of Central and Eastern Europe. Farnham 2009, 205–234. Adresse: Central European University, Department of Medieval Studies, Nádor u. 9, H-1051 Budapest. szendek@ceu.hu. Autorenverzeichnis 1969–1978 Studium der Allgemeinen Geschichte, Schweizergeschichte, Ur- und Frühgeschichte und Volkskunde an der Universität Basel. 1979 Promotion mit einer archäologischen Arbeit über Herd und Ofen im Mittelalter. Seit 1971 Arbeit am Kantonsmuseum und bei der Kantonsarchäologie Baselland. 1979–1995 Co-Leitung des Amtes für Museen und Archäologie BL. 1995–2009 Leiter der Hauptabteilung Archäologie und Kantonsmuseum des Amtes für Kultur, gleichzeitig Kantonsarchäologe. Auswahlbibliografie: Aspekte zu Möglichkeiten und Grenzen einer Archäologie des Mittelalters. In: Jürg Tauber (Hg.), Methoden und Perspektiven der Archäologie des Mittelalters (Archäologie und Museum 20), Liestal 1991, 7–30. – Archäologie und Geschichte. Zur Frage der Rolle von Königtum und Hochadel in der mittelalterlichen Siedlungsgeschichte der Nordwestschweiz. In: Michael Schmaedecke (Bearb.), Ländliche Siedlungen zwischen Spätantike und Mittelalter (Archäologie und Museum 33), Liestal 1995, 57–67. – Archäologische Funde und ihre Interpretation. In: Realienforschung und historische Quellen. Ein Symposium im Staatlichen Museum für Naturkunde und Vorgeschichte Oldenburg vom 30. Juni bis zum 1. Juli 1995. Festschrift für Helmut Ottenjahn (Archäologische Mitteilungen aus Nordwestdeutschland, Beiheft 15), Oldenburg 1996, 171–188. – Beharrung und Wandel im Siedlungsbild der Nordwestschweiz von der Spätantike bis zur Frühen Neuzeit. In: Siedlungsforschung. Archäologie – Geschichte – Geographie 17 (1999), 161–180. – Im Zeichen der Kirche. Das frühe Bistum Basel. Archäologie und Geschichte. In: Jean-Claude Rebetez (Hg.), Pro Deo. Das Bistum Basel vom 4. bis ins 16. jahrhundert, Delsberg 2006, 29–87 (zus. m. Reto Marti). Adresse: Hauptabteilung Archäologie und Museum, Amtshausgasse 7, CH-4410 Liestal. juerg.tauber@magnet.ch. Kathrin Utz Tremp, PD Dr. phil., Historikerin. Geb. 1950. 1969–1976 Studium der Mittelalterlichen Geschichte an den Universitäten Bern, München, Lausanne und Freiburg. 1982 Promotion in Freiburg mit einer Arbeit über das Kollegiatstift St. Vinzenz in Bern. 1991–1995 Oberassistentin am historischen Institut der Universität Lausanne. Seit 2000 Privatdozentin in Lausanne. Seit 1999 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Staatsarchiv Freiburg. Auswahlbibliografie: Das Kollegiatstift St. Vinzenz in Bern. Von der Gründung 1484/85 bis zur Aufhebung 1528 (Archiv des historischen Vereins des Kantons Bern 67), Bern 1985. – Quellen zur Geschichte der Waldenser von Freiburg im Üchtland (Monumenta Germaniae Historica, Quellen zur Geistesgeschichte des Mittelalters 18). – Inquisition et sorcellerie en Suisse romande. Le registre Ac 29 des Archives cantonales vaudoises (Cahiers lausannois d’histoire médiévale 41), Lausanne 2007 (zus. m. Martine Ostorero). – Von der Häresie zur Hexerei. Wirkliche und imaginäre Sekten im Spätmittelalter (Monumenta Germaniae Historica, Schriften), Hannover 2008. Adresse: rue Joseph-Reichlen 8, 1700 Fribourg. utztrempk@fr.ch. Jürg Tauber, Dr. phil., Historiker und Archäologe. Geb. 1949. Buch SKAM 36.indd 230 14.11.2009 14:55:13 Uhr 231 Schweizer Beiträge zur Kulturgeschichte und Archäologie des Mittelalters (SBKAM) Band 1, 1974 Werner Meyer, Alt-Wartburg im Kanton Aargau. Band 2, 1975 (vergriffen) Jürg Ewald (u. a.), Die Burgruine Scheidegg bei Gelterkinden. Band 3, 1976 (vergriffen) Werner Meyer (u. a.), Das Castel Grande in Bellinzona. Band 4, 1977 (vergriffen) Maria-Letizia Boscardin, Werner Meyer, Burgenforschung in Graubünden, Die Grottenburg Fracstein und ihre Ritzzeichnungen. Die Ausgrabungen der Burg Schiedberg. Band 11, 1984 Werner Meyer (u. a.), Die bösen Türnli. Archäologische Beiträge zur Burgenforschung in der Urschweiz. Band 12, 1986 (vergriffen) Lukas Högl (u. a.), Burgen im Fels. Eine Untersuchung der mittelalterlichen Höhlen-, Grotten- und Balmburgen in der Schweiz. Band 13, 1987 Dorothee Rippmann (u. a.), Basel Barfüsserkirche. Grabungen 1975–1977. Band 14/15, 1988 Peter Degen (u. a.), Die Grottenburg Riedfluh Eptingen BL. Band 5, 1978 (vergriffen) Burgen aus Holz und Stein, Burgenkundliches Kolloquium Basel 1977 – 50 Jahre Schweizerischer Burgenverein. Beiträge von Walter Janssen, Werner Meyer, Olaf Olsen, Jacques Renaud, Hugo Schneider, Karl W. Struwe. Band 16, 1989 (vergriffen) Werner Meyer (u. a.), Die Frohburg. Ausgrabungen 1973– 1977. Band 6, 1979 (vergriffen) Hugo Schneider, Die Burgruine Alt-Regensberg im Kanton Zürich. Band 17, 1991 Pfostenbau und Grubenhaus – Zwei frühe Burgplätze in der Schweiz. Hugo Schneider, Stammheimerberg ZH. Bericht über die Forschungen 1974–1977. Werner Meyer, Salbüel LU. Bericht über die Forschungen von 1982. Band 7, 1980 (vergriffen) Jürg Tauber, Herd und Ofen im Mittelalter. Untersuchungen zur Kulturgeschichte am archäologischen Material vornehmlich der Nordwestschweiz (9.–14. Jahrhundert). Band 8, 1981 (vergriffen) Die Grafen von Kyburg. Tagung 1980 in Winterthur. Band 9/10, 1982 Jürg Schneider (u. a.), Der Münsterhof in Zürich. Bericht über die vom städtischen Büro für Archäologie durchgeführten Stadtkernforschungen 1977/78. Buch SKAM 36.indd 231 Band 18/19, 1992 Jürg Manser (u. a.), Richtstätte und Wasenplatz in Emmenbrücke (16.–19. Jahrhundert). Archäologische und historische Untersuchungen zur Geschichte von Strafrechtspflege und Tierhaltung in Luzern. Band 20/21, 1993/94 Georges Descœudres (u. a.), Sterben in Schwyz. Berharrung und Wandel im Totenbrauchtum einer ländlichen Siedlung vom Spätmittelalter bis in die Neuzeit. Geschichte – Archäologie – Anthropologie. 14.11.2009 14:55:13 Uhr 232 Band 22, 1995 Daniel Reicke, «von starken und grossen flüejen». Eine Untersuchung zu Megalith- und Buckelquader-Mauerwerk an Burgtürmen im Gebiet zwischen Alpen und Rhein. Band 23/24, 1996/97 Werner Meyer (u. a.), Heidenhüttli. 25 Jahre archäologische Wüstungsforschung im schweizerischen Alpenraum. Band 25, l998 Christian Bader, Burgruine Wulp bei Küsnacht ZH. Band 26, 1999 Bernd Zimmermann, Mittelalterliche Geschossspitzen. Typologie – Chronologie – Metallurgie. Band 27, 2000 Thomas Bitterli/Daniel Grütter, Burg Alt-Wädenswil. Vom Freiherrenturm zur Ordensburg. Band 28, 2001 Burg Zug. Archäologie – Baugeschichte – Restaurierung. Band 29, 2002 Wider das «finstere Mittelalter» – Festschrift Werner Meyer zum 65. Geburtstag. Band 30, 2003 Armand Baeriswyl, Stadt, Vorstadt und Stadterweiterung im Mittelalter. Archäologische und historische Studien zum Wachstum der drei Zähringerstädte Burgdorf, Bern und Freiburg im Breisgau. Buch SKAM 36.indd 232 Band 31, 2004 Gesicherte Ruine oder ruinierte Burg? Erhalten – Instandstellen – Nutzen. Band 32, 2005 Jakob Obrecht/Christoph Reding/Achilles Weishaupt, Burgen in Appenzell. Ein historischer Überblick und Berichte zu den archäologischen Ausgrabungen auf Schönenbühl und Clanx. Band 33, 2006 Reto Dubler/Christine Keller/Markus Stromer/Renata Windler, Vom Dübelstein zur Waldmannsburg. Adelssitz, Gedächtnisort und Forschungsprojekt. Band 34, 2007 Georges Descœudres, Herrenhäuser aus Holz. Eine mittelalterliche Wohnbaugruppe in der Innerschweiz. Band 35, 2008 Thomas Reitmaier, Vorindustrielle Lastsegelschiffe in der Schweiz. Band 36, 2009 Armand Baeriswyl/Georges Descœudres/Martina Stercken/Dölf Wild (Hg.), Die mittelalterliche Stadt erforschen – Archäologie und Geschichte im Dialog. Beiträge der Tagung «Geschichte und Archäologie: Disziplinäre Interferenzen» vom 7. bis 9. Februar 2008 in Zürich. 14.11.2009 14:55:13 Uhr