Schweizer Beiträge
zur Kulturgeschichte
und Archäologie des Mittelalters
Herausgegeben
vom Schweizerischen Burgenverein
Band 36
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Die mittelalterliche Stadt erforschen –
Archäologie und Geschichte im Dialog
Beiträge der Tagung «Geschichte und Archäologie: Disziplinäre Interferenzen»
vom 7. bis 9. Februar 2008 in Zürich
Herausgegeben von Armand Baeriswyl, Georges Descœudres, Martina Stercken und Dölf Wild
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Der vorliegende Band wurde publiziert mit
Unterstützung durch:
– Archäologie Baselland
– Archäologische Bodenforschung
des Kantons Basel-Stadt
– Archäologischer Dienst des Kantons Bern
– Archäologischer Dienst des Kantons Freiburg
– Hochschulstiftung der Universität Zürich
– Kantonsarchäologie Zug
– Schweizerischer Arbeitskreis für Stadtgeschichte
– Stadtarchäologie Zürich
Redaktion
Armand Baeriswyl
Barbara Seidel
Lektorat
Elisabeth Anliker, Barbara Seidel
Grafische Gestaltung und Satz
Katina Anliker, Bern
Umschlaggestaltung
Katina Anliker, Armand Baeriswyl
Druck
Stämpfli AG, Bern
Alle Rechte vorbehalten
© Schweizerischer Burgerverein, Basel 2009
ISBN: 978-3-908182-20-7
ISSN: 1661-4550
Umschlag: Bern, Gerechtigkeitsgasse, der erste Stadtbach der Zeit um 1200 (vgl. Beitrag Baeriswyl und Gerber, Abb. 9),
kombiniert mit einigen Zeilen aus der Cronica de Berno (ältester erhaltener Text zur Geschichte Berns, entstanden zwischen 1325 und 1344; Burgerbibliothek Mss.h.h. I.37, 202f.)
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Inhalt
Armand Baeriswyl
Vorwort
7
Martina Stercken und Georges Descœudres
Einführung
8
Armand Baeriswyl und Roland Gerber
Unterschiedliche Quellen, ein Ziel
Das Projekt einer interdisziplinären Häuserdatenbank der Stadt Bern
als Beispiel für eine engere Zusammenarbeit zwischen Archäologie und Geschichte
11
Adriano Boschetti-Maradi
Archäologie und Bauforschung in der Kleinstadt
Methodische Möglichkeiten und Grenzen
21
Gilles Bourgarel
L’image de Fribourg en 1200: entre vue de l’esprit et réalité
35
Geoff Carver
History and archaeology, the history of archaeology,
and the archaeology of archaeology
43
Georges Descœudres
Archäologie und Geschichte
Unterschiedliche Überlieferung – unterschiedliche Wirklichkeit?
53
Sören Frommer
Die Realität im Blick
Objektorientierung in den Geschichtswissenschaften
61
François Guex
Villam que vocatur Friburg
71
Karsten Igel
Die Entdeckung des Platzes
Die Entstehung und Gestaltung kommunaler Plätze – Methoden ihrer Erforschung
79
Michaela Jansen
Gegründet & geplant
Hochmittelalterliche Stadtgründungen – die vielseitigen Facetten eines Begriffpaares
89
Bertram Jenisch
Archäologischer Stadtkataster Offenburg
Synthese topographischer Befunde aus Archäologie, Schriftquellen
und historischen Karten
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99
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Gerson H. Jeute
Interferenzen bei der Erforschung städtischer Handwerks- und
Sozialtopographien am Beispiel der Doppelstadt Brandenburg an der Havel
111
Clemens Joos und Frank Löbbecke
Form und Funktion
Historische und bauarchäologische Untersuchungen
zum Münsterchor in Freiburg im Breisgau
127
Ulrich Klein
Unterschiedliche Geschichte?
Zur Forschungsgeschichte eines andauernden Phänomens
139
Christoph Philipp Matt
Welche Stadtmauer und wenn ja – wo?
Irrungen und Wirrungen im Basler Stadtmauerwesen
151
Darja Miheli
Das Zusammentreffen von Geschichte und Archäologie
Methodologische Überlegungen zum Verhältnis Geschichte – Archäologie
165
Isabelle Schürch
Der Berner Münsterbau
Das St. Vinzenzen-Schuldbuch von 1448 bietet Einblicke in den finanziellen,
wirtschaftlichen und konkret materiellen Alltag des Münsterbaus
173
Martina Stercken und Lotti Frascoli
Hülle als Konzept
Konstruktion und Rekonstruktion von Stadtbildern
181
Katalin Szende
Geschichte und Archäologie bei der Erforschung der
mittelalterlichen Stadtentwicklung in Ungarn
Die Ebenen der Zusammenarbeit am Beispiel von Budapest
193
Jürg Tauber
Liestal – Annäherung an die Entstehung einer Kleinstadt
203
Kathrin Utz Tremp
Die bernischen Dominikaner und die totgeborenen Kinder von Oberbüren
Beispiele für gelungene Zusammenarbeit zwischen Geschichte und Archäologie
215
Autorenverzeichnis
225
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Vorwort
7
Vorwort
Die Erforschung von mittelalterlichen Städten war lange
Zeit Domäne von Historikern und Kunsthistorikern. Erst
nach dem Zweiten Weltkrieg setzten, zuerst nur zögernd,
entsprechende Forschungen mit archäologischen Methoden ein. In der Schweiz begann der eigentliche Aufschwung einer Archäologie des Mittelalters in den Städten
in den 1970er Jahren. Obwohl schnell klar wurde, dass die
Archäologie nicht nur neue Quellen zur Beantwortung
historischer Fragen liefern kann, sondern darüber hinaus
völlig neue Aspekte der Vergangenheit erschliesst, die in
der schriftlichen Überlieferung weitgehend fehlen und
so zur Erweiterung unseres Wissens um die Vergangenheit beiträgt, ist das Verhältnis zwischen Historikern und
Archäologen bis heute nicht konfliktfrei, die interdisziplinäre Zusammenarbeit nicht selbstverständlich.
Dieser Zusammenarbeit – der vorhandenen wie der fehlenden – ist der vorliegende Band gewidmet. Es handelt
sich um die Beiträge einer internationalen Fachtagung,
die vom 7. bis 9. Februar 2008 unter dem Titel «Geschichte und Archäologie: Disziplinäre Interferenzen» auf dem
Zürcher Lindenhof stattfand. Die Idee einer interdisziplinären und internationalen Tagung, auf der Archäologen,
Bauforscher, Historiker und Kunstgeschichtler über das
Verhältnis von Geschichte und Archäologie diskutieren
und debattieren können, wurde im Vorstand des Schweizerischen Arbeitskreises für Stadtgeschichte (SAfS) geboren. Geplant und durchgeführt wurde die Tagung dann
vom SAfS in Zusammenarbeit mit dem Lehrstuhl für
Archäologie und Kunstgeschichte des Mittelalters am
Kunsthistorischen Institut der Universität Zürich sowie
mit der Stadtarchäologie Zürich. Federführend waren
vonseiten des SAfS dessen Präsidentin PD Dr. Martina
Stercken und das Vorstandsmitglied Dr. Armand Baeriswyl, vonseiten der Universität Zürich der Lehrstuhlinhaber Prof. Dr. Georges Descœudres und vonseiten
der Stadtarchäologie Dr. Dölf Wild. An der Tagung, die
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im stilechten Versammlungssaal der Zürcher Freimaurer
auf dem geschichtsträchtigen Lindenhof stattfand, versammelten sich rund 50 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus acht Nationen, darunter glücklicherweise
sehr viele Nachwuchskräfte. Die fruchtbaren und teilweise sehr engagierten Diskussionen erstreckten sich bis tief
in die Nachtstunden hinein. Von Anfang an war vorgesehen, die Beiträge zu publizieren.
Erfreulicherweise erklärte sich der Schweizerische Burgenverein dazu bereit, die Ergebnisse dieser Tagung in seine
Reihe «Schweizer Beiträge zur Kulturgeschichte und
Archäologe des Mittelalters» aufzunehmen. Der Schweizerische Burgenverein gehörte zu den Vorreitern einer
interdisziplinär angelegten Mittelalterarchäologie, als er
1974 diese Jahrbuchreihe begründete. In inzwischen über
30 Bänden stellten Historiker und Archäologen Ergebnisse ihrer Forschungen in Burgen, Städten, Dörfern und
sogar in Seen vor und bewiesen so den Nutzen, ja die
Notwendigkeit interdisziplinärer Zusammenarbeit.
Allen, die am Zustandekommen des Bandes beteiligt
waren, möchten wir unseren herzlichen Dank aussprechen: Zuerst sei hier der Vorstand des Schweizerischen
Burgenvereins genannt. In den Händen von Barbara Seidel lag die redaktionelle Betreuung; sie zeichnet zusammen mit Katina Anliker auch für die Gestaltung. Herzlichen Dank auch ihnen! Zum Erscheinen des Bandes hat
nicht zuletzt die grosszügige finanzielle Unterstützung
der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften, der Hochschulstiftung der Universität
Zürich, des Schweizerischen Arbeitskreises für Stadtgeschichte, der Kantonsarchäologien Baselland, Basel-Stadt,
Bern, Freiburg und Zug sowie der Stadtarchäologie Zürich
beigetragen; ihnen gilt unser besonderer Dank.
Für die Herausgeber: Armand Baeriswyl
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8
Einführung
Martina Stercken und Georges Descœudres
Einführung
Geschichte und Archäologie haben beide die wissenschaftliche Erforschung vergangener Kulturen, Strukturen, Entwicklungen, Ereignisse und Zustände zum Ziel. Obwohl
sich damit auch die Archäologie – zumal die Archäologie
des Mittelalters und der Neuzeit, die hier im Vordergrund
steht – als eine historische Wissenschaft versteht, werden
die Voraussetzungen einer fruchtbaren Zusammenarbeit
zwischen Archäologen und Historikern nicht immer angemessen überdacht. Dies hat zum Teil mit der Entwicklung
der beiden Disziplinen zu tun: Während die Geschichtswissenschaft in den vergangenen Jahrzehnten durch eine
Vielfalt von turns neu orientiert wurde, die sowohl neue
Fragestellungen wie auch neue Methoden im Umgang
mit schriftlicher und bildlicher Überlieferung mit sich
gebracht haben, ist die Mittelalterarchäologie, die zwar
an Universitäten, in zuständigen Ämtern und in Gesellschaften etabliert, aber vergleichsweise jung ist, gerade
dabei, ihre spezifische Methodik zu diskutieren, die zwischen technischer Bedingtheit und historischen Fragestellungen oszilliert. Hinzu kommt, dass – ungeachtet
gelungener gemeinsamer Projekte – der Dialog und damit
auch der wissenschaftliche Erkenntnisfortschritt immer
wieder von gegenseitigen Irritationen beeinträchtigt ist:
Wird den Historikern üblicherweise eine Fixierung auf
Schriftquellen und die Vernachlässigung von archäologischen Funden und Befunden als Teil historischer Argumentation angekreidet, so werden Archäologen vielfach
eines methodisches Defizits im Umgang mit den auch für
sie relevanten Schriftquellen wie auch einer für Aussenstehende oftmals schwer verständlichen Form der Präsentation ihrer Ergebnisse bezichtigt.
Um über Möglichkeiten und methodische Prämissen der Zusammenarbeit zwischen den beiden
historischen Disziplinen erneut nachzudenken, hat der
Schweizerische Arbeitskreis für Stadtgeschichte (SAfS)
in Zusammenarbeit mit dem Lehrstuhl für Archäologie und Kunstgeschichte des Mittelalters am Kunsthistorischen Institut der Universität Zürich sowie mit der
Stadtarchäologie Zürich – und dankenswerterweise finanziell unterstützt durch die Schweizerische Akademie der
Geistes- und Sozialwissenschaften, die Hochschulstiftung
an der Universität Zürich und den SAfS – eine Tagung
veranstaltet, die vom 7. bis 9. Februar 2008 auf dem Zür-
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cher Lindenhof stattfand. Unter dem Titel «Geschichte
und Archäologie: disziplinäre Interferenzen» haben sich
eine Vielzahl von Archäologen und Historikern aus acht
Nationen mit dem Ziel zusammengefunden, um ins
Gespräch zu kommen: über die unterschiedlichen Formen und Techniken der Erschliessung von Schrift- und
Bildquellen sowie des Bodens und aufgehenden Mauerwerks, über die Abhängigkeiten der Interpretation von
politischen Vorgaben und fachlichen Konzepten, über
Zirkelschlüsse, die von überholten Erkenntnissen der
jeweils anderen Disziplin ausgehen und sich zu perpetuieren scheinen, über die Historiker und ihren Hang
zu diskursiven Äusserungen und die Archäologen, die
eingängige Bilder historischer Situationen produzieren,
deren Herstellung notwendig eine Zerstörung der (zuvor
dokumentierten) örtlichen Verhältnisse bedeutet.
Ausgangspunkt für die gemeinsame Arbeit waren
die Wechselbeziehungen zwischen Geschichtsforschung
und Archäologie und das Ineinandergreifen historischer
und archäologischer Methoden im Umgang mit der
mittelalterlichen Stadt, für die beide Disziplinen immer
wieder unterschiedlich geartete Raumbilder entwerfen.
Gerade dort anzusetzen, erschien vor allem vor dem
Hintergrund der neuerlichen Diskussionen um die mittelalterliche Stadtplanung in den vergangenen Jahren
vielversprechend. Denn in der Auseinandersetzung mit
technizistischen Vorstellungen von komplexen historischen Prozessen wurde allen, die in der Siedlungsforschung engagiert sind, einmal mehr vor Augen geführt,
wie notwendig es ist, über die Grenzen des eigenen Fachs
hinauszublicken und die Vielfalt an Ergebnissen, Befunden und methodischen Prämissen in Betracht zu ziehen,
die von den beiden Disziplinen vorgelegt worden sind.
Die Beiträge der Zürcher Tagung, die in der vorliegenden Aufsatzsammlung vereinigt sind, befassen sich
mit Grundproblemen interdisziplinärer Zusammenarbeit, indem sie zum einen Bauuntersuchungen in kleinräumigen Kontexten, kleinstädtische Verhältnisse und
schliesslich auch das heute wieder aktuelle Thema der
Gründungsstädte in den Blick nehmen und zum anderen
den Versuch unternehmen, die vielfältigen heterogenen
Einzelbefunde zu synthetisieren und methodisch-theoretische Grundlagen für eine fruchtbare Zusammenarbeit
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Einführung
zu umreissen. Eingeleitet werden die Beiträge mit Überlegungen von Archäologen und Historikern zu einigen
wesentlichen, an der Tagung und in einzelnen Beiträgen
aufgezeigten Aspekten der disziplinären Interferenzen
von Geschichte und Archäologie, die – ohne Anspruch
auf Vollständigkeit – ein Spektrum von Möglichkeiten
und Chancen aufzuzeigen versuchen, wo sich Geschichte
und Archäologie ertragbringend ergänzen könnten.
Diese Einführungen umreissen einige Grundprobleme im interdisziplinären Umgang mit der Stadt: Sie
weisen darauf hin, wie sehr die Interpretation von Befunden wie auch die Rekonstruktion bestimmter Sachverhalte
an fachliche Traditionen und Umfelder der Forschung
von Geschichtswissenschaft und Archäologie gebunden
sind. Der unterschiedliche Fokus manifestiert sich allein
schon im Umgang mit dem Begriff der Stadt, die in den
Geschichtswissenschaften als vielgestaltiges, durch unterschiedliche Eigenschaften charakterisiertes Phänomen, in
der Archäologie indes vor allem als Artefakt, bauliches
Gebilde und räumliche Einheit betrachtet wird. Er wird
aber auch dann fassbar, wenn es um die Einordnung von
Beobachtungen und Funden geht, die in den Geschichtswissenschaften von tradierten funktionalen und zeitlichen Angaben ausgehen kann, in der Archäologie aber
auf Stratigraphien, also zeitlich gestuften Ablagerungen
beruht.
Grundsätzlichere Überlegungen gelten auch dem
jeweils spezifischen disziplinären Umgang mit den verschiedenartigen Quellen zur Stadtgeschichte, die in
Sammlungen dokumentiert, in Archiven aufbewahrt oder
im Boden und als bestehende Bauwerke erhalten sind.
Nicht nur ist eine Zusammenarbeit unabdingbar, wenn
es darum geht, Fragen um Funktionen, Datierungen
und Bedeutungen zu klären, die auf der Grundlage der
gewohnten fachlichen Quellenbasis allein nicht angemes-
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9
sen beantwortet werden können. Denn die Voraussetzungen für die Arbeit von Historikern und Archäologen
und ihr jeweiliger Umgang sowohl mit der historischen
Überlieferung wie auch mit deren Interpretation sind
unterschiedlicher Natur. Zwar bedarf es immer angemessener Übersetzungsvorgänge, um historische Überlieferung für spezifische Fragestellungen fruchtbar zu machen.
Anders als in der historischen Auseinandersetzung verlangen die vielfach wenig elaborierten, nicht unmittelbar lesbaren Sachquellen der Archäologen notwendig
besondere Erklärungskontexte, die zudem verschiedene
mediale Formen der Präsentation, nämlich Texte, Bilder
und Pläne, erfordern. Gerade in diesem Zusammenhang
erweist sich die archäologische Forschung in stärkerem
Ausmass abhängig von der jeweiligen dokumentarischen
Aufbereitung lokaler Untersuchungen.
Ebenso wesentlich erscheint es, intensiver ins
Gespräch zu kommen über die methodischen Entwicklungen innerhalb der einzelnen Disziplinen und deren
Konsequenzen im Umgang mit Schrift-, Bild- und Sachgut. Dies gilt im Hinblick auf die neuen Herangehensweisen der Geschichtswissenschaften an die schriftliche
und bildliche Überlieferung, die nicht mehr allein auf
den Informationsgehalt, sondern auch auf Materialität,
Herstellungs- und Gebrauchskontexte ausgerichtet sind.
Dies gilt aber auch hinsichtlich der neueren methodischen Ansätze in der Mittelalterarchäologie, die nicht
nur immer differenziertere Untersuchungsmethoden und
Rekonstruktionsversuche entwickeln, sondern auch die
Aussagekraft ihrer Sachquellen zunehmend reflektieren.
Gerade diese Annäherung der Disziplinen in der Auseinandersetzung mit dem medialen Charakter historischer
Tradition könnte einen neuen interdiziplinären Dialog
über stadtgeschichtliche Phänomene und Entwicklungen
stimulieren.
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Unterschiedliche Quellen, ein Ziel
11
Armand Baeriswyl und Roland Gerber
Unterschiedliche Quellen, ein Ziel
Das Projekt einer interdisziplinären Häuserdatenbank der Stadt Bern als Beispiel
für eine engere Zusammenarbeit zwischen Archäologie und Geschichte
1. Einleitung
«Die Geschichtswissenschaft arbeitet daran, eine gesicherte Wissensbasis über die Vergangenheit herzustellen
… Sie ermittelt aus den Zeugnissen der Vergangenheit
politische Ereignisse, gesellschaftliche, wirtschaftliche
und religiöse Zustände in einer bestimmten Region
und für einen bestimmten Zeitraum.»1
Definieren diese Sätze nur die Arbeit der Historiker oder
nicht auch diejenige der Archäologen? Die Antwort ist
klar: Aber natürlich! Die Archäologie wie die klassische
Geschichtsforschung sind historische Wissenschaften. Beide versuchen, die Vergangenheit zu rekonstruieren, und sie
stützen sich beide dabei auf Zeugnissen der Vergangenheit
– auf die Quellen.2
Was sich aber unterscheidet, sind erstens die Materialität, Erscheinungsformen und Zeichenhaftigkeit von
Schrift- und Sachquellen sowie zweitens die Überlieferungssituation, Aussagekraft und Gebrauchszusammenhänge
von Schrifttum und Sachgut. In einem entscheidenden
Punkt treffen sie die beiden Disziplinen aber wieder: Nämlich im grundlegend identischen Umgang mit den Quellen, mit der Anwendung der Quellenkritik.3 Quellenkritik
heisst, die Möglichkeiten und die Grenzen der jeweiligen
Quellen zu kennen – und zwar nicht nur derjenigen der
eigenen Disziplin. Eine erfolgreiche Zusammenarbeit von
Historikern und Archäologen setzt voraus, dass man sich
der Unterschiede wie der Gemeinsamkeiten bewusst ist.
Im Folgenden soll an einem Beispiel eines – bisher
nur angedachten – gemeinsamen Projektes gezeigt werden,
was mit diesen unterschiedlichen Quellen und mit der notwendigen Quellenkritik gemeint ist und wie unter Berücksichtigung dieser Punkte eine fruchtbare interdisziplinäre
Zusammenarbeit möglich wäre. Wir wollen Ihnen das
Projekt einer historischen Häuserdatenbank der Stadt Bern
vorstellen. Sein Ziel soll sein, Bildquellen, hausgeschichtliche Informationen aus handschriftlichen Quellen sowie
archäologische Sach- und Baureste unter wie über dem
Boden auf der Basis von einzelnen, topografisch fixierten
Hausplätzen von der Gegenwart bis ins 14. Jahrhundert
zurück zu verknüpfen. Diese Häuserdatenbank soll dabei
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die neuen digitalen Medien nutzen, und zwar nicht nur in
Bezug auf die Eingabe; sondern es soll darüber hinaus im
Sinne des Schlagwortes vom «Visual Turn» der freie Zugang
zu den gesammelten Daten auf dem Internet sichergestellt
werden.
2. Die Sicht des Historikers
Bereits im Jahre 1875 äusserte Karl Howald den Wunsch,
aufgrund des in den städtischen Archiven überlieferten
Schriftquellenmaterials eine topografische Geschichte der
Stadt Bern zu verfassen. Im achten Band der Archivreihe
des historischen Vereins schreibt er dazu:
«Eine nach vorhandenen urkundlichen Quellen
bearbeitete topographische Geschichte der Stadt Bern
und ihrer Umgebungen, wie sie Zürich, Basel, Genf und
viele andere Schweizerstädte längst besitzen, vermögen wir
Berner nicht aufzuweisen. Es ist daher gewiss berechtigt,
wenn der historische Verein schon zu wiederholten Malen
den Wunsch ausgesprochen hat, es möchte sich doch
Jemand die Topographie des alten Berns zur Aufgabe stellen. Über das Zweckmässige und Lohnende eines solchen
literarischen Unternehmens, welches den Leser anhand
zuverlässiger Quellen und Nachrichten mit dem alten Bern
auf vertrauten Fuss zu setzen hätte, ihn gleichsam veranlassend mit vollkommener Kenntnis des Terrains einen Gang
durch die alte Stadt zu wagen, herrscht kein Zweifel».4
Als urkundliche Hauptquellen einer topografischen
Geschichte Berns nennt Howald folgende Schrift- und
Bildquellen:
– Das älteste Udelbuch, welches beinahe ein Jahrhundert
lang – ungefähr von 1389 bis 1466 – Veränderungen
in Bezug auf udelpflichtigen Grundbesitz in der Stadt
notiert;5
1
2
3
4
5
Borowsky/Vogel/Wunder 1980, 12.
Borowsky/Vogel/Wunder 1980, 120–176; Theuerkauf 1991; Eggert 2005.
Eggert 2006, 100–121.
Howald 1872–75, 150f.
In der spätmittelalterlichen Stadt Bern musste jeder neue Bürger ein so genanntes Udel, das heisst, einen rechtsverbindlichen Besitzanteil an einer
städtischen Liegenschaft erwerben. Mit diesem Anteil hafteten die Bürger gegenüber dem Rat für die Erfüllung der geschworenen Bürgerpflichten wie der
Steuer- und Wehrpflicht. Gerber 2001, 33–37.
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12
Abb. 1 Ausschnitt aus dem Berner Udelbuch von 1389: Schowlantsgasse (heutige Schauplatzgasse) mit topografischer Auflistung verschiedener «Häuserkonten», beginnend mit dem Eckhaus (domus) des Hensli von Zollikofen.
– das zweite mit prächtigen Initialen ausgeschmückte
Udelbuch von 1466;
– die Tellbücher von 1389, 1448, 1458, 1494 und 1556;
– die Jahrzeitbücher, Urbarien, Stiftungs- und Vergabungsdokumente namentlich der geistlichen Korporationen und Spitäler;
– die Rats- und Vennermanuale, Bauamtsbücher und
dergleichen;
– die Stadtchroniken;
– Plandokumente wie Zehntpläne, Fortifikationsprojekte, Bau- und Umbaupläne aller Art und ähnliches;
– Stadtansichten, vor allem die Planvedute des Gregorius
Sickinger, entstanden zwischen 1603 und 1607;
– die topografischen Beschreibungen der Stadt Bern von
Johann Rudolf Gruner, erschienen 1732,6 und von Karl
Jakob Durheim, gedruckt 1859.7
Unterschiedliche Quellen, ein Ziel
dung 1191 bis 1390 in den Fontes Rerum Bernensium8
ediert, und sämtliche Urkunden des Berner Staatsarchivs
können als Regesten übers Internet abgerufen werden.9
Ausserdem fanden Topografie, Stadtgestalt und Einzelbauten in der Reihe der Schweizerischen Kunstdenkmäler
– die Stadtberner Bände erschienen zwischen 1947 und
1969 – reiche Erläuterungen. Diese widerspiegeln jedoch
in keiner Weise den aktuellen Forschungsstand und sind
auch nicht vollständig.10 Seit 1978 beschäftigen sich vor
allem die städtische Denkmalpflege und seit 1974 bzw.
1984 der archäologische Dienst von Amtes wegen mit dem
baulichen Bestand der Altstadt. Beide Dienststellen führen
entsprechende Hinweisinventare und Datensammlungen
unterschiedlicher Qualität über Gebäude, in denen sie in
irgendeiner Form tätig waren. Eine systematische Zusammenstellung historischer Informationen zu einzelnen
Altstadtgebäuden, wie sie der Stadtgeschichtsforschung
anderswo seit langem zur Verfügung steht, sucht man in
Bern hingegen nach wie vor vergeblich.
Was unterscheidet Bern nun von anderen Städten
wie Basel und Zürich, in denen bereits im 19. Jahrhundert
umfangreiche Dokumentationen zu einzelnen Häusern
und Gassen angelegt wurden? Das Interesse der bernischen
Historiografie an solchen «Häuserdokumentationen» war
ja – wie die Ausführungen Howalds beweisen – durchaus
vorhanden. Zudem zeigen die Publikationen des Berner
Staatsarchivars Heinrich Türler (1861–1933) über die Topografie der Kreuzgasse sowie über die obere Junkern- und
Gerechtigkeitsgasse, welch detaillierte Informationen zu
Bürgerhäusern und ihren Besitzern sich aus Berner Schriftquellen gewinnen lassen.11 Von einer spezifischen Quellenarmut in Bezug auf hausgeschichtliche Nachrichten
kann in Bern daher ebenfalls nicht gesprochen werden. Im
Gegenteil! Die urkundliche Überlieferung Berns aus der
Zeit vor der Reformation ist nicht schlechter als in anderen
grösseren schweizerischen Städten. Bei der Durchsicht von
insgesamt 2500 Urkunden, die in den Fontes Rerum Bernensium12 ediert sind und in deren Zeugenreihen Berner
Bürger genannt werden, konnten rund 300 Urkunden
ermittelt werden, die – wenn auch zum Teil nur rudimentäre – Angaben über städtischen Hausbesitz enthalten.
6
Heute, 130 Jahre nach dem Erscheinen des Aufsatzes von
Karl Howald bildet die von ihm geforderte bernische Topografie immer noch ein Desiderat. Zwar wurden unterdessen die wichtigsten Urkundenbestände von der Stadtgrün-
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7
8
9
10
11
12
Gruner 1732.
Durheim 1859.
FRB 1883–1956.
Ausserdem ist ein Online-Zugang in Planung.
KDM BE 1–KDM BE 5.
Türler 1892; Türler 1899; Türler 1900.
FRB 1883–1956.
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Unterschiedliche Quellen, ein Ziel
Das heisst, in durchschnittlich jeder zehnten Urkunde,
die von Berner Bürgern im 14. Jahrhundert ausgestellt
oder bezeugt wurden, finden sich Nachrichten über Lage
und Besitzer von Stadthäusern.
Nur vereinzelt überliefert sind jedoch private Kaufverträge oder Vergabungen von Hauszinsen und Grundstücken an geistliche Institutionen. Neben der Zerstörung
einzelner klösterlicher Urkundenbestände während der
Reformation dürfte vor allem das vom Berner Rat bereits
im Jahr 1400 durchgesetzte Verbot, dass Klerikergemeinschaften Seelgeräte auf Stadthäusern erwerben durften,
zu dieser vergleichsweise schlechten Überlieferungssituation geführt haben.13
Dafür verfügt das Berner Staatsarchiv mit den beiden Udelbüchern von 1389 und 1466 über zwei ausserordentliche hausgeschichtliche Quellen, wie sie sonst nur
selten zu finden sind (Abb. 1).14 Vor allem für das Jahr
1389 ist die Quellenlage in Bern einmalig. Der Rat liess
in diesem Jahr nicht nur die in der Stadt lebenden Hausbesitzer nach Gassen und Häusern geordnet aufzeichnen,
sondern legte mit dem Tellbuch von 1389 gleichzeitig
auch ein ausführliches Steuerregister an.15 Darin wurden
alle erwachsenen Haushaltsvorstände, die eine Vermögenssteuer an den Stadtsäckel zu entrichten hatten, nach
der Lage ihrer Steuerhaushalte namentlich aufgelistet.
Da die Einträge im Tellbuch wie jene im Udelbuch nach
topografischen Kriterien, also nach Stadtvierteln und
dem Verlauf der städtischen Gassen gegliedert sind, lassen
sich die darin dokumentierten hausgeschichtlichen Informationen auf den Grundriss der heutigen Berner Altstadt
übertragen. Die in den Quellen gemachten Angaben werden auf diese Weise grob lokalisierbar und können von
der Forschung genutzt werden.16
Den Ausgangspunkt für eine kartografische Erfassung der im Udel- und Tellbuch überlieferten Häuserdaten bildet das heutige Gassennetz, das sich nach Ausweis
der archäologischen Untersuchungen der letzten zwanzig
Jahre im Gebiet der Berner Altstadt seit der Stadtgründung um 1200 nicht grundlegend verändert hat,17 sowie
die älteste topografisch zuverlässige Ansicht Berns, die
Planvedute Gregorius Sickingers von 1603/07 (Abb. 2).18
Der so genannte Sickingerplan zeigt die Stadt Bern von
Süden in ihrem spätgotischen Baubestand Ende des 16.
Jahrhunderts. Da jedes einzelne Altstadthaus ausgesprochen individuelle Züge aufweist, scheint diese Ansicht
– abgesehen vielleicht von den überproportional vergrössert dargestellten Kirchen und Stadttoren sowie perspektivischen Verkürzungen und Verzeichnungen – eine
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13
Abb. 2 Ansicht der unteren Altstadt Berns aus der Zeit um 1600 im
Bereich Münsterplattform (Nr. 20), Stiftsgebäude (Nr. 21), Münster
(Nr. 22), Kreuzgasse (Nr. 23), Antonierhaus und -kapelle (Nr. 24) und
Rathaus (Nr. 25). Ausschnitt aus der sog. Planvedute des Gregorius
Sickinger von 1603/07. Umzeichnung von Eduard von Rodt 1915.
ausgesprochen realistische Sicht auf die Berner Altstadt zu
vermitteln. Es lässt sich beispielsweise erkennen, wie viele
Geschosse und Fenster die einzelnen Fassaden aufweisen und bei welchen Häusern es sich um Steingebäude,
Holzbauten oder Fachwerkhäuser handelt. Karl Howald
ging sogar soweit zu behaupten, dass der Sickingerplan
zwar in den perspektivischen Verhältnissen nicht immer
exakt sei, Lage und Ausdehnung der dargestellten Häuser
aber genau mit den urkundlichen Nachweisen übereinstimmten.19
Vision einer interaktiven Häuserdatenbank
Die von Karl Howald in seinem Aufsatz von 1875 aufgelisteten Schriftquellen bilden auch heute noch die Grundlage für die Erstellung einer topografischen Geschichte
der Stadt Bern. Als zentral lassen sich vor allem die aussergewöhnlich dichten hausgeschichtlichen Informationen in den ältesten Udel- und Tellbüchern von 1389, die
realistische Darstellung der Hausaufrisse in der Planvedute Gregorius Sickingers von 1603/07 sowie die Gassenverläufe und Parzellierungen im aktuellen Stadtgrundriss
13
14
15
16
17
18
19
Gerber 2001, 94f.
Staatsarchiv Bern, B XIII 28 und B XIII 29.
Staatsarchiv Bern, B VII 2469. Das Tellbuch von 1389 ist vollständig ediert
bei Welti 1896.
Gerber 2001, 239–316.
Baeriswyl 2003b, 180–183.
Sickinger (Umzeichnung Rodt) 1952.
Howald 1872–75, 152.
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14
Unterschiedliche Quellen, ein Ziel
Abb. 3 Bern, unterster Häuserblock an der nördlichen Kramgasse um 1600 (oben) und im Vergleich dazu moderner Kellergrundriss (unten). Weiss
markiert sind das Eckhaus am Schaalgässlein (1389 im Besitz von Niklaus Schwerter), das städtische Kauf- und Zollhaus (erster Bau 1373 errichtet)
und das Eckhaus an der Kreuzgasse (1389 im Besitz des Schreibers Oswald von Basel). Ausschnitt aus der Ölkopie von Johann Ludwig Aberli 1753
der sog. Planvedute des Gregorius Sickinger von 1603/07 (oben) und aus dem «Kellerplan» von Paul Hofer von 1982.
(Katasterpläne) hervorheben. Diese drei Quellengruppen
bilden sozusagen die Kristallisationspunkte, um die eine
bernische Häuserdatenbank entstehen könnte. Aufgabe
von Archäologen und Historikern wäre es, ausgehend
von den genannten hausgeschichtlichen Schrift- und Bildquellen weitere Nachrichten über die Bauten und deren
Besitzer zusammenzutragen. Die auf diese Weise gewonnen Informationen liessen sich dann in einer zentralen
Datenbank sammeln, die nach heutigen Hausnummern
strukturiert ist und in der laufend neue Daten zu den
einzelnen Altstadthäusern und deren Vorgängerbauten
eingetragen werden könnten. Dazu gehören urkundliche
Belege ebenso wie Bildquellen und Fotografien sowie
Erkenntnisse aus Bauanalysen und Bodenforschung. Die
hier projektierte interaktive Häuserdatenbank liesse sich
schliesslich beim Archäologischen Dienst oder im Berner
Stadtarchiv ansiedeln, deren Mitarbeiter sich für die
redaktionelle Betreuung der eingehenden Informationen
aus den verschiedenen Forschungsbereichen wie auch
für deren Publikation auf dem Internet verantwortlich
zeigten. Denn nur auf diese Weise kann die heute überall
geforderte Wertsteigerung digitaler Publikationen gegenüber traditionellen Quellensammlungen durch Multi-
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medialität, freie Zugänglichkeit und interaktive Nutzung
erreicht werden.
3. Die Sicht des Archäologen
Ein solches Projekt wäre ein zentrales Desiderat für die
Stadtarchäologie – und zwar in zweierlei Hinsicht: zum
einen stünde schon vor dem Beginn einer Ausgrabung
bzw. Bauuntersuchung Quellenmaterial zur Verfügung,
und zum zweiten könnte man die archäologischen Ergebnisse auf diese Weise zentral sammeln, als interdisziplinäres Projekt mit den historischen Quellen abgleichen
und zu neuen übergreifenden Erkenntnissen zur historischen Topografie Bern kommen.
Allerdings genügt es nicht, wenn sich der Historiker auf die Schrift- und Bildquellen beschränkt, wenn sich
der Archäologe nur mit seinen Sachquellen, seinen Befunden und Funden begnügt. Es braucht einen Austausch, der
schon früh einsetzt, es braucht ein gegenseitiges Verständnis, damit diese Datenbank mit brauchbaren Daten gefüttert wird. Was heisst das?20
Ich wiederhole es: Die Archäologie ist eine
Geschichtswissenschaft, die auf der Analyse und Interpretation von Quellen fusst. Obwohl diese Quellen anderer
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Unterschiedliche Quellen, ein Ziel
Natur sind als die historischen, unterscheidet sich der
Umgang mit ihnen nicht von der klassischen schriftquellenbasierten Geschichtsforschung: Im Zentrum steht auch
für den Archäologien die Quellenkritik.21 Archäologische
Quellen sind zwar dinglicher als schriftliche Quellen, aber
sie sind deswegen nicht neutraler, weniger subjektiv oder
gar wahrer! Ausserdem kämpft die Archäologie ebenso
wie die Schriftquellenforschung in der uns hier interessierenden Epoche mit einem zentralen Problem: dem Mangel an Quellen. Das alles muss in die Quellenkritik fliessen, sonst sind Fehlschlüsse vorprogrammiert.
Ich möchte die Quellenkritik am Beispiel des
untersten Häuserblocks an der nördlichen Kramgasse
erläutern (Abb. 3). Grundsätzlich zeigen archäologische
Untersuchungen immer wieder, dass sich der Stadtgrundriss über die Jahrhunderte verändert. Das können grosse
Veränderungen sein, Freiräume, die durch Überbauungen
verschwinden oder durch Abbrüche neu entstehen, das
sind oft aber auch nur minimale Verschiebungen von
einzelnen Hausplätzen und Parzellengrenzen um einige
Meter. Aber: Einige Meter können in einer dicht bebauten
Häuserzeile schnell Konsequenzen haben: Unter Umständen gab es zu einem bestimmten Zeitpunkt zwischen zwei
«Fixpunkten» ein Haus und damit einen Haushalt mehr
oder weniger als heute. Das kann beim Abzählen zu Verfälschungen führen. Und auch die «Fixpunkte» sind weniger konstant als die ältere Forschung annahm – die Quellenkritik muss hier sehr genau sein.
Betrachten wir das städtische Kauf- und Zollhaus
an der nördlichen Kramgasse (Abb. 4). Es entstand wie
erwähnt 1373 anstelle mehrerer älterer – wohl privater –
Bauten. Sickinger zeigt auf seiner Vedute von 1603/07 an
dieser Stelle ein Gebäude – es ist aber nicht der ursprüngliche Bau des 14. Jahrhunderts, sondern ein Neubau von
1599.22 Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass auch
die Vedute von Gregorius Sickinger der Quellenkritik
unterzogen werden muss: Das Original von 1608 ist nämlich verschollen; es existiert lediglich eine Kopie in Öl von
Johann Ludwig Aberli von 1753 und eine 1905 entstandene Federumzeichnung von Eduard von Rodt.
Das Verhältnis des Gebäudes von 1599 zum Vorgänger ist nicht bekannt; sicher ist aber, dass die im Udel- und
Tellbuch von 1389 zwischen dem unteren Eckhaus an der
Kramgasse und dem Eckhaus am Schaalgässlein genannten Häuser sich noch nicht auf das Kaufhaus von 1599
beziehen. Deswegen führt die Methode des Abzählens zu
erheblichen Unsicherheiten. Aber es ist noch schwieriger:
An die Stelle der 1947 bestehenden drei Gebäude Kram-
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15
Abb. 4 Bern, das ehemalige Kauf- und Zollhaus heute. Fotografie 2007.
Abb. 5 Gebäudegrundriss von 1946 mit Bauphasen nach Paul Hofer
aus dem Kunstdenkmälerband Bern Stadt 3, erschienen 1947.
gasse 20, 22 und 24 steht heute der kantonale Verwaltungskomplex Kramgasse 20 (Abb. 6).23 Die drei Gebäude, das
Kaufhaus und zwei benachbarte, ursprünglich private
Wohnbauten wurden 1958 vollständig ausgekernt und hinter alten bzw. auf alt getrimmten Fassaden vereinigt. Zwar
gibt es Pläne des Gebäudes, wie es vor 1958 aussah, aber
ob dieses noch dem Grundriss von 1599 entsprach, oder
ob es nicht im Rahmen von dokumentierten wie undokumentierten Umbauten und Erneuerungen mehrfach auch
im Grundriss verändert wurde, ist nicht bekannt. Nur
20
21
22
23
Zum Verhältnis von Archäologie – vor allem Archäologie des Mittelalters und
der Neuzeit – und Geschichte: Geschichtswissenschaft 1979; Isenberg 1993;
Scholkmann 1997/98; Fehring 2000; Scholkmann 2003; Jäggi 2004; Ericsson
2005; Baeriswyl 2009.
Eggert 2006, 100–121.
KDM BE 3, 343–353, 481–484.
KDM BE 3, 481–484.
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16
Abb. 6 Ausschnitt aus dem Berner «Kellerplan» von 1982: Deutlich ist der
moderne Keller zu erkennen, der sich unter alle drei Gebäude erstreckt.
genaueste Quellenkritik würde hier einige der genannten
Unsicherheiten beseitigen können, wirklich weiter käme
man aber nur mit archäologischen und bauanalytischen
Untersuchungen mit dem Ziel, die Baugeschichte bzw.
die verschiedenen Bauzuständen zu eruieren. Aber: Im
Fall des Kaufhauses gibt es diese Möglichkeit nicht mehr.
Der Kaufhauskomplex ist 1958 ohne die geringsten archäologischen oder bauanalytischen Untersuchungen zerstört
worden. Diese Quellen fehlen also.
Die Archäologie des Mittelalters und noch mehr
diejenige der Neuzeit sind jung. Sie arbeiten vielerorts
erst seit wenigen Jahren, bestenfalls Jahrzehnten systematisch und mit dem notwendigen methodischen wie
technischen Rüstzeug. In Bern etwa beginnt eine einigermassen systematische Stadtarchäologie im Jahr 1984. Das
heisst auch: ältere Untersuchungen sind quellenkritisch
genauestens zu analysieren. Im Fall des Kaufhauses: der
Grundriss im Kunstdenkmälerband (Abb. 5) ist ein Phasenplan – aber wie zuverlässig ist dieser Phasenplan? Wie
sieht die Quellensicherung, die Untersuchung, die Dokumentation, die Analyse aus? Für das Beispiel Stadt Bern
gilt: Ich glaube inzwischen keinem Phasenplan mehr.
Hier war zu oft der Wunsch Vater der Rekonstruktion!
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Unterschiedliche Quellen, ein Ziel
Für den Archäologen muss die gleiche Distanz und Vorsicht gelten wie für den Historiker die Konsultation von
älteren Arbeiten und Darstellungen.
Dazu kommen zwei grundsätzliche Probleme in
der Arbeit mit archäologischen Quellen: Erstens kann
sich die Archäologie im Gegensatz zur Schriftquellenforschung weder den Gegenstand noch den Zeitpunkt
ihrer Untersuchung auswählen. Untersucht wird das, was
durch Umbau, Zerstörung, Erneuerung, Unterkellerung
etc. bedroht wird, und es wird in dem Moment untersucht, in dem diese Massnahmen unmittelbar bevorstehen. Kontinuierlich einer Fragestellung nachzugehen ist
so nur schwer möglich.
Zweitens ist im Umgang mit archäologischen Quellen immer zu berücksichtigen, dass die Archäologie durch
die Ausgrabung ihren Untersuchungsgegenstand während der Untersuchung zerstört, und zwar systematisch.
Die Funde, also Keramikscherben, Knochen, Glas- oder
Metallreste bleiben erhalten, alle Befunde aber, Schichten, Mauern, Gruben oder Gräben werden im Laufe der
Untersuchung abgetragen bzw. spätestens nach Abschluss
der Ausgrabungen bei der jeweiligen Neubaumassnahme,
die die archäologische Intervention überhaupt erst ausgelöst hatten, beseitigt. Wenn der der Archäologe hinterher
bei der Auswertung merkt, dass er irgendein entscheidendes Detail nicht beobachtet bzw. nicht dokumentiert
hat, ist dieses unwiederbringlich zerstört. Fehler macht
jeder Wissenschaftler und jede Wissenschaftlerin – während der Historiker sich seine Urkunde einfach noch einmal vornimmt, hat der Archäologe meist keine Chance
mehr. Das erklärt vielleicht die Zurückhaltung des Archäologen, andere als Notgrabungen vorzunehmen. Wie würden Historiker ihre Urkunden dokumentieren, wüssten
sie, dass sie nach einmaligem Lesen und Exzerpieren im
Reisswolf landen?
Trotz all dieser Probleme: Es gibt Bauten in der
Berner Altstadt, die vom Archäologischen Dienst untersucht worden sind und für die eine Baugeschichte vorliegt.
Aber auch ein reicher Befund muss interpretiert werden,
die Quellenkritik braucht es in diesem Fall genauso. So
zeigt sich, dass etwa die Frage von Parzellengrenzen noch
wesentlich komplizierter sein kann als bereits angetönt.
Das soll das Beispiel Brunngasse 54–58 zeigen (Abb. 7).
Erkennbar wurden dort bei der Ausgrabung und Bauuntersuchung ältere, wohl noch ins 13. und 14. Jahrhundert
zu datierende Parzellen mit rückwärtigen, an die Stadtmauer angebauten Steinhäusern, nach vorne gefolgt von
Höfen und gassenseitigen Holzbauten mit seitlichen
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Unterschiedliche Quellen, ein Ziel
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Abb. 8 Bern, Sandsteinquadermauerwerk an der ostseitigen Brandmauer des Gebäudes Gerechtigkeitsgasse 71, wohl mittleres 13. Jh.
Abb. 7 Bern, Brunngasse 54–58. Plan der archäologischen Untersuchungen von 2005. Schwarz: heutige Gebäude mit Lauben auf der
Gassenseite, 15.–19. Jahrhundert. Dunkelgrau: Stadtmauer, wohl um
1200. Mittelgrau: an die Stadtmauer angebaute, mindestens zweigeschossige Steingebäude, mutmasslich 13. Jahrhundert. Hellgrau: Reste
von Fachwerkbauten (Schwellbalkennegative, Lehmfussböden), mutmasslich ebenfalls 13. Jahrhundert.
Hofeinfahrten. Damals bestanden offensichtlich noch
nicht überall geschlossene Häuserzeilen, im Gegenteil.
Die typischen schmalen und lang gezogenen Berner
Häuser entstanden erst in einer zweiten Phase, durch
Verdichtungen und Aufstockungen in mehreren Etappen im Laufe des 15. und 16. Jahrhunderts. Allerdings
sind diese Prozesse im Details teilweise schwer zu fassen, denn oft bleibt unklar, wo die jeweiligen Parzellengrenzen verliefen: Lagen sie von Anfang an am heutigen
Ort? Oder haben sie sich nicht, wie die Archäologen an
verschiedenen Stellen feststellen mussten, verschoben?24
Um wie viel? Wann?
Damit sind wir gleich beim nächsten Problem: Bei
der Datierung. Die erste Aufgabe des Archäologen ist es,
eine relative Chronologie aufzubauen – bei zwei Befunden fragt er schlicht nach «älter» bzw. «jünger», egal, ob
wir über zehn Minuten oder hundert Jahre sprechen. In
unserem Beispiel Brunngasse 54 war die relative Chronologie einfach aufzubauen. Die absolute Chronologie
aber, die Frage nach dem Alter in Jahrzahlen, steht auf
wackeligen Füssen. Gut datierende Funde fehlten, ebenso
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Holzkohle, die mit der Radiokarbonmethode datiert werden kann, und auch im aufgehenden Mauerwerk ist aus
der Frühzeit kein Holz mehr da, welches dendrochronologisch bestimmt werden kann. In solchen Fällen ist der
Archäologe schnell am Ende mit seinem Latein. Er hat
nur noch zwei Möglichkeiten:
1. der Vergleich mit andern, absolut datierten Elementen, etwa der Vergleich von Mauerwerkscharakteristika (Abb. 8). Dieses Sandsteinquadermauerwerk
mit sog. Schichthöhenzeichen datiert wahrscheinlich
ins 13./14. Jahrhundert.25 Aber: Es gibt vergleichbare
Mauern, die aus der Zeit um 1400 stammen.
2. Eine Datierung, die sich auf aus schriftlichen Quellen
gewonnenen Ereignissen und Jahrzahlen bezieht. Hier
sehen wir das älteste Benutzungsniveau mitsamt Bachbett des Stadtbachs im Bereich der Hauptgasse der Gründungsstadt Bern (Abb. 9).26 Die Stadtgründung erfolgte
gemäss chronikalischen Quellen im Jahr 1191, um 1208
wird ein Berner erstmals in einer Urkunde erwähnt.27
Damit ist es wahrscheinlich, dass diese untersten archäo-
24
25
26
27
Baeriswyl 2003a; vgl. Eggenberger/Stöckli 1983.
Boschetti-Maradi 2003.
Archäologische Untersuchung 2005. Vorbericht in: Baeriswyl/Kissling 2006.
Baeriswyl 2003b, 176f.
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Unterschiedliche Quellen, ein Ziel
Abb. 9 Bern, Ausgrabungen an der Kram- und Gerechtigkeitsgasse 2005. Das unterste archäologische Niveau mit den Überresten eines in den
gewachsenen Aareschotter eingetieften Kanals mit Holzboden und -wänden: der älteste fassbare Stadtbach. Mutmasslich frühes 13. Jh.
logischen Befunde in die Zeit um 1200 zu datieren sind.
Aber sicher ist das nicht, es kann ja sein, dass die älteste
Phase später weggeschürft wurde und wir hier eine jüngere Phase vor uns haben, die an die Stelle älterer, ausgeräumter Befunde zu liegen kam. Hier hat der Archäologe, der transparent arbeitet, offenzulegen, wie sicher
bzw. unsicher seine Erkenntnisse sind.
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4. Ausblick
Das hier präsentierte Projekt einer historischen Häuserdatenbank der Stadt könnte ein Paradebeispiel für das
Zusammenwirken von Historikern und Archäologen werden. Die Fragestellung erscheint klar umrissen: Das Sammeln aller relevanten Informationen für jeden Hausplatz
der Stadt mit dem Ziel, die Bau-, die Nutzungs- und die
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Unterschiedliche Quellen, ein Ziel
Besitzergeschichte durch die Jahrhunderte zu erhellen.
Aber es braucht eine intensive Zusammenarbeit, enge Diskussionen und vor allem fundierte Quellenkritik, denn:
– Die Stadt verändert sich im Laufe der Jahrhunderte
auf der Ebene der Hausplätze, der Parzellen erheblich.
Dazu kommt die Verdichtung in der Form von Aufstockungen und Schliessung von Freiflächen (Zufahrt,
Höfe, Hinterhäuser, Ehgräben, Hangkanten). Auch
Gassenfluchten oder der genaue Verlauf von Quergässchen waren nicht sakrosankt, ebenso die Überbauung
des öffentlichen Raumes mit Lauben.
– Die archäologischen Quellen fehlen vielerorts, sei es,
weil dort noch nicht gegraben wurde, sei es, weil spätere
Umgestaltungen, vom barocken Keller bis zur Totalsanierung in den 50er Jahren des 20. Jh. die bestehende
Substanz undokumentiert zerstört hat.
– Viele – akademische wie nichtakademische – lokalgeschichtliche Arbeiten sind veraltet und müssen quellenkritisch überprüft werden. Das gilt genauso für archäologische und architekturhistorische Publikationen. Das
Häuserbuch muss so quellennah wie möglich sein.
– Kellerpläne wie der Kellerplan von Bern, die nicht
befundorientiert sind, sondern eine rein planerische
Momentaufnahme darstellen, dokumentieren kein
Quäntchen mehr als den Bestand der Keller im Moment
19
ihrer Aufnahme. Derartige Kellerpläne sind als Quelle
für mittelalterliche und frühneuzeitliche Zustände nicht
brauchbar.28
– Viele archäologische Untersuchungen werfen mehr Fragen auf als sie beantworten, weil zentrale Elemente für
die Interpretation, vor allem die absolute Datierung,
auf wackligen Beinen stehen.
– Ältere archäologische Untersuchungen entsprechen
punkto Methode und Dokumentation nicht mehr dem
heutigen Standard.29 Sie sind mit grosser Vorsicht zu
geniessen und brauchen eine speziell intensive Quellenkritik.
– Plan- und Bildquellen sind ein erstrangiges Mittel zur
Erhebung von Informationen. Auch die Bildquellen
sind genauso einer Quellenkritik zu unterziehen wie
jede andere Sorte von Quellen. So darf man nie aus den
Augen verlieren, dass die Zustände auf diesen Bildern
nicht unbesehen über Jahrhunderte zurückgeschrieben
werden können.
Grundsätzlich sollte es das Ziel sein, schriftliche, bildliche
und archäologische Quellen, Bauforschung inklusive,
als eine Einheit anzusehen, die zusammen und gemeinsam auszuwerten sind. Nur so werden alle potentiellen
Informationen zusammengetragen, alle Quellen ausgeschöpft.30
28
29
30
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Eggenberger/Stöckli 1983; Baeriswyl 2003a.
Baeriswyl 1999.
Andren 1998; Schreg 2007.
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20
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Abbildungsnachweis
1 StABE, B XIII 28, pag. 295
2 Sickinger (Umzeichnung Rodt) 1952
3 Sickinger (Umzeichnung Rodt) 1952 (oben); Hofer/Gassner/Mathez et al.1982
(unten), (Bearbeitung Roland Gerber)
4 A. Baeriswyl, Bern
5 KDM BE 3 1947, 345
6 Hofer/Gassner/Mathez et al. 1982
7 Archäologischer Dienst des Kantons Bern (Eliane Schranz), bisher unpubliziert
8 Archäologischer Dienst des Kantons Bern (Federico Rasder)
9 Archäologischer Dienst des Kantons Bern (Christiane Kissling)
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Archäologie und Bauforschung in der Kleinstadt
21
Adriano Boschetti-Maradi
Archäologie und Bauforschung
in der Kleinstadt
Methodische Möglichkeiten und Grenzen
Die Stadtarchäologie versucht seit ihren Anfängen ein Bild
der mittelalterlichen Stadt zu zeichnen.1 Von zentraler
Bedeutung sind dabei Untersuchungen zur inneren Struktur und zur Organisation der einzelnen Wohn- und Wirtschaftsbauten sowie der ganzen Stadt: Welche Funktionen
trugen die einzelnen Räume, in welcher Beziehung standen die Gebäude zueinander?2 Bei der archäologischen
Untersuchung von Burgen und Klöstern wird solchen Fragen seit einigen Jahren grosse Aufmerksamkeit geschenkt.3
Für die Stadtarchäologie hingegen waren bis in die 1980er
Jahre eher traditionelle siedlungsarchäologische Fragen,
d.h. die Chronologie von präurbaner Besiedlung und
Stadtgründung,4 sowie die Monumente der Stadtbefestigung und die städtischen Kirchen und Klöster von Interesse. Mit der Zeit gewannen Untersuchungen zur Bautechnik, zum mittelalterlichen Handwerk und zur städtischen
Infrastruktur sowie zu Prozessen der Stadtentwicklung
und Stadtplanung an Gewicht. Seit zehn bis zwanzig Jahren befasst sich die Stadtarchäologie vertiefter mit sozialund wirtschaftsgeschichtlichen Themen, z. B. mit Markt,
Handel und Wohnkultur.5
Zur Methodik archäologischer
Siedlungsanalysen
Bei der Strukturanalyse von Siedlungen geht es sowohl um
einzelne Gebäude als auch um die räumliche und funktionale Integration der einzelnen Bauten in die gesamte
Siedlung. Der prähistorischen Archäologie stehen weder
schriftliche Dokumente noch bestehende Bauten als
Quellen zur Verfügung. Sie ist nahezu ausschliesslich auf
Bodenfunde und Analogieschlüsse angewiesen. Deshalb
präsentieren sich in der Ur- und Frühgeschichte gewisse
methodische Probleme der archäologischen Bodenforschung deutlicher als in der Mittelalterarchäologie. In der
Ur- und Frühgeschichte finden sich zwei grundsätzlich
verschiedene Herangehensweisen für Siedlungsanalysen:6
1.
Die Methode anhand der Verteilung mobiler Fundgegenstände auf die Lokalisierung bestimmter Tätigkeiten zu
schliessen. Sie wird in der prähistorischen Archäologie
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vielfach angewendet.7 Ein Beispiel ist die vollständig ausgegrabene Seeufersiedlung Greifensee-Böschen ZH, die nur
wenige Jahre 1051–1042 v. Chr. bestanden hat. Die Ausgräber haben versucht, anhand der Verteilung bestimmter
Typen von Fundobjekten unterschiedliche Funktionen der
Bauten zu bestimmen, halten aber fest, dass die Verteilung
des Fundmaterials keine Unterscheidung der Bauten nach
ihrer Funktion erlaubt, also etwa die Benennung von Ökonomiebauten. Es lässt sich also nur ein Haustyp feststellen.
Trotzdem können gewisse Aktivitätszonen lokalisiert werden: Die Kartierung der Fundorte z. B. von Webgewichten
lässt auf mindestens vier Webstühle und von Trinkgefässen auf die gemeinschaftliche Funktion eines Hauses im
Siedlungszentrum schliessen.8 Bei anderen Siedlungen,
die länger besiedelt waren, keine Feuchtbodenerhaltung
aufweisen und nicht vollständig untersucht sind, sind derartige Siedlungsanalysen deutlich schwieriger.9 Auch in der
Mittelalterarchäologie sind solche Siedlungsanalysen erst
bei einzelnen Ausgrabungen angewendet worden (z. B. bei
der 1003–1034 bewohnten Seeufersiedlung Colletières bei
Charavines in Savoyen, der Siedlung «Castello» bei Tremona TI, Grottenburg Riedfluh bei Eptingen BL).10
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
Janssen 1987; Fehring 1996, 32–95.
Kaspar 2004.
Vgl. Sennhauser 1996.
Sennhauser 1993.
Vgl. Untermann 2000, 13,16; Röber 2006 (und weitere Beiträge in: ZfAM,
2006). Z.B. Pfrommer/Gutscher 1999; Baeriswyl 2003; Untermann 2004;
Fritzsche/Gilomen/Stercken 2006.
Bernbeck 1997, 181; Eggert 2000, 74–77.
Besonders in den 1960er bis 1980er Jahren wurden im Bereich der Siedlungsanalysen anhand von Funden viele Theoriediskussionen geführt (Bernbeck
1997, 181–205).
Eberschweiler/Riethmann/Ruoff 2007, 239–258 und 267f.
Z.B. das Oppidum von Manching im Donautal, wo einzelne Handwerksbetriebe, wie Schmieden oder Holz verarbeitende Betriebe, durch Fundkartierungen nur unsicher lokalisierbar sind. Vom Oppidum Manching sind bisher
höchstens 3% der 380 ha grossen Siedlungsfläche ausgegraben. Zudem war
Manching relativ lange besiedelt, nämlich rund 170 Jahre von 250/230 bis
80/65 v. Chr. (Jacobi 1974). Ähnliches gilt für den Hallstattzeitlichen «Fürstensitz» Heuneburg im Donautal, von dem aber immerhin etwa 33% der
Fläche untersucht sind (total 3 ha) und dessen mehrphasige Besiedlung höchstens 100 Jahre von etwa 570 bis 475 v. Chr. dauerte (Sievers 1984).
Colardelle/Verdel 1993; Degen et al. 1988 (Riedfluh BL aufgrund des Fundspektrums wahrscheinlich nur kurzfristig im 12. Jahrhundert bewohnt); Martinelli 2008 (Tremona TI, 10. bis 13. Jahrhundert?).
14.11.2009 14:53:52 Uhr
22
Abb. 1 Die neolithische Siedlung Aichbühl im Federseemoor (BadenWürttemberg).
Archäologie und Bauforschung in der Kleinstadt
Baden-Württemberg: Erstes Beispiel ist die vollständig ausgegrabene Siedlung Aichbühl, die nach 4260 v. Chr. erbaut
worden ist (Abb. 1).11 Die typischen Wohnhäuser der einzelnen Familien – fast alle der 22 Häuser – verfügten über
einen Vorplatz und zwei unter dem First hintereinander
angeordnete Räume. Im vorderen Raum stand ein Ofen,
im hinteren Raum lag die Feuerstelle. Ein einzelnes Haus
in der Mitte der Siedlung wies keine Feuerstelle, sondern
nur einen Raum mit seitlichem Eingang auf. Es dürfte sich
um ein zentrales Gemeinschaftshaus gehandelt haben.
Zweites Beispiel ist die mit einer Palisade bewehrte spätbronzezeitliche Siedlung «Wasserburg» Buchau, die ebenfalls fast vollständig ausgegraben ist und in einer ersten
Phase etwa 38 nur einen Raum grosse Häuser umfasst hat
(Abb. 2).12 Die Funktionen der Häuser lassen sich nicht
direkt bestimmen. Nur ein einzelnes Haus wies zwei Räume auf. In einer zweiten Bauphase wurde die Siedlung mit
neun je drei bis sechs Räume grossen Gehöften neu angelegt. Es scheint, dass durchschnittlich vier einräumige Bauten zusammengelegt wurden, die bereits in der ersten Siedlungsphase eine Wirtschaftseinheit gebildet und deshalb
vermutlich sich ergänzende Funktionen getragen hatten.
Die Beispiele zeigen, dass Siedlungsanalysen einerseits bei
einer überdurchschnittlichen Erhaltung der Holzbaureste
und andererseits bei einer möglichst grossflächigen Untersuchung der ganzen Siedlung Erfolg versprechen.
Kleinstädte als Objekte
archäologischer Forschung
Abb. 2 Die zwei Phasen der spätbronzezeitlichen Siedlung «Wasserburg» Buchau im Federseemoor (Baden-Württemberg).
2.
Die zweite und häufigere Herangehensweise für Siedlungsanalysen ist der Versuch anhand einer architektonischen
Evidenz die Siedlung oder das Gebäude in funktionale
Einheiten aufzuteilen. Deutlich zeigen sich die Möglichkeiten derartiger Interpretationen bei zwei ausserordentlich gut erhaltenen Siedlungen aus dem Federseemoor in
Buch SKAM 36.indd 22
Beobachtungen zur Siedlungsanalyse in der Ur- und Frühgeschichte lassen sich auf die Stadtarchäologie übertragen:
1. Siedlungsanalysen anhand von Funden werden in der
Stadtarchäologie selten angewendet. Bei nur wenige
Jahrzehnte lang besiedelten Stadtwüstungen versprechen
derartige Untersuchungen vielleicht Erfolg.13 Auch die
Untersuchungen in der befestigten Dorfwüstung «Castello» bei Tremona TI liefern interessante Resultate.14
2. Eine gute Erhaltung von Holzbauten ist für die Siedlungsanalyse und besonders für die Untersuchung der
Wohn- und Wirtschaftsbauten von zentraler Bedeutung. Archäologische Untersuchungen in den Städten
sollen daher nicht nur Ausgrabungen, sondern auch
Bauuntersuchungen sein.15
11
12
13
14
15
Schmidt 1936; Kromer/Billamboz/Becker 1985, 246.
Kimmig 1992.
Vgl. Stephan 1997.
Martinelli 2008.
Untermann 2001; Boschetti-Maradi 2007.
14.11.2009 14:53:53 Uhr
Archäologie und Bauforschung in der Kleinstadt
23
Abb. 3 Ludwig Georg Vogel (1788–1879) Bleistiftzeichnung der Stadt Sempach im Kanton Luzern 1832.
3. Für Siedlungsanalysen ist es von Vorteil, wenn nicht
nur ein kleiner Ausschnitt, sondern ein möglichst grosser Teil einer Siedlung untersucht ist. Die Chance dazu
ist bei flächenmässig kleinen Städten höher als bei flächenmässig grossen Städten.
Stadtwüstungen, Städte mit einer überdurchschnittlichen
Erhaltung der Holzbauten und flächenmässig kleine Städte können daher für die Stadtarchäologie von besonderem
Interesse sein. Der Begriff Kleinstadt bezieht sich primär
auf die geringe Grösse der Siedlung – «städtische Minderformen»16 ist ein allzu allgemeiner Begriff, weil darunter
auch unbefestigte Flecken oder frühmittelalterliche Zentralorte zusammengefasst sind. Bei den Kleinstädten handelt es sich um befestigte Marktsiedlungen, die in den
Schriftquellen Städte genannt werden. Zu den Kleinstädten
zählen auch zahlreiche kleinflächige Stadtwüstungen, d. h.
verödete Kleinstädte, sowie die «Bastides» Südwestfrankreichs und manche der im Rahmen des «Incastellamento»
entstandenen Siedlungen in Italien.17 Meistens sind die
mitteleuropäischen Kleinstädte Gründungen des 13. oder
14. Jahrhunderts, waren rechtlich abhängige Landstädte und hatten eine weniger differenzierte Sozialstruktur
als mittlere oder Grossstädte, was sich in der Gestalt der
Wohnbauten spiegelt.18 Vielfach waren Kleinstädte baulich
Buch SKAM 36.indd 23
«begrenzt ausgestattet»; z. B. gibt es bei Kleinstädten kaum
Stadterweiterungen oder vorreformatorische Ordensniederlassungen. Die bauliche Überlieferung ist in Kleinstädten bisweilen sehr gut, weil diese Gemeinwesen oft von
Baukonjunkturen des 18. bis mittleren 20. Jahrhunderts
verschont geblieben sind – es sei denn, ein Stadtbrand zerstörte die Stadt vollständig wie Huttwil BE 1834.
Je nach Schätzung hatten in Mitteleuropa mindestens zwei Drittel der Städte weniger als 2’000 Einwohner.
Knapp die Hälfte aller mittelalterlichen Städte ging im 14.
oder 15. Jahrhundert aus wirtschaftlichen Gründen wieder
ein oder wurde zerstört, wurde also zur Stadtwüstung.19
Gemessen an ihrer historischen Verbreitung sind Kleinstädte und Stadtwüstungen schlecht erforscht. Abgesehen
von einzelnen Stadtwüstungen (in der Schweiz z. B. AltEschenbach LU, Sins-Meienberg AG, Pont-en-Ogoz FR,
Alt-Weesen SG) sowie wenigen bestehenden Kleinstäd-
16
17
18
19
Vgl. LexMA 6, 633f.
Stephan 1997. Italien: Brogiolo/Gelichi 1998.
Jecht 1926; Abel 1978; Bickel 1992, 210–222; Fehring 1996, 96–102; Stercken
2006. Es gibt Ausnahmen: Die Stadt Rheinau ZH entwickelte sich vermutlich
neben dem im 9. Jahrhundert gegründeten Kloster, beherbergte Ministerialien und zählte im 15. Jahrhundert kaum mehr als 50 Haushalte.
Ammann 1956; Stoob 1970; Flückiger 1983/84; Isenmann 1988.
14.11.2009 14:53:54 Uhr
24
Abb. 4a Wiedlisbach in der Chronik des Johann Stumpf 1547.
Abb. 4b Flugaufnahme von Wiedlisbach im Kanton Bern im Jahr 1976.
ten (in der Schweiz z. B. Zug, Sempach und Willisau LU,
Unterseen und Wiedlisbach BE) befasste sich die Schweizer Stadtarchäologie vorzugsweise mit grösseren und mittelgrossen Städten.20 Dies ist bedauerlich, denn vielleicht
eignet sich – abgesehen von prähistorischen Feuchtbodensiedlungen – in unseren Breitengraden kein anderer Siedlungstyp so gut für die Untersuchung der inneren Struktur
wie die Kleinstadt.
Bauforschung und Archäologie
der Wohn- und Wirtschaftsbauten
Die Siedlungsanalyse beginnt mit der Untersuchung
der einzelnen Wohn- und Wirtschaftsbauten. Dabei
geht es – nach der Klärung der Baugeschichte – um
Buch SKAM 36.indd 24
Archäologie und Bauforschung in der Kleinstadt
Fragen der Funktionen der Bauten und ihrer Räume.
Bauforschung in der Kleinstadt ist vor allem Holzbauforschung. Abgesehen von einigen obrigkeitlichen bzw.
öffentlichen Bauten und der Stadtbefestigung bestanden
die mitteleuropäischen Kleinstädte nahezu ausschliesslich aus Holzbauten.21 Das Bild der Stadt Sempach LU
zeigt noch im Jahr 1832 eindrücklich die Fassaden von
Ständerbauten (Abb. 3), die bei mancher Stadt schon
der jüngere Diebold Schilling in seiner 1513 vollendeten Luzerner Bilderchronik dargestellt hat.22 Beim
Städtchen Wiedlisbach BE, in dem seit 1984 wiederholt
archäologische Untersuchungen durchgeführt worden
sind, zeigt sich eindrücklich, wie viel Substanz aus der
Zeit der Stadtansicht in der eidgenössischen Chronik
des Johannes Stumpf von 1547/48 noch heute vorhanden ist (Abb. 4a und 4b).23 Nur einzelne Bauwerke waren
in Stein gebaut, nämlich die Ringmauer mit den beiden
Tortürmen, die Kapelle St. Katharina, das Kornhaus und
der so genannte Städtliturm in der Nordwestecke (stadtherrliche Niederlassung), vielleicht auch das Rathaus, das
archäologisch nicht untersucht ist. Alle anderen Wohnund Wirtschaftsbauten innerhalb der Ringmauer waren
hölzerne Ständerbauten.
Der dreiraumtiefe Ständerbau – Beispiele aus der Stadt Zug
Anhand von Beispielen aus der Stadt Zug soll dargelegt
werden, in welche Richtung die Untersuchungen an den
Wohn- und Wirtschaftsbauten führen können. Zug –
1242 erstmals als oppidum erwähnt – war seit 1273 Teil
des habsburgischen Städtenetzes und wurde 1415 unabhängig. Innerhalb der Stadtmauern fand spätestens im
14. Jahrhundert der Markt statt. Der Ort begann sich ab
1379 ein kleines Untertanengebiet zu erwerben. 24 Die
Stadt Zug (Abb. 5) ist eine der archäologisch am intensivsten untersuchten Städte mit einem reichen Bestand
an Holzbauten des späten 14. und 15. Jahrhunderts.
Toni Hofmann begann in der Stadt Zug bereits im Jahr
1972 sowohl mit Ausgrabungen als auch mit Bauuntersuchungen. Seither wird nahezu jedes Bauvorhaben
zumindest archäologisch begleitet.25 In der Altstadt (Fläche ca. 1,8 ha) sind von insgesamt 96 Liegenschaften über
20
21
22
23
24
25
Rahn 1889; Meckseper 1982; Drack 1992; Rickenbach 1995; Stephan 1997;
Eggenberger 2002; Bourgarel 2004.
Ausführlicher dazu: Gutscher 2001.
Z.B. Pfaff 1991, 37.
Boschetti-Maradi/Portmann 2004.
Zur Stadtgeschichte: Gruber 1968; Gruber 1982; Stercken 2006, 45–48.
Boschetti-Maradi 2007, 108.
14.11.2009 14:53:55 Uhr
Archäologie und Bauforschung in der Kleinstadt
25
Abb. 5 Flugaufnahme der Stadt
Zug um 1919. Direkt am See
liegt die von einer bogenförmig verlaufenden Häuserzeile
umgebene Altstadt. Weiter ausgedehnt und von einer polygonalen Ringmauer mit Zylindertürmen umgeben ist die Stadterweiterung von 1478 bis 1536.
22% eingehend und weitere 56% teilweise archäologisch
und bauanalytisch untersucht. Vor drei Jahren hat sich
die Kantonsarchäologie Zug zum Ziel gesetzt, die zahlreichen Untersuchungen auszuwerten.
Der Umbau des Hauses Oberaltstadt 13 in Zug im
Herbst 2006 war aus archäologischer Sicht ein Glücksfall.26 Im Boden fanden sich ausserordentlich gut erhaltene Spuren der Bebauung des 13. und 14. Jahrhunderts.
Der jüngere der im Boden ablesbaren Hausgrundrisse,
ein gemäss C14-Datierungen und eines dendrochronologischen Datums nicht vor 1251 errichteter Ständerbau
auf Schwellen, liess sich am besten fassen (Abb. 6).27 Das
Gebäude wurde um 1340 über gleichem Grundriss vollständig erneuert und brannte 1371 ab. Es stand zwischen
dem Ehgraben im Westen und der Gasse im Osten und
umfasste die ganze heutige Parzellenfläche von 9,3 x 5,7 m.
Sein dreiraumtiefer Grundriss ist überaus typisch für
die meisten ländlichen und städtischen Ständerbauten
(z.B. Stolzengraben in Zug um 1442, Rathausstrasse 6/8
in Baar von 1470, Blickensdorferstrasse 21 in Baar um
1516).28 Die Räume des Vorgängerbaus von Oberaltstadt
13 lassen sich wie folgt bestimmen:
– Zwischen Küche und Gasse war die Stube angeordnet,
die sich definitorisch durch den Kachelofen, der eine
rauchfreie Beheizung des Raumes gewährleistet, auszeichnet. Ausserdem weist sie einen Holzboden und
Holzwände auf und lässt sich nicht direkt von aussen, sondern nur durch einen Vorraum betreten. Vom
Buch SKAM 36.indd 25
Kachelofen selbst stammen Bruchstücke des Lehms
und der Kacheln, die sich ungefähr in die Zeit um 1340
datieren lassen.29 Der Raum südlich neben der Stube
diente als Eingang und vielleicht auch als Werkstatt.
– In der Mittelzone lagen der Korridor, die Treppe und
vor allem die Küche mit der Herdstelle auf Bodenhöhe.
Das Schürloch und der Rauchabzug des Kachelofens in
der benachbarten Stube waren zur Herdstelle hin ausgerichtet, wodurch sich im Haus nur an einem Ort Rauch
entwickelte.
– Im hinteren Drittel des Hauses befand sich eine weitere
Kammer.
Die Untersuchung des Hauses Vorstadt 14 in Zug in den
Jahren 1999 bis 2004 lieferte Hinweise für die Rekonstruktion der «dritten Dimension» eines derartigen dreiraumtiefen Hauses.30 Das zweigeschossige Haus steht in einer
Häuserzeile in der seit dem 14. Jahrhundert erwähnten
26
27
28
29
30
JbAS 2007, 202.
Mitteilung von Martin Schmidhalter vom 19. 2. 2009 (Dendronrn. 91871
und 91872). Bei der 75 Jahrringe messenden Fichtenschwelle wurden zwei
C14-Messungen von Jahrringen im Abstand von 30 Jahren vorgenommen.
ETH-36806: 905 ± 35 BP (OxCal v3.10 2005: 1 sigma 68,2 % 1040–1100 und
1110–1180). ETH-34733: 840 ± 45 BP (OxCal v3.10 2005: 1 sigma 68,2 %
1160–1255).
Rothkegel 1999; Roth Heege 2004, 94–100; JbAS 2008, 270f. Vgl. Furrer
1994, 133; Boschetti-Maradi/Hofmann 2006, 186f.
Vgl. Kachelfunde von Rohrberg bei Auswil BE vor 1337 (Tauber 1980, 167–
172), Alt-Rapperswil bei Altendorf SZ vor 1350 (Tauber 1980, 214f.) und Madeln bei Pratteln BL vor 1356 (Marti/Windler 1988).
JbSGUF 2005, 395f.; Tugium 2005, 46f.
14.11.2009 14:53:55 Uhr
26
Archäologie und Bauforschung in der Kleinstadt
Abb. 6 Zug, Oberaltstadt 13. Dreiraumtiefer Grundriss des Schwellenbaus nach 1291 bis 1371 aufgrund der Ausgrabungen 2006. Massstab 1:100.
Siedlung Stad nördlich der ummauerten Altstadt am Seeufer und wurde gemäss dendrochronologischer Untersuchungen um 1390 erbaut. Es war mit einem in die Ständerkonstruktion eingebundenen, schwach geneigten Dach
bedeckt, dessen Traufe an der Gasse lag. Der Dachraum
erhielt sein Volumen vor allem durch einen so genannten
Kniestock zwischen der Decke des Obergeschosses und
dem Binder- oder Dachbalken. Auch hier zeigt sich der
typische dreiraumtiefe Aufbau (Abb. 7).
– An der Gasse befanden sich im Erdgeschoss der Eingang
und die Stube, darüber Kammern.
– Der Mittelraum mit Küche und Korridor wies keinen
Zwischenboden und keinen Kamin auf. Der Rauch entwich also frei durch das Dach.
– Der hintere Hausteil mit zwei übereinander angeordneten Räumen wurde im 15. Jahrhundert «versteinert».
Man ersetzte hier die Bohlenwände durch Mauerwerk,
vielleicht aus Gründen des Brandschutzes. Es ist anzunehmen, dass es sich im hinteren Hausteil nicht um
Wohnräume, sondern um eher Lagerräume handelte.
Der geschilderte dreiraumtiefe Haustyp findet sich auch
in typologisch jüngeren, dreigeschossigen Ständerbauten
wieder, von denen es aus der Zeit ab 1371 in der Stadt Zug
Buch SKAM 36.indd 26
eine ganze Reihe gibt.31 Bei diesen Häusern ist das Erdgeschoss als separates Stockwerk abgezimmert, auf dem der
zweigeschossige und zur Gasse hin vorkragende Ständerbau ruhte.
Solche dreigeschossigen Häuser waren in süddeutschen
und Schweizer Städten (z. B. Sempach und Willisau LU)
seit dem späten 13. Jahrhundert bekannt.32 Die Räume
der drei Geschosse lassen sich bei einzelnen Häusern aus
der Stadt Zug funktional bestimmen:
1. Im Erdgeschoss war in der Regel keine Feuerstelle eingerichtet, denn der Rauch konnte ohne Kamin gar nicht
durch den darüber liegenden Ständerbau abziehen.
Meistens war das Erdgeschoss als Halle ausgebildet,
die als Lagerraum, Stallung oder Verkaufslokal gedient
haben dürfte. Feuerstellen sind bei Ausgrabungen in
diesen Häusern daher kaum zu finden.
31
32
Z.B. das 1371 errichtete Haus Unteraltstadt 16 oder das um 1380/90 errichtete
Haus Grabenstrasse 26 (Streitwolf 2000; JbAS 2006, 290; Tugium 2006, 42).
Lohrum 1992, 254, 258; JbHGLU 1996, 102–114; Untermann 2001, 338;
Eggenberger 2002, 74–95; Uhl 2004.
14.11.2009 14:53:55 Uhr
Archäologie und Bauforschung in der Kleinstadt
27
Abb. 7 Zug, Vorstadt 14. Querschnitt durch den um 1390 erbauten dreiraumtiefen Bohlen-Ständerbau aufgrund der Bauuntersuchungen 1999
bis 2004. Massstab 1:100.
2. Besonders günstige Fundumstände und detaillierte
Bauuntersuchungen erlauben bisweilen die funktionale Deutung der Räume im Obergeschoss: In den beiden Häusern St.-Oswalds-Gasse 10 von 1447 (Abb. 8)
und Oberaltstadt 13 von 1472 fanden sich im Lehmestrich unter dem Bretterboden bzw. an den Bohlenwänden in der gassenseitigen Stube Hinweise auf
den Standort des originalen Kachelofens. Im Mittelraum daneben fanden sich weitere Hinweise auf den
Standort des Kochherds. Damit sind die Deutung
der gassenseitigen Kammer im ersten Obergeschoss
als Stube und die Lokalisierung der Küche gesichert.
Damit ergibt sich für das erste Obergeschoss die gleiche Raumaufteilung wie beim zweigeschossigen dreiraumtiefen Ständerbau. Bei mehreren Stuben wurden
zudem die seitlichen Bohlenwände bemalt.33
Buch SKAM 36.indd 27
3. Für die Nutzung der Kammern im zweiten Obergeschoss liegen weniger gesicherte Hinweise vor. Im
Haus Oberaltstadt 8 wurden im Verlauf der Bauuntersuchung 2005 Einblattdrucke entdeckt, die nach
1524 an die Bohlenwand der Kammer auf der Seite des Ehgrabens geklebt waren. Man denkt an die
berühmte Darstellung in der Luzerner Bilderchronik
des jüngeren Diebold Schilling von 1513, auf welcher
der ehemalige Söldner Hans Spiess aus Ettiswil seine
schlafende Gattin erdrosselt. Neben dem Bett, einer
Truhe und dem Nachttopf findet sich in der Schlafkammer ein Einblattdruck mit einem Kruzifixus über
33
In der Stadt Zug sind einige sakrale und profane Bohlenmalereien vor allem
der Zeit um 1520–1540 bekannt (Twerenbold 2004, 123f.).
14.11.2009 14:53:56 Uhr
28
Archäologie und Bauforschung in der Kleinstadt
Abb. 8 Zug, St.-Oswalds-Gasse 10 (Bauuntersuchung 2007). Der Mörtelestrich unter dem Bretterboden in der Stube im ersten Obergeschoss, datiert
1447. Deutlich zeichnen sich am hinteren Rand die Negative der Schwellen eines Kachelofens ab. Dahinter befand sich die Küche.
dem Bett.34 Die Deutung der Kammern im zweiten
Obergeschoss als Schlafkammern ist aufgrund dieser
Vergleiche naheliegend.
Ein weit verbreiteter Haustyp und seine Funktion
Der ebenerdige dreiraumtiefe Hausgrundriss ist im ländlichen Holzbau des schweizerischen Mittellandes bis ins 18.
Jahrhundert weit verbreitet.35 Spuren dreiraumtiefer Hausgrundrisse des 13. und 14. Jahrhunderts fanden sich bei
Ausgrabungen in vielen Schweizer Städten, z. B. in Laufen
BL, Bern, Wiedlisbach, Unterseen36 oder Burgdorf BE. Es
scheint, dass andere Bautypen, wie das zweiraumtiefe Holzhaus37 oder der Steinbau, im Vergleich dazu seltener waren.
In der Burgdorfer Unterstadt wurden bei dreizonigen Grundrissen die gemauerten Teile im rückwärtigen
Bereich der Parzellen trotz geringer Befunde am aufgehenden Bestand als ehemals frei stehende Kernbauten der
Zeit nach 1280 gedeutet (ähnlich auch in Winterthur).38
Diese «Wohntürmchen» sind jedoch nicht mit den grösseren
Wohntürmen zu vergleichen, wie sie etwa am Neumarkt in
der Stadt Zürich nachgewiesen sind.39 Die geringe Fläche
erlaubt nicht die Einrichtung einer mit einem Kachelofen
Buch SKAM 36.indd 28
rauchfrei beheizten Stube, wozu ja ein Vorraum auf dem
gleichen Geschoss notwendig wäre.40 Vermutlich handelte
es sich bei den vermeintlichen Wohntürmchen um gemauerte im rückwärtigen Teil der Häuser angeordnete Räume
innerhalb grösserer, dreiraumtiefer Holzbauten. Eine
besondere Parallele ist das 1564–78 erbaute Haus Köpli
in Schwyz. Es handelt sich um einen Blockbau, dessen
«Küchenkammern» im Hinterhaus gemauert sind, während
die Stube wie üblich im hölzernen Vorderhaus liegt.41 Die
Rekonstruktion der dreiraumtiefen Hausgrundrisse mit
34
35
36
37
38
39
40
41
Pfaff 1991, 208; JbAS 2006, 290f.; Tugium 2006, 45–47.
Jäggin 2008.
Die Unterseener Bebauung lässt sich mit jener in mittelländischen Städten
vergleichen (Gutscher 2001, 24).
Z.B. Sempach LU, Gerbegasse 3 (JbHGLU 1996, 104–109).
Die einprägsame Burgdorfer Rekonstruktionszeichnung mit steinernen Wohntürmchen an der Rückseite der Parzellen zeigte grosse Wirkung. In diesem irrtümlichen Sinn habe auch ich früher die Burgdorfer Bauten und ähnliche Häuser aus Wiedlisbach BE gedeutet. Baeriswyl/Gutscher 1995; Boschetti-Maradi
2003; Boschetti-Maradi/Portmann 2004, 30. Zu Winterthur: Wild 2002, 10.
Schneider 1989.
Zur gegenseitigen Abhängigkeit von Küche und Stube: Bedal 2007.
Gollnick/Michel/Wadsack 2005.
14.11.2009 14:53:57 Uhr
Archäologie und Bauforschung in der Kleinstadt
kleinen Kernbauten an der Rückseite der Parzelle muss
nach dem Vergleich mit Häusern, deren Holzbauteile gut
überliefert sind, angezweifelt werden. Nicht nur Untersuchungen in der Stadt Zug zeigen, dass die Holzbauten
oft älter als die ersten Mauern sind.
Häufiger als aufgrund lückenhafter Grabungsfunde vermutet, folgte die erste städtische Bebauung
der Gassenflucht und nicht der Rückseite der Parzelle.
Darauf weisen neben den ältesten Funden in der Zuger
Altstadt aus dem frühen 13. Jahrhundert beispielsweise
auch Spuren aus Villingen und Ravensburg hin. 42 Die
Stuben sind im städtischen Wohnhaus generell direkt an
der Gasse zu suchen, was Funde des 13. Jahrhunderts von
der Metzggasse in Winterthur ZH und vom Rathausplatz
in Laufen BL belegen.43 In der mitteleuropäischen Kleinstadt dürfte seit dem 13. Jahrhundert eine durchgehende
Zeilenbebauung mit etwa 12 bis 18 m tiefen und etwa 5
bis 9 m breiten Ständerbauten weit verbreitet gewesen
sein. Aus methodischer Sicht ist folgendes Fazit wichtig:
Wenn Bauten mit unvollständiger Holzerhaltung nur aus
sich heraus interpretiert werden, besteht die Gefahr, dass
überregionale Grundzüge im Wohnbau nicht erkannt
werden. Nicht nur in der Ur- und Frühgeschichte, sondern auch in der Mittelalterarchäologie ist der Analogieschluss also unentbehrlich für eine Rekonstruktion des
Bestandes.
Neben der Deutung der einzelnen Räume eines
Hauses sind die funktionale Bestimmung ganzer Bauten
und die Struktur der Siedlung weitere Ziele der Siedlungsanalyse. Der dreiraumtiefe Haustyp erfüllte wahrscheinlich verschiedene Funktionen. Es ist anzunehmen,
dass wir anhand archäologischer Funde allein Wirtshäuser nicht von Bäckereien unterscheiden können. Besondere Funktionen können nur dann erkannt werden, wenn
ausnahmsweise vom «Normaltyp» abweichende Spuren
vorhanden sind. Dabei kann es sich z. B. um den Fund
eines Töpferofens, was die Identifikation einer Hafnerei
erlaubt, oder um den Fund einer Feuerstelle mit Wasserkanal – wie in Willisau – handeln, was die Deutung als
Badstube wahrscheinlich macht.44 Einen anderen Fall
stellen jene Steinbauten dar, die ausserordentlich gross
oder mit Bauornamentik geschmückt sind (Abb. 9). Hier
könnte es sich die Bauten sozial höher gestellter Bewohner, etwa der stadtherrlichen Vertreter, oder um öffentliche oder kirchliche Bauwerke gehandelt haben.45 Eine
überregionale Typologie des städtischen Wohn- und
Wirtschaftsbaus könnte vielleicht helfen, zu konkreteren
Aussagen zu gelangen.
Buch SKAM 36.indd 29
29
Abb. 9 Zug, Unteraltstadt 34. Fenster im Erdgeschoss mit wahrscheinlich zugehörigem, aber verkehrt eingesetztem Mittelpfosten der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Lichte Höhe 83 cm. Zu beachten ist
die Qualität der Steinbearbeitung im Mauerwerk. Die Deutung des
ausserordentlichen Fundes in Bezug auf die ehemalige Funktion des
Gebäudes ist unklar.
Der Beitrag der Schriftquellen
für unser Stadtbild
Da eine funktionale Deutung der Wohn- und Wirtschaftsbauten bisweilen schwierig ist, stellt sich die Frage, ob einzelne Häuser anhand von Schriftquellen identifiziert und
so bestimmt werden können.46 Schriftquellen liefern ein
anderes Bild der Vergangenheit als archäologische Funde.
Dies illustrieren drei historische Ereignisse, die für das
Bild der gebauten Stadt Zug bedeutend sind:
1. Schriftquellen berichten über die eidgenössische Belagerung der Stadt Zug ab dem 8. Juni 1352. Die Eidgenossen – allen voran die Zürcher – sollen schweres
Belagerungswerkzeug eingesetzt haben. Nach zwei
42
43
44
45
46
Uhl 2007. Vielleicht sind die Seitengrenzen der Parzellen jünger als die
Hauptbaulinien entlang von Gassen und Ehgräben.
Matter/Wild 1997, 78; Pfrommer/Gutscher 1999, 108–120. Vgl. Uhl 2007.
Badstube Chilegass 15 in Willisau LU (Eggenberger 2002, 154–158); Töpferofen Oberaltstadt 4 in Zug (Roth Heege 2007).
Biforie im Haus Unteraltstadt 34 in Zug (Grünenfelder/Hofmann 1984;
Kettler/Kalbermatter 1997, 134f.). Für die Beurteilung der Inschrift danke ich
Sebastian Scholz, Universität Zürich. Vgl. den Städtliturm in Wiedlisbach BE
(Boschetti-Maradi/Portmann 2004, 25–27).
Vgl. dazu: Schreg 2007, 13–16.
14.11.2009 14:53:57 Uhr
30
Abb. 10 Der Untergang der Altstadt von Zug am 4. März 1435 auf einer Bildscheibe des Adam Zumbach, gestiftet von Hans Paul Stocklin
und Maria Jakobea Hurter 1683. Inschrift: «Zug den 4 Mertz/Anno
1535 [sic!] fritag nach alter fasnacht/Der halbe teil der Alten Statt,/
versunke vast um miter nacht./Darin vill mentschen gros vund klein/
Ertranken, blib ein kind Alein.»
Wochen wurde die Stadt zur Übergabe gezwungen.47
Der Stadtherr Herzog Rudolf IV. von Habsburg liess
1359 die Zuger Stadtbefestigung ausbessern oder
erneut verstärken.48 Anhand von Brandspuren, dendrochronologisch datierten Hinweisen auf den Wiederaufbau ab 1353 sowie eines Belagerungsstollens unter dem
Bergfried lassen sich diese Ereignisse an der Burg Zug,
die damals noch vor den Toren der Stadt stand, archäologisch erfassen.49 In der Stadt Zug hingegen fehlen
gesicherte Spuren der Belagerung. Die Stadtbefestigung
wurde zwar im 14. Jahrhundert mehrfach ausgebessert
und ausgebaut. Die einzelnen Baumassnahmen lassen
sich aber nicht genügend präzise datieren, um sie sicher
mit 1352 in Verbindung bringen zu können.50
2. Anders ist Überlieferung im Fall eines Stadtbrandes,
der sich nur anhand archäologischer Indizien vermuten lässt. Erstens fanden sich in der Stadt Zug mancherorts Spuren einer verheerenden Feuersbrunst, die über
die einzelnen Grundstücke hinaus reichen und daher
nicht als Reste eines lokalen Ereignisses zu deuten sind.
Zweitens gibt es in der Stadt Zug – mit Ausnahme einer
Balkenlage im Innern des Cheibenturms – keine Holzkonstruktion, die sich vor 1371 datieren lässt, während
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Archäologie und Bauforschung in der Kleinstadt
ab 1371 aus der ganzen Altstadt dendrochronologische
Datierungen in grosser Dichte vorliegen: 1371 (Grabenstrasse 4/Lughaus und Oberaltstadt 4), 1372 (Fischmarkt 5/7, Unteraltstadt 16 und Unteraltstadt 21/23),
1373 (Grabenstrasse 42/44), um 1380–90 (Grabenstrasse 26).51 Dies dürfte auf einen Stadtbrand 1371 und den
darauf folgenden Wiederaufbau hinweisen. Trotz des
Stadtbrands behielt die Parzellierung der Stadt bis heute eine erstaunliche Kontinuität. Ein Stadtbrand wird
indessen in keiner Schriftquelle erwähnt. Das älteste
erhaltene Jahrzeitenbuch der Pfarrkirche St. Michael
beginnt aber nach einem Vergleich der hauptsächlichen
Handschrift mit derjenigen in Zuger Urkunden ab
1370.52 Der Grund für eine Neuanlage des Jahrzeitenbuchs, das ja zum Teil eine Art Hypothekenbuch ist,
könnte in einer durch den Stadtbrand erzwungenen
Verschriftlichung der Besitzverhältnisse in der Altstadt
liegen.
3. Ein drittes Beispiel für die quellenspezifisch unterschiedliche Überlieferung ist der Zuger Seeabbruch
vom 4. März 1435. Damals rutschte ein Teil der Altstadt überraschend in den Zuger See ab. Über das
Ereignis und die darauf eingegangenen Hilfeleistungen
berichten das Bürgerbuch der Stadt Zug und das Jahrzeitenbuch von St. Michael (Abb. 10).53 Aus archäologischer Sicht ist der Nachweis der Katastrophe hingegen
schwierig. Die im Bodenprofil erkannte Abbruchkante
wäre ohne historische Überlieferung vielleicht nicht als
Hinweis auf ein derartiges Ereignis gedeutet worden.54
Die Baumassnahmen am Cheibenturm, womit 1439
die offen stehende Nordwestseite mit einem Wehrturm
und einer Sperrmauer neu befestigt worden ist, lassen
sich vermutlich auch nur im Licht der Schriftquellen als
Folgen des Seeabbruchs deuten.55
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48
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50
51
52
53
54
55
Glauser 2002, 103–115, besonders 110.
Henggeler, Schlachtenjahrzeit, 66, 287f.; Gruber/Iten/Zumbach 1952–1964,
Nr. 36 (21.8.1359); Glauser 2002, 104, 106; Stercken 2006, 46.
Meyer 1996, 53; Grünenfelder/Hofmann/Lehmann 2003, 78–91; Roth Heege 2005; Boschetti-Maradi/Hofmann 2006.
Z.B. der Ersatz der vielleicht beschädigten Ringmauer bei den Häusern
Grabenstrasse 22–30 und der Zwingermauer im Norden der Altstadt (Kolinplatz 4). Vgl. Boschetti-Maradi/Hofmann/Holzer 2007, 114–118.
Aklin/Horat 1993, 18; Tugium 1995, 40; Tugium 2006, 42; Streitwolf 2000,
103f.; JbAS 2006, 290; Boschetti-Maradi/Hofmann/Holzer 2007, 116. Ferner: Archiv der Kantonsarchäologie Zug.
Gruber 1957, 17f.
Gruber 1957, 80; Gruber/Iten/Zumbach 1952–1964, Nr. 795. Vgl. auch:
Birchler 1959, 405; Bergmann 2004, Kat. 238.
Tugium 2008, 46–48 (Unteraltstadt 14a).
Boschetti-Maradi/Hofmann/Holzer 2007, 126f.
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Archäologie und Bauforschung in der Kleinstadt
Die schriftlichen und die archäologischen Quellen ergänzen sich in allen drei Fällen und geben den historischen
Ereignissen ein unterschiedliches Gewicht. Es ist zu vermuten, dass dies auch dann der Fall wäre, wenn wir neben eine
archäologische Rekonstruktion der Stadt des 13. oder 14.
Jahrhunderts ein Bild der Stadt aufgrund von Informationen aus Schriftquellen jener Zeit stellen könnten. Gerade
deshalb wäre ein «historisches Stadtbild»56 für die Stadtarchäologie sehr aufschlussreich. Wo fand gemäss historischer
Überlieferung z. B. der Markt statt, in welchem Gebäude
war das Rathaus untergebracht? Für die Zuger Stadtarchäologie sind die schriftlichen Hinweise auf die städtische
Topografie – besonders vor dem Seeabbruch 1435 – von
grösstem Interesse. Allerdings fliessen die Schriftquellen
31
in der Stadt Zug bis ins späte 15. Jahrhundert spärlich.57
Eine Ausnahme bilden neben Urkunden einzig die Jahrzeitenbücher der Pfarrkirche aus der Zeit ab etwa 1370.
Dort sind Hausbesitzer erwähnt sowie der Markt (und
ein alter Markt), Mühlen, die Namen von drei parallelen
Gassen, die Schifflände, eine Badstube etc.58 Diese Hinweise müssten aufgrund ihrer gegenseitigen Beziehung im
Rahmen eines historischen Stadtkatasters genau lokalisiert
werden, um sie für die Archäologie nutzbar zu machen.59
Nicht nur die Stadt Zug, sondern auch andere Kleinstädte
zeichnen sich leider durch eine spärliche schriftliche Überlieferung geradezu aus.60 Dies scheint die Kehrseite der aus
archäologischer Sicht in mancher Kleinstadt ausserordentlich günstigen Quellenlage zu sein.
56
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Vgl. z. B. Gerber 2003, Abb. 254.
Erst im Jahr 1471 beginnen die Ratsprotokolle, 1597 die Bauamtsrechnungen, ungefähr 1673 die Protokollbücher der Grundpfandversicherung,
1681 die Protokollbücher der Kauf- und Tauschverschreibungen und 1813
die Lagerbücher der Gebäudeversicherung. Regesten der Ratsprotokolle sind in einer Datenbank erfasst. Die anderen Quellen im Staatsarchiv
Zug (E50/500001–500005 und 50018–50020) und im Bürgerarchiv Zug
(A2/19).
Vgl. dazu: Dittli 2007.
Gruber 1957. Der Historiker Thomas Glauser hat für die Erfassung der lokalisierbaren Einträge in den Jahrzeitenbüchern 2005 ein Konzept für die
Kantonsarchäologie Zug verfasst.
Sydow 1992, 27.
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32
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Abbildungsnachweis
1 Schmidt 1936
2 Kimmig 1992
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Chronik»), Repro Badri Redha, Archäologischer Dienst des Kantons Bern
4b Archäologischer Dienst des Kantons Bern, Foto Kantonsarchäologie Zürich
5 Luftbild Schweiz, Sammlung Walter Mittelholzer, M1-001738
6 Kantonsarchäologie Zug, Sabina Nüssli Bouzid
7–8 Kantonsarchäologie Zug, Foto (7) u. Zeichnung (8) Markus Bolli
9 Kantonsarchäologie Zug, Foto Toni Hofmann
10 Museum Burg Zug Inv.-Nr. 8587
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L’image de Fribourg en 1200: entre vue de l’esprit et réalité
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Gilles Bourgarel
L’image de Fribourg en 1200: entre
vue de l’esprit et réalité
Originaire d’Italie, la tradition de la vue cavalière des villesétats s’est largement diffusée dans les pays germaniques et
elle connut un véritable succès dans les villes suisses aux
XVIe et XVIIe siècles. A Fribourg, l’image de la ville est devenue une véritable icône connue et reconnue de tous depuis
la diffusion des gravures de Martin Martini (1606 et 1608).1
Dès lors, il n’est pas surprenant qu’on ait essayé très tôt
de proposer une restitution graphique de la ville à ses origines.
1944: l’ère des certitudes
En 1944, l’architecte Augustin Genoud publiait une «vue de
Fribourg au XIIe siècle» (fig. 1) et présentait un «plan de la
ville en 1157»2 (fig. 2), l’année de sa fondation dont la date
avait été découverte vingt ans plus tôt grâce à de méticuleux
recoupements, par l’historien Pierre de Zurich.3 Ce n’est pas
par hasard si cet architecte, excellent dessinateur, a choisi de
représenter le Bourg de fondation dans une vue cavalière du
sud, soit presque sous le même angle de vue que celui adopté par Martin Martini et avant lui, par Grégoire Sickinger en
1582.4 S’appuyant sur les travaux de Pierre de Zurich et sur
la Handfeste de 1249,5 qu’Augustin Genoud a pris à la lettre, il a disposé des maisons isolées dans les aires de soixante
par cent pieds,6 soit de 17,60 m par 29,30 m, implantées
parallèlement aux axes principaux de la ville, la Grand-Rue,
la rue du Pont-Suspendu et la rue des Chanoines prolongées
par la rue des Bouchers. Il a entouré ces quarante maisons
et leurs dépendances par de puissantes murailles, renforcées
à l’ouest par le château zaehringien doté de sa tour maîtresse habitable, d’un puits et de dépendances, le tout également ceint d’une muraille indépendante de celle de la ville.
Notons que ces enceintes sont détachées du domaine bâti
et du parcellaire de manière à laisser un espace défensif libre
selon les préceptes de Vitruve. Cette ville apparaît comme
une véritable citadelle qui abritait quelques 200 à 250 habitants au milieu de laquelle trône la première église SaintNicolas dotée d’une nef à bas-côtés, d’un transept et d’un
chœur à chevet plat sur le modèle de l’église d’Hauterive,
alors en construction. Cette représentation a déjà été
contestée par Marcel Strub en 1957 dans sa description de
la ville à ses origines où il qualifie la proposition d’Augustin
Genoud de «cité jardin avant l’heure»,7 alors que les maisons
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Fig. 1 Vue de Fribourg au XIIe siècle.
Fig. 2 Plan de Fribourg au XIIe siècle. Essai de reconstitution.
avaient du être construites en ordre contigu dès l’origine. Il
y conteste également la présence d’une enceinte enserrant
le Bourg primitif, conformément aux conclusions que Pierre de Zürich tirait déjà en 19248 et que reprenait Heribert
Reiners en 1930.9 Augustin Genoud, qui connaissait par
1
2
3
4
5
6
7
8
9
Lauper 1997, 3–15.
Genoud 1944, 1–18.
De Zurich 1924, 21–92.
Encre de chine et détrempe sur papier entoilé (210 x 4120 cm), exposé au Musée
d’Art et d’Histoire, Fribourg.
Lehr 1880, 134.
Dubler 1975, 13–18
Strub 1957, 345–351.
De Zurich 1924, 206.
Reiners 1930, 8.
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L’image de Fribourg en 1200: entre vue de l’esprit et réalité
Fig. 3 Fribourg, plan général du Bourg de fondation; traits gras: maisons analysées, en grisé: ravins et fossés; traits gris: essai de répartition des aires,
avec indications du nombre de maisons; C: château; A: abattoirs; AQ: aqueduc; MJ: maison de justice; E: enceinte; P; porte orientale.
ailleurs très bien les maisons de la vieille ville, s’est appuyé
sur la présence des murs de soutènement en tuf qui constituent le bas de certaines façades des immeubles des rangs
de maisons bordant le plateau Bourg. Il attribue en effet ces
murs de tuf aux premières constructions de la ville, ce qui
n’est pas faux en soi, mais il n’a pas pris en compte la mise
en œuvre, d’où ses conclusions erronées, mais les preuves
viendront bien plus tard. Malgré ces erreurs manifestes, les
qualités graphiques ont valu à cette vue une large diffusion, et ce bien après sa première édition. En 1984, elle a été
reprise dans un manuel d’histoire suisse destiné aux écoles
primaires.10 On y doutait pas de son bien-fondé! Mais le
succès ne s’est pas arrêté en si bon chemin puisque la vue a
de nouveau été publiée dans une série de vulgarisation en
langue allemande «Fundort Schweiz»11 en 1988, traduite
en français cinq ans plus tard.12 Dans cette publication, au
demeurant bien faite, la vue de Fribourg en 1200 n’est pas
reprise pour illustrer uniquement la ville de Fribourg, mais
bien une ville au Moyen Âge, dont l’enceinte englobait
non seulement des quartiers densément bâtis, mais aussi
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des espaces libres occupés par des jardins, des vergers ou
des champs. Cette vision se rapproche plus de Fribourg au
début du XVe siècle, mais ne correspond pas au quartier
du Bourg, même au XIIe siècle. En effet, à l’opposé d’un
cas comme Glanzenberg, fondée vers 1250 par la famille
des seigneurs de Regensberg, où l’espace central forme un
ensemble de champs et de jardin à l’abri des murailles,13
à Fribourg, les espaces libres se situaient à l’extérieur du
Bourg de fondation. Les auteurs peuvent en être excusés,
car les premières fouilles archéologiques ayant apporté de
nouvelles données et permis de comprendre la physionomie du Bourg durant la seconde moitié du XIIe siècle n’ont
été publiées qu’en 1989,14 les recherches étant restées au
point mort durant près d’un demi-siècle.
10
11
12
13
14
Dorand et al. 1984, 150–151.
Tauber/Hartmann 1988, 116.
Tauber/Hartmann 1993, 116.
Drack 1992, 201–205.
Bujard/Broillet 1989, 168–180.
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L’image de Fribourg en 1200: entre vue de l’esprit et réalité
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Fig. 4 Fribourg, essai de reconstitution du Bourg de fondation à la fin du XIIe siècle.
1998: un premier essai de restitution
En 1992, une exposition organisée par le Service archéologique au Musée d’Art et d’Histoire nous a donné
l’occasion de présenter, entre autres, une première fois
les résultats des recherches archéologiques menées depuis
1980 dans la vieille ville de Fribourg à un large public,
le catalogue accompagnant l’exposition offrant également des présentations des recherches médiévales qui
ne se limitaient plus au sous-sol, mais se développaient
aussi dans les élévations.15 C’est à cette occasion que
nous avons pu découvrir l’impact de la vue d’Augustin
Genoud au travers du regard étonné et décontenancé des
élèves des cinquième et sixième primaires quand nous
leur expliquions la genèse de la ville de Fribourg en flagrante contradictions avec leur manuel scolaire. La surprise était d’autant plus grande qu’ils découvraient que le
contenu des publications quelles qu’elles soient ne reflète
pas toujours la vérité et que même leur instituteur pouvait se tromper! Il était dès lors nécessaire de leur expliquer également la genèse des connaissances et le long
chemin que les résultats des recherches doivent parcourir
pour être vulgarisés dans des manuels scolaires, même si
depuis 1957, les historiens locaux n’ont plus contesté le
fait que les maisons avaient été construites en ordre contigu dès l’origine.16 Cet exercice a aussi mis en évidence
la force des images, surtout quand elles sont de qualité, et
fait apparaître la nécessité de proposer une nouvelle vue
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de la ville à ses origines. Les connaissances acquises en
1992 apportaient les preuves de la construction des maisons en ordre contigu dès l’origine, mais il fallait encore
en préciser l’aspect comme les matériaux de construction, sans compter encore le manque de renseignements
au sujet des fortifications. Les données archéologiques,
ayant pu être complétées de manière significative durant
les années qui suivirent, permettaient dès lors de tenter
une restitution du quartier du Bourg vers 1200 qui ponctuait un ouvrage consacré au Bourg de fondation.17 Précédée d’un plan du Bourg (fig. 3), la vue dessinée alors
par Willfried Trillen18 reprenait fatalement le même angle
de vue que celle d’Augustin Genoud, car il était indispensable de pouvoir les confronter et les comparer et elle a
été réalisée à l’encre de chine, un rendu en couleur, n’était
pas envisageable car il aurait donné un aspect trop réaliste
à une vue qui comportait encore de nombreux aspects
purement hypothétiques. Il ne s’agit que d’un essai de
restitution qui doit rester une base de réflexion (fig. 4).
La différence entre les deux restitutions est saisissante et met en lumière la difficulté de proposer des
images fiables des réalités matérielles de l’histoire urbaine
15
16
17
18
Bourgarel 1992, 191–192.
Waeber-Antiglio/Chatton 1981, 391–392.
Bourgarel 1998.
Bourgarel 1998, 143.
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L’image de Fribourg en 1200: entre vue de l’esprit et réalité
Fig. 5 Image de la première ville de Fribourg.
en ne se basant que sur les sources écrites, le cadastre
et de trop rares observations sur le bâti lui-même. Souvent par leur silence, les textes ont induit les historiens en
erreur et nul n’aurait pu imaginer la présence d’un rang
de maisons détruit lors de la reconstruction de l’église
Saint-Nicolas dès les années 1280, si l’introduction du
réseau du gaz naturel n’avait mis au jour leurs caves,19 car
les textes ne comptent pas une ligne sur ces démolitions
de maisons dont les propriétaires ont assurément dû être
dédommagés. Cette découverte impliquait également
de réduire la taille de la première église et de la déplacer
à l’ouest, mais l’édifice reste à fouiller. Les textes sont
également peu prolixes quant à l’aspect des maisons et
leurs matériaux et les rares indications qu’on y trouve se
encore une avérées trompeuses. En effet, on pensait que
la pierre n’avait été généralisée qu’à partir du XIVe siècle,20
alors que ce processus s’est produit à la fin du XIIe siècle
déjà. Quant aux fortifications, si aucun vestige du donjon
zaehringien n’est conservé, la découverte en 1992 d’un
tronçon de la première enceinte occidentale a permis de
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la situer correctement, sept mètres à l’est de son tracé supposé, ainsi que d’en restituer la hauteur et le rapport avec
les maisons.21 Enfin, l’emplacement de la première porte
orientale a été découvert grâce à l’analyse de l’immeuble
de la Grand-Rue 36.22
En 1998 déjà, des doutes sérieux sur la configuration de la partie occidentale des défenses du Bourg émanaient de l’absence de trace tangible du fameux fossé séparant le Bourg du château et nous avions indiqué en pointillé sur le plan du Bourg le prolongement du parcellaire
du rang sud de la Grand-Rue en direction de l’actuelle
place de l’Hôtel-de-Ville. Par ailleurs, le rang de maisons
bordant le flanc nord du Bourg n’avait encore été l’objet
d’aucune investigation archéologique, l’implantation des
maisons étant simplement déduite du parcellaire et cal-
19
20
21
22
Schwab 1984, 90-128.
Waeber-Antiglio/Chatton 1981, 392.
Bourgarel 1998, 127–130.
Bourgarel 1998, 68–71.
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L’image de Fribourg en 1200: entre vue de l’esprit et réalité
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Fig. 6 Plan général du Bourg de fondation; traits gras: maisons analysées, en grisé: ravins et fossés; traits gris: essai de répartition des aires, avec
indications du nombre de maisons; A: abattoirs; AQ: aqueduc; MJ: maison de justice; E: enceinte; P; porte orientale; T: tour zaehringienne.
quée sur les observations faites sur les flancs sud et oriental, alors sans aucune preuve.
2007: l’ère des images de synthèse
Le jubilée du 850e anniversaire de la fondation de Fribourg était bien sûr une occasion rêvée pour proposer
une nouvelle «image de la première ville de Fribourg»
(fig. 5) qui pouvait tenir compte des derniers résultats
des recherches. Nous y avons sérieusement songé, mais
avons abandonné le projet, car le thème principal choisi
par le Comité d’organisation des festivités était l’histoire
contemporaine, le Moyen Âge ayant été celui du 800 e
anniversaire.23 L’idée est revenue en dernier stade de la
rédaction de l’ouvrage officiel du jubilée d’inclure un
CD-ROM didactique accompagnant le livre, comprenant
une animation retraçant la création de la ville réalisé par
Frima-1606 du Service Public de l’Emploi.24 Le Service
archéologique a été sollicité in extremis pour ce projet et
n’a eu le temps que d’actualiser le plan du Bourg25 (fig.
6), mais pas de proposer une nouvelle image de la ville
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à ses origines pour guider la réalisation de l’animation,
mais simplement d’indications tirées des publications du
Service archéologique. Le résultat final n’a pas pu être
validé par les archéologues avant sa diffusion et comporte
de nombreuses erreurs qui ressortent d’autant plus que
l’image de synthèse, bien sûr en couleur, est réaliste dans
le rendu des matériaux et des surfaces. Une partie de ces
défauts sont inhérents au peu de temps à disposition. Les
réalisateurs de cette animation ont été contraints de puiser leurs images dans des banques de données existantes,
alors qu’ils auraient du créer une partie de ces données
pour qu’elles soient adaptées aux réalités de l’époque. Par
exemple, les toitures sont couvertes de tuiles, alors qu’elles
devraient être en tavillons ou en bardeaux et beaucoup
moins pentues. Les façades, reproduites en série à différentes échelles, sont en grande partie anachroniques, tout
23
24
25
Voir note 7 et Catalogue 1957.
Gasser/Grandjean 2007.
Bourgarel 2007, 49.
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40
comme l’aspect de la première église Saint-Nicolas avec
son clocheton revêtu de cuivre et ses fenêtres baroques.
Ces défauts ne sont perceptibles que par les spécialistes,
car le spectateur est entraîné dans l’animation et n’a pas
le temps d’observer ce genre de détails qui ne se révèlent
vraiment que sur arrêt de l’image. Ce que le spectateur
retient de l’animation reste une vision générale qui n’a
pas le même impact que celui d’une image fixe.
Les principales corrections amenées à la restitution de 1998 concernent la partie occidentale du Bourg,
soit le prolongement du rang de maisons méridional de
la Grand-Rue à l’ouest, sur la place de l’Hôtel-de-Ville et
la suppression du fossé entre le château et la Grand-Rue.
Les preuves de l’absence de fossé à cet emplacement ont
été acquises en 2000, lors de l’analyse de l’immeuble de
la Grand-Rue 726 et la certitude que le rang de maison
se poursuivait à l’ouest en 1998 déjà, grâce aux investigations menées dans la Maison de Ville et son annexe.27
Depuis 2003–2004, les découvertes de la Grand-Rue 10
et surtout les datations dendrochronologiques obtenues
dans cet immeuble du rang sud apportent les preuves que
la pierre a été mise en œuvre dans la construction des maisons avant 1186 et pas seulement de manière sporadique,
mais généralisée en tous cas dans le Bourg de fondation.28
L’excellent état de conservation des parties les plus anciennes de cette maison offre des éléments de comparaison
fiables. Ainsi, est-il possible d’affirmer aujourd’hui que
les parties les plus anciennes de la Grand-Rue 4 ne sont
pas postérieures à 1200. Par contre, la muraille qui prolonge ce rang de maison à l’ouest pour se retourner, longer le fossé de la Grand-Fontaine puis rejoindre l’enceinte
occidentale reste on ne peut plus hypothétique et n’avait
certainement ni l’aspect ni la forme qui lui ont été donnés.
Si l’emplacement précis de la tour restera conjecturel, il est
aujourd’hui quasiment certain qu’elle devait s’élever sur
une butte naturelle qui a été arasée lors de la création de
la place de l’Hôtel-de-Ville dès 1463.29 En effet, l’absence
totale de vestiges, pas même de fosse d’arrachement, sur
la place de l’Hôtel-de-Ville, pourtant totalement dégagée de ses revêtements en 1989, indique clairement que
l’aménagement de la place ne s’est pas fait que par la simple destruction des constructions qui s’y trouvaient, mais
a aussi impliqué le nivellement du terrain, dont les matériaux étaient d’ailleurs indispensables au comblement du
ravin barrant l’éperon du Bourg de fondation et atteignant
une profondeur d’environ 18 m pour une largeur de 40 m
à son embouchure qui a été comblée à la même époque
pour créer la place Notre-Dame.30
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L’image de Fribourg en 1200: entre vue de l’esprit et réalité
La partie occidentale du Bourg de fondation n’est
pas la seule à rester encore tributaire d’une bonne part
d’hypothèses. Malgré plus de 140 maisons ayant fait
l’objet d’investigations, dont 15 d’entre-elles datées par
dendrochronologie aux XIIe et surtout au XIIIe siècle,
l’aspect des constructions civiles du premier siècle de
la ville est toujours mieux connu, mais reste et restera
toujours composé d’une part de conjectures, car aucune
construction de cette époque n’est intégralement conservée. Les plans des maisons sont connus avec une assez
grande exactitude et leur volumétrie peut être restituée
avec beaucoup de vraisemblance, si ce n’est précisément,
mais l’aspect des façades, la couleur des murs restent
encore largement hypothétiques. Si les formes des ouvertures desservant les niveaux de caves et de celliers sont
bien reconnues par les exemplaires conservés, celles des
façades sur rue ne se basent que sur quelques fragments
d’encadrements découverts en fouilles, de rares témoins
en place et les vues de Sickinger et Martini,31 ce qui rend
les restitutions de façades encore aléatoires.
Enfin, sans fouilles archéologiques, il n’est pas
même possible de restituer le plan de la première église
Saint-Nicolas, tout au plus son emplacement est mieux
connu, délimité à l’ouest par le cimetière et à l’est, par le
rang de maison découvert en 1980, soit un espace d’une
quarantaine de mètres de longueur: pas de quoi proposer
une restitution fiable du premier sanctuaire fribourgeois!
Vers quelles nouvelles représentations?
La question de proposer de nouveaux essais de restitution
de la ville de Fribourg à ses origines ne se pose même
plus aujourd’hui, pas plus qu’elle ne se pose pour d’autres
sujets et ne devrait pas poser de problèmes si les éléments
hypothétiques sont clairement identifiables. En effet, les
images sont partout aujourd’hui et les grandes productions cinématographiques comme les émissions télévisuelles didactiques inondent le monde de leurs images
de synthèse qui sont parfois difficiles à discerner de la
réalité. Tant et si bien qu’il est inconcevable d’envisager
une parution archéologique sans illustrations et que
les ouvrages qui doivent se limiter au noir et blanc, le
font pour des raisons budgétaires, si ce ne sont pas des
26
27
28
29
30
31
Bourgarel 2001, 22–29.
Bourgarel 1999, 9–14.
Bourgarel 2007, 37–41.
De Zurich 1924, 164–174.
Leckebusch 1995.
Bourgarel 2005, 70–77.
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L’image de Fribourg en 1200: entre vue de l’esprit et réalité
ouvrages d’art. Par ailleurs, la réalisation d’essais de restitution constitue un outil de recherche en soi, encore plus
efficace quand il amène la réalisation de maquettes, car
tous les défauts qu’une vue ou des plans cachent apparaissent au grand jour et impliquant de trouver les solutions
architecturales appropriées ou de réviser les hypothèses
erronées, en tous cas les points boiteux sans pour autant
garantir la véracité. Cette dernière est tributaire en premier lieu des éléments conservés et étudiés, qui restent
fragmentaires dans la grande majorité des cas. Le degré
de fiabilité des restitutions dépend donc avant tout du
degré de conservation de l’objet restitué. Pour la période
considérée, vers 1200, il faut admettre que les connaissances en matière d’urbanisme restent très limitées sur
l’ensemble du Plateau suisse et que les propositions de
restitutions sont peu nombreuses ou limitées à des monuments ou des portions urbaines restreintes. Leur diffusion reste en général limitée aux ouvrages ou aux revues
spécialisées, donc relativement faible. La diffusion qu’a
connue la vue d’Augustin Genoud a été plutôt exceptionnelle dans ce domaine, mais cet exemple démontre
qu’une fois publiée, les auteurs ne sont plus maître de
l’usage de leurs restitutions. Les possibilités qu’offrent les
outils informatiques dans ce domaine sont toujours plus
étendues et si aujourd’hui les images de synthèses à haute définition ne sont pas encore à la portée de la grande
majorité des chercheurs, la rapidité de l’évolution laisse
présager que ces moyens seront de plus en plus accessibles à tous. Il conviendra dès lors de résister à la facilité
en évitant de proposer des images de restitutions dont le
degré de réalisme ne correspond pas à niveau des connaissances concernant l’objet de la restitution, ce qui est
arrivé avec l’animation réalisée pour le 850e anniversaire
de Fribourg. Ces risques restaient beaucoup plus limités
avec les techniques de dessin traditionnelles qui limitent
41
naturellement le degré de réalisme et permettent facilement d’estomper les éléments trop hypothétiques par
le choix de l’échelle, du point de vue et de la technique
de dessin, les restitutions très réalistes restant exceptionnelles, telles celles que Jörg Muller avait réalisées
pour l’exposition «Stadtluft, Hirsebrei und Bettelmönch.
Die Stadt um 1300».32 Les nouvelles technologies repoussant les limites du réalisme des restitutions toujours plus
loin, les chercheurs doivent donc prendre toujours plus
de responsabilités lors de leur réalisation afin de ne pas
proposer des images qui risquent de fausser la réalité, car
elles ne reposent pas sur des bases suffisantes comme l’a
été la restitution d’Augustin Genoud. Tant que la diffusion de ces images reste dans les mains des scientifiques,
les risques qu’elles soient utilisées à mauvais escient sont
très limités, mais une fois publiées ou diffusées sur internet il n’y plus aucun contrôle. Le degré de réalisme des
vues de restitution doit donc être intimement calqué sur
celui des connaissances et de l’état de conservation de
l’objet restitué. Dans le cas des villes jusqu’à la fin du
Moyen Age, le réalisme des restitutions de Jörg Muller ne
peut quasiment jamais être atteint sans une grande part
d’extrapolation et de telles vues doivent rester des instruments de réflexions dûment commentés. L’avenir dira si
une codification des restitutions virtuelles doit s’imposer
de manière à bien pouvoir discerner la part de l’acquis
de celle des suppositions dans de telles représentations
de la même manière que les compléments apportés aux
objets incomplets doivent se distinguer des parties originales. Quoiqu’il en soit, il paraît raisonnable de laisser
dès aujourd’hui l’hyperréalisme aux auteurs de fictions
pour ne pas courir le risque de voir les hypothèses scientifiques devenir la réalité des manuels scolaires et d’autres
ouvrages de vulgarisation, sans pour autant renoncer à un
outil de travail indispensable.
32
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Catalogue 1992, 81, 380, 382–391.
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L’image de Fribourg en 1200: entre vue de l’esprit et réalité
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Strub 1957 – Marcel Strub, L’image d’une ville zaehringienne, in: Société d’histoire/
Geschichtsforschender Verein/Ville de Fribourg/Etat de Fribourg (éd.), FribourgFreiburg 1157-1481. Ouvrage à l’occasion du huitième centenaire de la fondation de Fribourg, Fribourg 1957, 327–357.
Tauber/Hartmann 1988 – Jürg Tauber/Fanny Hartmann, Das Hochmittelalter. Von
den Karolingern zur grossen Pest (Fundort Schweiz 5), Solothurn 1988.
Tauber/Hartmann 1993 – Jürg Tauber/Fanny Hartmann, La Suisse médiévale. Des
Carolingiens à la Grande Peste, Lausanne 1993.
Waeber-Antiglio/Chatton 1981 – Catherine Waeber-Antiglio/Etienne Chatton,
L’architecture du Moyen Age et du XVIe siècle, in: Roland Ruffieux (dir.), Histoire du canton de Fribourg 1, Fribourg 1981, 380–410.
De Zurich 1924 – Pierre de Zurich, Les origines de Fribourg et le quartier du Bourg
aux XVe et XVIe siècles (Mémoires et documents publiés par la Société d’histoire
de la Suisse romande XII), Lausanne 1924.
Abbildungsnachweis
1 Genoud 1944, fig. 1, 5
2 Genoud 1944, fig. 2, 7
3 Bourgarel 1998, fig. 151, 125
4 Bourgarel 1998, fig. 165, 14
5 Gasser/Grandjean 2007
6 Bourgarel 2007, 49
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History and archaeology, the history of archaeology, and the archaeology of archaeology
43
Geoff Carver
History and archaeology,
the history of archaeology,
and the archaeology of archaeology
The following is part of a larger study of archaeological
methodology. One of the themes the author has been
examining is there are significant differences in the ways
archaeologists from different countries excavate, and
what this might mean for archaeology as a discipline. 1
One of the problems in answering this is that – overall
– archaeological methodology tends not to be well documented. This is especially marked in histories of archaeology, i.e. Bahn, Trigger etc., which tend to emphasise
theoretical trends or milestones (Pompeii, Troy, Tutankhamun).2
Among other things, documenting methodological differences uncovers cultural differences in what
archaeologists expect archaeology to achieve, which
in turn reflect differences in defining what archaeology
means. Historically a distinction is made between archaeology and antiquarianism, but even within the contemporary landscape we “translate” the English-language
discipline of archaeology into two German disciplines:
Archäologie and Ur- und Frühgeschichte. The present study
contrasts German and English-language archaeologies
because they provide a clearer contrast than – for example – the French or Scandinavian models, both of which
share elements derived from both English-language and
German traditions. This dichotomy may also be more
familiar to more readers than such “exotic” alternatives
as – for example – their Polish or Japanese equivalents.
Among other things, Ian Hodder notes that “it is widely
recognized that German archaeologists dig with a different method,”3 but mentions no other archaeological
tradition.
German Archäologie – which can be traced back
to Winkelmann and has its roots in art history – is and
has been associated with what Anglo-American archaeologists consider to be the sub-discipline of Classical
Archaeology, while prehistoric archaeology is a separate
discipline, with separate university departments and
institutes, societies, etc., and known either as Ur- und
Frühgeschichte or Vor- und Frühgeschichte. The significance
of these distinctions can be illustrated by attempting to
Buch SKAM 36.indd 43
translate Binford’s famous adage that “archaeology is
anthropology or it is nothing” into German. Bernbeck,
Veit and Kümmel do not even try.4 It may also be worth
noting that – while Binford5 might be right about USAmerican archaeology (where archaeology tends to be
taught as a sub-discipline of anthropology, together with
cultural and physical anthropology and linguistics), early
Canadian archaeology was often done by geologists and
published in geological journals.6 In Britain archaeology
might be thought of more in terms of being a prehistoric
extension to history:
“Archaeology is that branch of science which is concerned with past phases of human culture; in practice
it is concerned more, but not exclusively, with early
and prehistoric phases than with those illustrated by
written documents.”7
And to confuse Binford even further, German Anthropologie usually only refers to what Anglo-Americans know
as physical anthropology.
To avoid unnecessary complications, the present
study will focus on the history of evolution from British
antiquarianism to archaeology, largely because this welldocumented and relatively simple example suits present
purposes.
The genealogy of archaeology
The general consensus among the historians seems to
be that antiquarianism could only have ’evolved’ into
archaeology through the ’diffusion’ of the ideas of uniformitarianism, the 3-age System, and evolution. For
example:
“Three major intellectual currents reached fruition
in the middle of the nineteenth century, setting the
1
2
3
4
5
6
7
Carver 2004; Carver 2006.
Bahn 1996; Trigger 1989 and Trigger 2006.
Hodder 1999:9.
Bernbeck 1997:37; Veit 1998:122; Kümmel 1998:122.
Binford 1962:217.
Mackie 1995:181.
Crawford 1960:15.
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44
History and archaeology, the history of archaeology, and the archaeology of archaeology
conceptual basis for archaeological interpretation.
First… the geologist Charles Lyell proposed his principle of superimposition, or uniformitarianism… Second,
Thomsen and Worsaae proposed the three-age system…
Third, Charles Darwin published his Origin of Species.”8
Another variation includes “the antiquity of humankind,
Darwin’s principle of evolution, and the Three Age System”,9
while Glynn Daniel specifies the three contributory sources
for prehistoric archaeology:
“Prehistoric archaeology as we know it has three contributory sources – the advance of geology, the pushing
backwards of the frontiers of history by archaeological
means and, thirdly, the growth of archaeological technique out of antiquarianism.”10
Although these are English-language classifications, and
complicated by the fact that, in Britain, at least, “Archaeology and the study of prehistory have often been seen
as virtually identical”,11 a similar pattern may be found in
other traditional histories:
“At the start, in the middle of the nineteenth century,
French prehistoric archaeology was influenced both by
the natural sciences, geology and paleontology, and by
the new-born cultural anthropology. From the former
two, it borrowed a chronological frame and notions of
stratigraphy… From the latter, it acquired an ethnological vision of prehistoric man. From all three, it adopted
the leading paradigm of the century: evolutionism.”12
There are any number of variations on this theme, but
repetition of the basic elements seems to indicate fairly
widespread consensus amongst the historians of the discipline; a consensus which masks a lack of critical examination of the original sources. John Stuart Mill13 for example,
argued that actualism – one aspect of uniformitarianism
– is an assumption which must be made in any historical
study, and Stephen Jay Gould14 showed how the four different meanings of geologist Charles Lyell’s uniformitarianism included a circular model of time that would someday see dinosaurs returning to England:
“Then might those genera of animals return, of which
the memorials are preserved in the ancient rocks of our
continents. The huge iguanodon might reappear in the
woods, and the ichthyosaur in the sea, while the pterodactyle might flit again through umbrageous groves of
tree-ferns.”15
Geologists, meanwhile, described uniformitarianism as “a
creed which grew to be almost universal in England… but
which never made much way in the rest of Europe, and
which in its extreme form is probably now held by few
Buch SKAM 36.indd 44
geologists in any country.”16 Similarly, careful reading17
suggests something which should seem logical to anyone
coming from an archaeological tradition more closely tied
to art history than is the case with Anglo-Americans; and
that is, that in some ways the famous reorganisation of the
prehistoric section of the Danish Museum of Antiquities
was a prehistoric extension of the classification system
already in use in the historical sections of the museum:
“In the rooms, which, by a happy coincidence, have
partially preserved the successive styles of the different
periods, there has been arranged… in strict chronological order, a rich and valuable collection of portraits of
members of the royal family, and of the celebrated men
who surrounded them; costumes, furniture, personal
ornaments, arms, and other objects characteristic of the
style of each epoch, and of which the printed descriptions will give a clearer idea.”18
And what does evolution really have to do with archaeology – the systematic description or study of human antiquities (i.e. not ancestral hominid forms) – anyway? The
point is that systematic discipline of archaeology could
have evolved from antiquarianism without the need for
imported theory; that – given enough data and a systematic excavation methodology – archaeology would eventually have derived its own body of theory. It might also be
worth noting how – in keeping with antiquarian wishes to
counter the “shafts of ridicule”19 – archaeologists generally
do not seem to criticise their predecessors for their theoretical failings (lack of uniformitarianism, 3-age system or
evolution), but rather on methodological grounds. Stukeley, for example, “left the scantiest records”20 while others
are criticised for generally bad field work,21 bad drawings,22
digging too many barrows, 23 or ignoring skeletons.24
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
Redman 1999:49.
Renfrew and Bahn 2000:25.
Daniel 1975:54.
Van Riper 1993:214.
Audouze and Leroi-Gourhan 1981:170.
John Stuart Mill 1882:223-234.
Stephen Jay Gould 1965; 1978:150-151.
Lyell 1990:123; cf. Rudwick 1975.
Geikie 1901:281; cf. Prestwich 1895.
See the division between “heathen” and “Christian” sections in Worsaae and
Thoms 1849.
Worsaae 1881:61. Compare Petrie 1893:127-128.
Pettigrew 1846:1.
Crawford 1960:24.
Pitt-Rivers 1892:107; Pitt-Rivers 1898a:58-59; Pitt-Rivers 1898a:180; PittRivers 1898b:22; Hawkes 1973:51; Noël-Hume 1953:11.
Pitt-Rivers 1892:253.
St. George Gray 1905:xvi; Noël-Hume 1953:11; Wheeler 1954:94.
Pitt-Rivers 1898a:136; 1898b:18-19.
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History and archaeology, the history of archaeology, and the archaeology of archaeology
Given these shortcomings, one might be forgiven
for wanting to use a definition of archaeology as “the discipline with the theory and practice for the recovery of
unobservable hominid behaviour patterns from indirect
traces in bad samples.”25 One way to bypass these problems (and Clarke’s cynicism) is to use a definition of
archaeology that emphasises excavation, since this definition also contrasts the theoretical approach with a more
practical one, consistent with critiques of antiquarianism
and our predecessors in general: “The systematic description or study of human antiquities, especially as revealed
by excavation.”26 And it could be argued that methodology was ultimately more important – more fundamental –
to the evolution of archaeology from antiquarianism than
theory was. But what was antiquarianism? Since formal
definitions vary almost as much as they do for ’archaeology’, a contemporary example will illustrate the concept.
The “antiquarian way”
A fairly typical article published in the British journal
Archaeologia begins:
“It is but a very imperfect account I can give you of a
late discovery, in the antiquarian way, made in Ireland;
however it is the best I am able to offer. About the year
1780, two pieces of antiquity were found in a bog in
West-Meath, unaccompanied with any thing else of
note.”27
The author recognises his own limitations: he can only
offer a “very imperfect account” of a “late discovery.” He
answers the question of how this discovery was made –
“in the antiquarian way” – in a way which suggests that
Pegge was sure his contemporaries would have understood what this meant. We, however, must excavate – as
it were – Pegge’s meaning from the text. We are told that
“About the year 1780, two pieces of antiquity were found
in a bog in West-Meath, unaccompanied with any thing
else of note.” When? ”About the year 1780.” Even ignoring the delay between discovery and publication – and
archaeologists still have not solved that problem – Pegge
did not know what year these things were found. Pegge
also did now know where they were found: “In a bog in
West-Meath.” Given Ireland’s association with bogs, peat
and Irish Elk, it seems safe to assume that there are many
bogs in West-Meath, and this detail becomes misleading;
an example of what statisticians call “spurious precision.”
Pegge did now even know how they were found. “Two
pieces of antiquity were found”. Not excavated, discovered, or dug up: simply “found in” this mysterious
Buch SKAM 36.indd 45
45
“antiqua”. In other words: this “antiquarian way” is not
excavation but accidental discovery, often by some farmer
with a plough. This method of discovering artifacts was
common enough to be mentioned in poetry, e.g. Wiliam
Wordsworth:
“The unlettered ploughboy… when he wins
The casual treasure from the furrowed soil”.28
The biggest problem with Pegge’s example is that he does
not answer the most important question in any detective
novel: whodunit? Who found these “two pieces”? We
don’t know. And this lack of authority ultimately casts
doubt on what actually might be the most important
detail, the one about context and the statement that these two “pieces” were “unaccompanied with anything else
of note.” Who said so? Since the unknown person who
“found” them – a farmer, perhaps? Wordsworth’s ploughboy? – and Winckelmann, Schliemann, Pitt-Rivers, Binford, Hodder, etc., would all have different definitions of
what is significant or important or noteworthy, we need to
know this. And we don’t. So it is suggested that – although
antiquarianism has come to be ridiculed largely because
this “antiquarian way” was anything but scientific – this
’lack of science’ had nothing to do with the 3-age system,
uniformitarianism or evolution, but rather with the basics
of scientific methodology.
The great debate
The distinction can be illustrated by examining one of the
key debates relating to the problem of associating stone
tools with the remains of extinct fauna. Brixham Cave
was investigated by a “Cave Committee” that included
Sir Charles Lyell and was organised by The Royal Geological Society.29 A preliminary report30 was presented to
the Royal Society a few months before Darwin published
On the Origin of Species in 1859, the year of Glynn Daniel’s
Antiquarian Revolution. The debate took place between
Charles Babbage – a mathematician and computer pioneer31 – and Joseph Prestwich, one of the geologists sent by
the Geological Society to the Brixham excavation. To be
fair, it should be noted that Babbage did not reply directly to the Brixham evidence but rather to an extract from
25
26
27
28
29
30
31
Clarke 1973:17.
OED 1997.
Pegge 1789:84.
Wordsworth 1994:275.
Van Riper 1993:82.
Prestwich 1860.
Swade 2004.
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46
History and archaeology, the history of archaeology, and the archaeology of archaeology
a letter Hugh Falconer read at the Geological Association
regarding a similar case from Grotta di Maccagone in Sicily.
Falconer – “a recently elected vice president of the Geological Society”32 – had been driven south for the winter by
rheumatism. On the way he visited Boucher de Perthes and
his excavations on the Somme, partly to gather comparable
data from a non-cave site in response to some of Lyell’s
concerns.
Babbage argued that stone tools could have been
mixed with the bones of extinct fauna by earthquakes,
because earthquakes sometimes cause cracks in the ground,
and that artifacts could have fallen into these cracks:
“Amongst the phenomena occurring during earthquakes,
it has been observed that large cracks have suddenly opened and as suddenly closed, either immediately or shortly after. During these momentary or temporary openings,
the remains of the arts of man, and even man himself,
may have dropped into the chasm. Under such circumstances, remains of man and his arts might occur in formations of any date.”33
Prestwich agreed: “Rents may have arisen from desiccation
of the surface or from earthquake movements.”34 Babbage goes on to suggest that direct evidence (i.e. besides the
presence of stone artifacts) of such “cracks,” “chasms” or
“rents” might not be visible:
“If it occurred in clay or softer material, the track through
which these remains centred might be partially or even
entirely obliterated. If the cleft occurred in tolerably compact gravel and then immediately closed, it would scarcely be possible at a future period to trace its origin.”35
Prestwich disagrees, however, noting that “such gaps would
necessarily be filled up from the sides or from the surface,
and a vertical seam of matter, differing more or less from
the beds it cut through, would be traceable from the surface
down to the flint-implements”, adding that, at the sites he
visited in the Somme, “there is not the slightest appearance
of such a state of things in these pits.”
Referring back to Babbage’s earthquakes:
“The same objection would apply to openings produced
by earthquake movements, though to a lesser extent, as
such might have closed up again and not remained open
until filled up. Still, with gaps in such loose materials, and
on the assumption that the flint-implements themselves
fell into such gaps, other stones, dirt, and parts of the
walls must inevitably have also fallen down and shown
traces of the presence of materials foreign to the several
beds; this is not the case.”
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Prestwich also noted that, even if such cracks had not
been detected, the overlying stratigraphy had not been
disturbed: “Also the fine lamination common in the bed
of sand… forms continuous and unbroken lines.” As if
that was still not evidence enough, Prestwich notes the
orientation and distribution of the artifacts:
“Besides, as irreconcilable with any contingency which
would have led to the introduction of the flint-implements from the ground above, the flint-implements are
dispersed singly and irregularly, are limited to the one
lower series, and lie apparently flat in the gravel, and
not edgeways or downwards. The specimen extracted
by myself was certainly, and the one found by Mr.
Flower was apparently, in that position.”36
If artifacts like hand-axes had fallen into cracks, then they
should have been distributed along some sort of crack
network, and also aligned in the same direction as – and
wedged into – the cracks, i.e. not “flat in the gravel.” Orientation is still used to distinguish between “the dropped
coin (lying flat), from the re-deposited coin (found on
edge).”37 And even where the orientation of some flints
was uncertain, it could be inferred by discolouration
caused by post-depositional changes in groundwater:
“In a certain proportion of the specimens from St.
Acheul, I have also observed that the two sides of the
flint-implements present a different appearance, being
stained and coloured differently; sometimes one side
is fresh and dark, the other white and with dendritic
markings; others are white on one side and brown on
the other; others again have a calcareous film on one
side only. These appearances may arise from the specimens having lain between differently coloured seams
of the gravel, or from the percolation of water lodging
on one surface more than on the other; but in no case
could it have arisen had they been edgeways or endways in the gravel. In such positions one end, portion,
or segment might be stained or marked differently to
the other end or another portion, but the two flat sides
could not possibly have been immersed each in a different medium, in the way indicated by their present
condition.”38
32
33
34
35
36
37
38
Van Riper 1993:78.
Babbage 1859:68-69.
Prestwich 1860:300.
Babbage 1859:69.
Prestwich 1860:300.
Carver 1990:102.
Prestwich 1860:300.
14.11.2009 14:54:02 Uhr
History and archaeology, the history of archaeology, and the archaeology of archaeology
And so on. The debate continued – Victorians loved
detail; as is obvious from their architecture, furniture,
and novels by people like Dickens – but this sample
should be sufficient for present purposes. Overall, this
was not a fair fight. Babbage was a mathematician, and
whatever qualities he may have had as a mathematician,
he was unlucky enough to be debating a professional
geologist, just about the time when geology was becoming a discipline, partly by excluding amateurs with
their wonderful theories but little in the way of firsthand, practical experience in the field.39 Babbage’s argument certainly was not helped by his conjectures on hippo bones,40 nor an earlier where Babbage had tried to
use “uniformitarian principles” to argue that the moon’s
craters had been formed by coral reefs.41 But his biggest
problem might have been the fact that he was responding to Hugh Falconer’s earlier reports on evidence from a
cave in Italy, whereas Prestwich was presenting new evidence from Brixham and the Somme which was intended to address any shortcomings in the Italian evidence.
But most importantly – and in contrast to the order in
which this debate has been presented here – Babbage
presented his paper after Prestwich had spoken. One can
only imagine Babbage’s humiliation, having to stand
and read a paper full of criticisms that had just been
addressed…
At any rate: fighting Babbage was also easy because
his paper is so full of hypothetical cases, so many things
which might or could have happened – even “extra” caves
for which there was no evidence – that he strains credibility, especially when compared to Prestwich’s numerous
– even excessive – first-hand observations. Ultimately,
though, nothing Babbage or any number of other critics said really mattered, because people like Prestwich
and Falconer and others always had one insurmountable
argument to fall back on: personal experience. Prestwich
was there, he saw it, and Babbage did not. At a time
when a gentleman was true to his word, Babbage’s only
recourse was to accuse Prestwich either of having been
deceived or lying, neither of which – one assumes – a
gentleman would do.
But questions of good manners and breeding
aside, this touches back on the origins of archaeology
as a means for addressing the shortcomings of written
documents, of a systematic, scientific reaction against
medieval scholasticism, an approach which emphasised
personal experience and first-hand evidence over the
Bible and Aristotle.
Buch SKAM 36.indd 47
47
Autopsia
If he needed to cite an authority, Prestwich could appeal
to Bacon and the idea of autopsia: “In a passage which has
often been quoted in the last thirty years the fifteenthcentury Byzantine humanist Manuel Chrysoloras used
the term autopsia – in other words eyewitnessing, seeing
with one’s own eyes – to refer to the evidence of material remains such as sculptures for what kinds of arms the
ancients had, what kind of clothes they wore... how they
formed lines of battle, fought, laid siege.”42
Prestwich could play on the myth of the liminal
experience43 contrasting armchair and field geologists in
a way that should be all-too-familiar to archaeologists
today.44 Mostly, though, Prestwich could appeal to common-sense scepticism, a reaction against past theoretical
abuses of the kind which had made early geology a target
of ridicule;45 scepticism still found in the divide between
many ’theoretical’ and ’field’ archaeologists, and which
might be one of the reasons why – for example – postprocessualism has apparently had so little impact on field
methods. For in contrast to Prestwich, Babbage only had
hypotheses – theory – to fall back on, at a time when theory was not held in high regard. We can see this reflected
in contemporary views of what – as has been noted –
Anglo-Americans now consider to be the foundations
of their discipline: the 3-age system (critiques directed
against uniformitarianism and evolution have already
been noted).
Revisionist history
Despite its prominence in relatively recent histories of
the discipline, the 3-age system does not seem to have
made much of an impression when first translated into
English. A reviewer did not find of Thoms’ translation
of Worsaae’s Primeval Antiquities of Denmark particularly
praiseworthy:
“The system of classification adopted is that of three
periods – the stone, the bronze, and the iron, – to
which all the antiquities preceding the epoch of Christianity are referred. Although this arrangement may be
open to objections, it would, perhaps, be difficult to
39
40
41
42
43
44
45
Van Riper 1993: 26, 45, 51-53, etc.
Babbage 1959: 69-72.
Babbage 1847.
Burke 2003:276.
Cf. Rudwick 1996.
Cf. Bahn 1999:13-15.
Cf. Lyell 1990:225 [footnote].
14.11.2009 14:54:02 Uhr
48
History and archaeology, the history of archaeology, and the archaeology of archaeology
substitute a better, it being of course understood that
objects which abound in one period may occasionally
be found in another. ”46
British antiquaries visiting Denmark seem to have been
similarly unimpressed. An article published in the Archaeological Journal as late as the pivotal year of 1859 makes no
mention of Thomsen’s collections, noting the classification of “noble collection” in the Danish Ethnographic
Museum’s collections instead:
“1. Nations not possessing or previous to possessing
the use of metal.
2. Nations possessing the use of metal but destitute of
literature.
3. Nations possessing the use of metal, and having a
literature of some kind.”47
There were also the views of such prominent antiquaries as
Thomas Wright, whose “emphatic rejection” of the threeage system meant “he had virtually to deny the existence
of a prehistoric period, and so Bronze Age swords had to
be contemporaneous with the Romans.”48
Prestwich did not deal with any of these things.
Despite the fact that the “Cave Committee” of which he
was a member did not set out to prove the 3-age system,
uniformitarianism or evolution, 1859-1860 has been
selected as the date of the glorious antiquarian revolution, when antiquarianism was replaced by the science
of archaeology. Among the many problems with Glyn
Daniel’s scenario is that this “antiquarian revolution”
only seems to have happened in British archaeology, and
only if the word “archaeology” is understood to mean
prehistoric archaeology. It also reflects a mindset which
values theory over practice. We have Bruce Trigger’s
History of Archaeological Thought,49 for example, but no
comparable work on the History of Archaeological Practice.
Is it any wonder, then, that the “antiquarian revolution”
was not depicted as a victory for the author’s own area of
research: archaeological stratigraphy…? But there’s something else that really bothers me with the standard histories of archaeology, and that is the way everyone before
about 1860 just seems to disappear.
Der Archäologe
This leads back to another definition, that “archaeology
is what archaeologists do.”50 Who, then, are the archaeologists? Comparison of names of “archaeologists” listed
in a number of histories and introductory overviews of
archaeology produced surprisingly different selections.51
The sources are:
Buch SKAM 36.indd 48
– Paul Bahn’s Bluff Your Way in Archaeology (1999);
– Oxford Concise Dictionary of Archaeology (Darvill 2003);
– Wörterbuch Archäologie [Archaeology Dictionary] (Gorys
1997);
– Das Abenteuer Archäologie: Berühmte Ausgrabungsberichte
aus dem Nahen Osten [original English title: The Treasures
of Time: Firsthand accounts by famous archaeologists of their
work in the Near East] (Deuel 1974);
– Der große Augenblick in der Archäologie: Auf der Suche nach
den Spuren der Vergangenheit [The Great Moment in Archaeology: Searching for Traces of the Past] (Richardi 1977);
– “The Great Archaeologists: Biographical notes” listed
in the back of a compendium of archaeological articles
from the London Illustrated News (Bacon 1976: 419-422);
– “Important movements in archaeology and some major
figures associated with them” (Trigger 1989: 10-11 [fig.
1]) [omitted from Trigger 2006; cf. Klejn 2006: 142]);
– A series of portraits included in an exhibition on the
founding fathers (Berghaus 1983) of archaeology (Berghaus and Schreckenberg 1983);
– The online edition of the Dictionary of National Biography (DNB 2004);
– An online list of “Archaeologists and Related Scientists” maintained by K. Kris Hirst at http://archaeology.about.com/od/biographies/;
– A list of authors of antiquarian articles published in
Archaeologia, the Philosophical Transactions of the Royal Society, the Antiquaries Journal, the Journal and Transactions of
the British Archaeological Association, the Athenaeum [U.S.],
Notes and Queries and The Gentleman’s Magazine dating
until approximately 1880 and referenced elsewhere.52
These lists were chosen primarily because of their accessibility. Except for the “Archaeologia” sample, the names
were not culled from possibly misleading indexes or lists
of citations: they were specifically identified as archaeologists or, as in Deuel, authors of the original sources, and
in Richardi, chapter titles. There is a degree of randomness in the sample53, but this will be true of any survey.
46
47
48
49
50
51
52
53
Anonymous 1850:161-162.
Westwood 1859:139.
Thompson 2004.
Trigger 1989.
Clarke 1973:6.
Cf. Carver forthcoming.
Carver forthcoming.
In that the sources were readily available from a number of public and university libraries in the USA and Germany, online, and from the author’s private collection.
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History and archaeology, the history of archaeology, and the archaeology of archaeology
More important is the degree to which the lists both contradict and complement each other, reflecting differences
not only between – for the sake of consistency – Englishlanguage and German archaeology, but also variations on
sub-discipline (Classical and Near-Eastern, theory, etc.),
historical depth, etc.
Despite the ostensibly humorous intent, Bahn presents 10 names in his short introduction. His inclusion of
Nabonidas and the Leakeys help define archaeology by
contrasting it with pre-archaeological investigations and
palaeontology. With a total of 213 names (including such
non-archaeologists as Darwin, Hutton, Lyell and Libby),
Darvill is comprehensive and comparative. Although his
emphasis is British, he has attempted to give an international perspective. Gorys – in keeping with the more limited
German discipline of Archäologie – lists only 47, primarily
“classical” archaeologists. This contrast between English
and German archaeologies is also found in Richardi’s
popular account (17 names) and – to some extent – in
Berghaus and Schreckenberg, while Deuel’s Near Eastern
emphasis (21 names) complements Gorys’ classicism. The
British bias in Bacon’s sample is perhaps understandable,
given that these notes were intended to identify 30 archaeologists associated with the London Illustrated News. Hirst
– like Darvill – aims at being international, and diverse.
Her list of 358 names includes more women than the other
lists, as well as those of a number of “ancient authors” (Ptolemy, Plato, Thucydides, etc.) of interest to archaeologists.
Trigger – in contrast to Darvill in particular – includes the
names of a number of archaeologists still living. His specialised selection, focusing on archaeological thought – and
eventually the more specialised subfield of “theory” – complements Richardi and Deuel, who emphasise “adventure”
and fieldwork, respectively.
These examples largely represent contemporary
“archaeology”, divided into national variants and subdisciplines. The subject being archaeology, though, the
time dimension must also be taken into account: the
historical dimensions of the discipline, and the contrast
between archaeology and antiquarianism. This is most
evident when considering that – for example – Goethe,
Aldrovandis, several popes and Bulwer-Lytton are included among the 179 collectors, travellers and researchers
identified as “archaeologists” in the portrait catalogue.54
To some degree the Berghaus and Schreckenberg sample
reflects not only the difficulties of identifying amateur
practitioners of a nascent discipline, but also the uncertainties of how disciplines are to be defined, themes
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49
which recur when examining the Dictionary of National
Biography (DNB). This exclusively British list of 1105
antiquaries, 171 archaeologists and 5 prehistorians (as of
August 2007) provides an example of the range of variation the other lists may have provided had they been
more comprehensive. The DNB also draws attention to
problems of classification, identifying Thomas Bateman,
Lily Frances Chitty, and Sir Henry Edward Leigh Dryden
as both “archaeologists” and “antiquaries.” Similarly, Sir
(John) Grahame Douglas Clark, Dorothy Annie Elizabeth Garrod and Mervyn Popham Reddaway are both
“archaeologists” and “prehistorians,” while (Vere) Gordon Childe is both a “prehistorian” and “labour theorist,” but not an “archaeologist.” These “headwords” are
chosen by the DNB contributors as “specialist authors”
to “best identify the principal ’fields of interest’ by which
the subject is now known and gains a place in the dictionary.”55 This resource has proven particularly useful
for identifying a number of the antiquaries cited in the
Archaeologia sample. This last sample is the least systematic, the 257 names (at the time of writing, not including anonymous entries or untraceable pseudonyms or
initials in the Gentleman’s Magazine) representing the
author’s idiosyncratic research interests. The emphasis
here – being part of an attempt to evaluate the practicality of even trying to document the early history of
archaeological field methods through published reports
– was not on identifying landmarks or what was “typical”
but of what was actually done. In this sense, perhaps,
it is significant that 170 of the authors included in the
Archaeologia list were not found on any of the others.
So who are they?
Given the caveats about methodology – this is probably
what Clarke would have called a “bad sample” – the results
are revealing nonetheless. Of the 2080 names found on
these lists, the most common is Schliemann, appearing 10
times (he is missing from the Dictionary of National Biography because of his citizenship).
He is followed by (Names and Number of mentions):
– Sir Henry Creswick Rawlinson, 8;
– Howard Carter, Sir Arthur Evans, Layard, Woolley, 7;
– Petrie, Pitt-Rivers, 6;
– Belzoni, Louis Leaky, Stukeley, Thomsen, and Winckel54
55
Berghaus and Schreckenberg 1983.
Philip Carter, personal communication.
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50
History and archaeology, the history of archaeology, and the archaeology of archaeology
mann, Wheeler, Sir Max Edgar Lucien Mallowan, 5.
There is some degree of consensus, then, that these
are archaeologists and – according to David Clarke’s definition – that what they did was archaeology. Granted: this
represents a small and not particularly random sample, and
only further research will indicate whether these conclusions are valid or not. But the problem is that there seems to
be something about writing either histories of – or introductions to – archaeology which leads to an emphasis being
placed upon “great men” and their spectacular discoveries.
Which means that, if “archaeology is what archaeologists do,” and the best the experts can agree on is that
Schliemann and Rawlinson were archaeologists, then what
Schliemann did at Troy and Rawlinson’s decipherment of
cuneiform is archaeology, however far this may seem to be
from what most people who call themselves archaeologists
do nowadays. What is most interesting was just how few of
these names – Schliemann and Rawlinson, especially, but
also Belzoni and Leakey – actually did what we would now
call archaeology. Rawlinson never excavated, and Louis
Leakey is generally viewed as being a palaeoanthropologist,
and some might know Mallowan only – if at all – as having
been Agatha Christie’s husband.
And yet these are the names of people listed in the
histories of our discipline – as examples, as milestones –
even though they are not really representative of what as
professional archaeologist do every day. And in a lot of
cases, some of the most interesting people – like Charles
Roach Smith and E. B. Price, both of whom reported
extensively on Roman remains found while sewers were
being installed in London in the middle of the 19th century – rarely appear outside the list of references cited in
the author’s own research. But if this is how the history
of our own discipline is misrepresented – or misinterpreted – when we have documentary evidence available, then
how accurate can our interpretations of prehistoric societies be? To say that Schliemann or Rawlinson are examples of archaeologists is almost like saying Tutankhamun is
representative of Ancient Egypt – or Stonehenge is representative of the Neolithic – when clearly they are not. So
this brings us back to this idea of autopsia, and how the
first archaeologists – predating even Winckelmann – had
used antiquarian techniques – had studied material culture
as part of this scientific reaction against medieval scholasticism: placing more importance on personal experience
and first-hand evidence than the Bible and Aristotle. Antiquarian research became necessary when it became obvious
just how incomplete, unclear, and/or contradictory documentary evidence – classical texts, written history – can be.
Some examples of the kinds of questions antiquaries tried
to answer include attempts:
– to associate names in Roman itineraries with actual
places;56
– to determine the exact date when Caesar landed in Britain;57
– to identify what the Romans meant by the term “Samian“ ware (what is now more widely known as Terra
Sigillata).58
Such attention to detail was also ridiculed by such people
as Robert Burton. In his famous work, Anatomy of Melancholy59 Burton grouped “curious antiquaries” with “supercilious critics, grammatical triflers, note-makers” who “puzzle
themselves to find out how many streets in Rome, houses,
gates, towers, Homer’s country, Aeneas’s mother, Niobe’s
daughters … What clothes the senators did wear in Rome,
what shoes, how they sat, where they went to the closestool, how many dishes in a mess, what sauce.” And so
long as documentation is interpretive and/or incomplete,
archaeologists still only have Prestwich’s solution as our
ultimate authority: I was there, I saw that. Or, as Indiana
Jones always said: “Trust me.”
Ultimately, these are not processual, post-processual
or even cultural-historical questions. They are not about
English or German or even Swiss archaeology. They are
questions of methodology – fieldwork – analytical scale and documentation technologies. And in the end they
relate to some of the most basic questions of philosophy:
how do we know something? And – more important for
archaeologists, as scientists – how do we prove it?
56
57
58
59
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E.W.S. 1852; E.W.S. 1853; Still 1853.
Halley 1686; H.L.L. 1846; Robson 1866a; Robson 1866b; Dunkin 1846.
Kempe 1844; Chaffers 1844; Chaffers W.1845; Chaffers W. W. C. 1845; Price
1844; Price 1845; Birch 1845:567.
Burton 1850:72.
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History and archaeology, the history of archaeology, and the archaeology of archaeology
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52
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Archäologie und Geschichte
53
Georges Descœudres
Archäologie und Geschichte
Unterschiedliche Überlieferung – unterschiedliche Wirklichkeit?
Wer sich mit historischer Archäologie befasst, macht
immer wieder die leidige Erfahrung, dass Fragen an die
Geschichte, die sich aufgrund gegebener Funde und
Befunde stellen, von den Schriftquellen gar nicht oder
nur unzureichend beantwortet werden. Umgekehrt ist der
Historiker, der an Erkenntnisgrenzen stösst, nicht selten
der Meinung, die Archäologen müssten nur mal graben,
dann wäre das Problem gelöst. Liest man Schriftquellen,
so tut sich eine andere Welt auf, als wenn man Funde
und Befunde einer Ausgrabung oder einer baugeschichtlichen Untersuchung analysiert.1 Man hat oftmals den
Eindruck, dass Schriftquellen und Sachgüter unterschiedliche Realitäten spiegeln, die in manchen Fällen kaum in
Übereinstimmung zu bringen sind.
Latrinengrube im Innenhof des Hauses
«Zur Glocke» in Winterthur
Ein glückliches Beispiel, bei dem ein gesicherter Bezug
von Sachgütern und Schriftquellen beigebracht werden
konnte, stellt eine Ausgrabung dar, die von der Zürcher
Kantonsarchäologie 1985 im Innenhof des Hauses «Zur
Glocke» in Winterthur durchgeführt und von Lotti Frascoli ausgewertet und publiziert wurde.2 Zwei an einen
Hinterhof angrenzende Häuser bildeten seit dem Spätmittelalter einen gesamtheitlichen Komplex im Sinne
von Vorderhaus und Hinterhaus, wobei die Häuser selber baugeschichtlich nicht untersucht werden konnten.
In diesem Hinterhof ist ein spätmittelalterlicher Brunnenschacht sekundär als Latrine verwendet worden. Die
angetroffene Füllung stammte aus dem letzten Viertel des
17. Jahrhunderts sowie aus dem Beginn des 18. Jahrhunderts. Wenig überraschend bestand die Latrinenfüllung
aus unbrauchbar gewordenen Haushalt-Gegenständen
wie Hohl- und Flachglas, Ofen- und Baukeramik, hölzernen und textilen Überresten, einigen Gegenständen
aus Metall und Bein, ferner Tonpfeifen und vielem anderen mehr.
Beim überwiegenden Teil der Funde handelte es
sich um Gefässkeramik unterschiedlichster Art. 3 Dazu
gehörte eine Gruppe von insgesamt 23 Gefässen und
Gefässdeckeln, welche auf der Unterseite ein Monogramm vereinzelt in Kombination mit einem Datum
aufwiesen: «HR» und «HRS» waren die häufigsten
Inschriften (Abb. 1), daneben auch einzelne mit einem
«C». Zugehörige Jahreszahlen, soweit als Ganze lesbar,
situieren sich zwischen 1673 und 1700. Die Inschriften,
welche von unterschiedlichen Händen teils aufgemalt,
teils eingeritzt wurden, geben die Zeit der Herstellung
oder des Gebrauchs an. Bei diesen Stücken handelte es
sich nicht um repräsentative Gefässe; sie dürften aus dem
täglichen Gebrauch stammen. Zu erwägen ist eine Verwendung im Zusammenhang mit dem familiären Gewerbebetrieb.4 Hinsichtlich der sozialen Einstufung der «in
der Latrine der Liegenschaft «Zur Glocke» gefundenen
Keramik mit ihrem Anteil an bemalter Fayence, an qualitativ hoch stehenden Gefässen mit Unterglasurmalerei
sowie an importiertem Steinzeug» beurteilt Lotti Frascoli
das Material als zu einem nicht unvermögenden Haushalt gehörig, verweist aber darauf, dass systematische
Untersuchungen zur Einstufung frühneuzeitlicher Keramik-Ensembles fehlen.5
1
Abb. 1 Rückseite von Schüsseln und Deckeln mit dem Monogramm
HRS («Hans Rudolf Sulzer») aus der Latrine des Hauses «Zur Glocke»
in Winterthur ZH.
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2
3
4
5
Grundsätzlich zum Problem Archäologie und Geschichte: Scholkmann 2003;
Eggert 2005, 46–55; Eggert 2006, 197–229.
Frascoli 1997, 46–71.
Frascoli 1997, 60–64.
Frascoli 1997, 65–66.
Frascoli 1997, 69.
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54
Abb. 2 Nachlassinventar des Hans Rudolf Sulzer von 1726 im Stadtarchiv Winterthur (Ausschnitt).
Der Hausstand des Hans Rudolf Sulzer
Soweit der archäologische Befund. Aufgrund von Steuerbüchern, Verkaufsurkunden und Bevölkerungsverzeichnissen, die im Stadtarchiv Winterthur aufbewahrt werden,
lässt sich eine nahezu lückenlose Besitzer- und Bewohnergeschichte des Hauses «Zur Glocke» von der Mitte des 17.
bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts eruieren. Für die Zeit
der erhaltenen Latrinenfüllung war eine Familie Sulzer
Besitzer und Bewohner der Liegenschaft. Hans Rudolf
Sulzer lebte als Familienoberhaupt zusammen mit seiner
Mutter Regula Engelfriedin sowie mit seinen beiden Brüdern Hans Caspar und Johannes Sulzer. Letztgenannter
war selber Vorstand einer mehrköpfigen Familie. Insgesamt lebten damals zehn Personen im Vorder- und Hinterhaus: fünf Erwachsene und fünf Kinder. Hans Rudolf
Sulzer (1657–1726) war im Tuchgewerbe tätig. Im Jahre
1683 zahlte er 8 Pfund und 14 Schilling Steuern, was ihn
als einen wohlhabenden Bürger auswies.6
An schriftlichen Quellen hat sich überdies ein
Nachlassinventar des Hans Rudolf Sulzer aus dem Todesjahr 1726 erhalten (Abb. 2).7 Nach einem Schlaganfall hatte
Sulzer seinen Tuchhandel dem jüngeren Sohn übergeben,
der sich in diesem Geschäft auskannte. Der ältere Sohn Elias, ein Kunstmaler, der ständig in Geldnöten war, verlangte
nach dem Tod Hans Rudolf Sulzers die Auszahlung des
väterlichen Erbes. Dies war der Anlass, weshalb die Stadt
die Aufnahme eines Nachlassinventars verfügte. Neben
zwei Liegenschaften sowie etlicher Gold- und Silbermünzen umfasst das Inventar verschiedenen Hausrat aus Silber
und aus Holz, etliche vergoldete Silbergefässe, ferner Bronze-, Kupfer- und Zinngeschirr, im Weiteren Bettwaren,
Waffen und sonstiges, darunter 110 Bücher und 46 Bilder.
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Archäologie und Geschichte
Vergleicht man das Nachlassinventar, das mehr
als tausend Gegenstände auflistet, mit dem wenig älteren
Inhalt der Latrinenfüllung im Hinterhof, so stellt man fest,
dass praktisch keine im Inventar aufgezählten Haushaltgegenstände in der Abfallgrube erfasst werden konnten.8
Die wichtigsten Fundkategorien Keramik, Trinkgläser und
Glasflaschen finden sich nicht im Nachlassinventar, und
umgekehrt ist ausser einem kleinen Randfragment von
einem Zinnteller kaum eine der Materialkategorien des
Nachlasses in der Latrine vertreten. Einen einzigen, wenn
auch indirekten Bezug gibt es zwischen einer Tabakdose
und einer Tabakbüchse aus Silber des Inventars zu den
zahlreichen in der Latrine geborgenen Tonpfeifen, welche
auf einen oder zwei Raucher im Haushalt hinweisen.
Divergenz der archäologischen und der
schriftlichen Überlieferung
Man kann also festhalten, dass sich in unserem Fall Sachgüter und Schriftquellen auf geradezu ideale Weise ergänzen. Es ist aber – das muss deutlich festgehalten werden –
eine seltene Ausnahme, dass Archäologie und Geschichte
in dieser Weise ineinander greifen. Stellen wir uns aber
einmal vor, welches Bild zu gewinnen wäre, wenn wir
allein die Sachgüter oder nur die Schriftquellen zur Verfügung hätten.
Hätten sich keine Schriftquellen zum Haus «Zur
Glocke» erhalten, so wäre es aufgrund der Latrineneinfüllung bei der Annahme einer oder zwei wohlhabender
Bürgerfamilien als Hausbewohner geblieben. Hauseigentümer, Namen und Lebensdaten der Hausbewohner, die
ganze soziologische Zusammensetzung der Haushalte
wären ohne Schriftquellen unbekannt geblieben. Auch
die Auflösung der Monogramme «HR» und «HRS» sowie
von «C» wohl für den Bruder Caspar wäre nicht möglich gewesen. Nicht einmal das Gewerbe, das die Familie bzw. der Hausvorstand betrieb, hätte aufgrund des
vorliegenden Fundgutes ermittelt werden können. Am
schwersten würde freilich die Unkenntnis des im Nachlassinventar aufgezählten Hausrates wiegen. Denn nur
mit der Kenntnis des Inventars lässt sich die Gesamtheit
der materiellen Ausstattung des Haushaltes einigermaßen
abschätzen. Das Beispiel lehrt, wie wenig wir von einer
Abfalldeponie auf die Gesamtheit eines Hausstandes
rückschliessen können.
6
7
8
Frascoli 1997, 64–65.
Frascoli 1997, 67–69.
Frascoli 1997, 69.
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Archäologie und Geschichte
Umgekehrt blieben dem Historiker, der sich ohne
Kenntnis des vorliegenden Fundmaterials ein Bild von
der materiellen Situation der Bewohnerschaft des Hauses
machen möchte, wesentliche Artefakte des täglichen
Gebrauchs verborgen: Tisch- und Küchengeschirr, Vorratsgefässe und Trinkgläser. Auch grundsätzliche Fragen
wie Beschaffenheit und Örtlichkeit der Haushaltdeponie
lassen sich aus den Schriftquellen nicht ermitteln. Das
Beispiel zeigt mit aller Deutlichkeit, dass die Realität, die
uns die Sachgüter vermitteln, deutlich von jener Realität abweicht, die sich allein aufgrund von Schriftquellen
gewinnen lässt.
Woher rühren die unterschiedlichen Realitäten,
wie sie uns die schriftliche und die materielle Überlieferung vermitteln? Die Antwort ist eine zweifache: Erstens
bedeutet Überlieferung immer Selektion. 9 Und zum
Zweiten ist die Selektion der schriftlichen Überlieferung
eine andere als jene der materiellen Überlieferung.
Bleiben wir beim Hausstand der Familie Hans
Rudolf Sulzer. Zuerst muss daran erinnert werden, dass
eine Haushalteinrichtung traditionellerweise Generationen überdauert. Just zu diesem Zweck wurde das Nachlassinventar erstellt. Darin fehlen jedoch ganze Gruppen
von Sachgütern, wie uns die Latrinenfüllung des Hauses
zeigt. Die schriftliche Überlieferung trifft dahingehend
eine Selektion, dass vor allem die kostbaren Haushaltgegenstände inklusive die Gefässe aus Bunt- und Edelmetall aufgelistet werden, tägliche Gebrauchsgegenstände
wie Keramik und Glas jedoch unerwähnt bleiben. Die
Schriften überliefern das Ungewöhnliche, das Spektakuläre, die Sachkultur hingegen das Gewöhnliche, das
Alltägliche. Beides ist jedoch nur ein Ausschnitt aus dem
Ganzen. Arnold Esch, der sich intensiv mit Fragen der
historischen Überlieferung befasste, hat die Präferenz
schriftlicher Quellen für das Aussergewöhnliche auf die
griffige Formel gebracht: «Ein Gramm Pfeffer wiegt mehr
als eine Tonne Salz.»10
Auch die materielle Überlieferung ist selektiv.
Natürlich war aus der Sicht der Familie Sulzer die Entsorgung von unbrauchbar gewordenen Haushaltgegenständen nicht als Überlieferung im Sinne der Bewahrung
intendiert, als was sie dem Archäologen erscheint. Aufgrund der Inventarliste wird jedoch deutlich, dass auch
die Deponie der verschiedenen Materialien eine Selektion erfuhr. Gegenstände aus Metall fehlen weitgehend.
Auch Textilien und selbst Hausrat aus Holz sind in der
Latrinenfüllung deutlich untervertreten. Unbrauchbar
gewordene Holzgegenstände wird man im Ofen ver-
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brannt haben, und aus traditionellen Haushalten wissen
wir, dass Bett- und Tischwäsche erst in der letzten Verwendung als Putzlappen entsorgt werden.
Wir haben das Problem der Überlieferung bisher
aus der Sicht derjenigen Personen betrachtet, die die
entsprechenden Gegenstände in Gebrauch hatten, und
gesehen, dass die schriftliche und die materielle Überlieferung der Artefakte eine verschiedenartige Selektion
erfahren. Eine weitere Selektion findet in der postdepositalen Phase statt, in unserem Fall zwischen 1726 und der
Ausgrabung im Jahre 1985. Erhalten hat sich nicht der
gesamte Abfall, sondern nur ein Ausschnitt von 20–30
Jahren der Sulzer’schen Hausratentsorgung.11 Dieser Ausschnitt ist unter anderem dadurch bedingt, dass danach
eine neue Latrinengrube eingerichtet wurde, deren Inhalt
später durch bauliche Massnahmen verloren ging. Im
Boden hängt die Erhaltung von Materialien wesentlich
von der chemischen Zusammensetzung und von Veränderungsprozessen der Latrineneinfüllung ab. Organische
Materialien sind regelmässig untervertreten, weil sie sich
im Laufe der Bodenlagerung zersetzen oder umgewandelt werden.
Die schriftliche Überlieferung hat ihr eigenes
Schicksal. Die erste Frage ist, ob ein Schriftstück, wenn es
seinen Zweck erfüllt hat und nicht mehr gebraucht wird,
weggeworfen wird oder in einem Archiv Eingang findet.
Dabei macht es bezüglich der Überlieferungs-Chance
einen Unterschied, ob das Schriftstück in einem privaten
oder in einem institutionellen Archiv aufbewahrt wird.12
Da die Aufnahme des Sulzer’schen Nachlassinventars
eine Amtshandlung war, wurde es über seinen unmittelbaren Gebrauch hinaus im städtischen Archiv aufbewahrt. Damit war die erste Hürde genommen, und da es
sich um ein institutionelles Archiv handelte, waren seine Überlieferungs-Chancen ziemlich gut. Archive und
zumal institutionelle sind im Allgemeinen wohl behütete
Schätze, aber wie viel ist durch Brand, Überschwemmung
und Tierfrass zerstört worden! Auch bei den Schriftstücken kann in der postdepositalen Phase nochmals ein
Selektionsprozess stattfinden,13 der wiederum völlig verschieden ist von jenem der Artefakte im Boden.
9
10
11
12
13
Grundlegend: Esch 1985.
Esch 1985, 563.
Schichtenübergreifende Passscherben zeigen, dass immer wieder auch älteres
Material in die Latrine eingebracht wurde (Fascoli 1997, 57–58).
Esch 1985, 537–539.
Esch 1985, 535.
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Unterschiedliche Realitäten
Halten wir also fest: Die schriftliche und die materielle
Überlieferung bilden je eine unterschiedliche Realität ab.
Diese unterschiedlichen Realitäten sind durch die Selektion der Überlieferung bedingt, wobei die schriftliche
und die materielle Überlieferung je einer eigenen und
damit unterschiedlichen Selektionen unterworfen sind,
seien diese intentionell – auf der Ebene der Benutzer der
Materialien – oder ohne Intention wie in der postdepositalen Überlieferungsgeschichte der Artefakte14 ebenso
wie der Schriftstücke.
Grundsätzlich ist die Überlieferung eines Schriftstückes immer eine intentionelle. Verlorene Schriftstücke
sind die grosse Ausnahme. Man kennt sie als Papyri alltäglichen und oft banalen Inhalts im antiken Ägypten
oder als Birkenrindentexte im mittelalterlichen Novgorod.15 Ausnahmsweise stösst man bei einer Hausuntersuchung auf eine Deponie von Schriften, die vergessen
gegangen ist. Die sogenannten «Zürcher Liebesbriefe»
aus der Zeit um 1300, die man im Gebälk des Dachstuhls eines Bürgerhauses am Rennweg gefunden hat,16
sind ein Beispiel dafür. Ausser Gebrauch gekommene
Schriftstücke wie Notizen, Verzeichnisse und Verträge,
die sich überholt haben, werden vielfach weggeworfen,
unterliegen also einer negativen Selektion. Als Kuriosum
sei erwähnt, dass das Staatsarchiv Bern eine ganze Abteilung mit der Bezeichnung «Unnütze Schriften» führt. Für
den Archäologen eher befremdend ist der Umstand, dass
sich darin unter vielem anderen das Tagebuch der in den
1940er Jahren vorgenommenen Ausgrabungen in der Prioratskirche Rüeggisberg befindet. Auch das ist eine Form
der Selektion: Schriften an einem Ort abzulegen, wo man
sie nicht mehr oder wie im vorliegenden Fall nur durch
Zufall findet.
Die Überlieferung von Sachgütern geschieht in
der Mehrzahl der Fälle ohne Intention einer handelnden
Person. Verlorene Artefakte zählen dazu. Dazu gehören
etwa Gegenstände, die man unter Kirchenbänken bzw.
unter dem Holzfussböden finden kann.17 Ein berühmter
Fundkomplex dieser Art wurde 1953 unter dem Chorgestühl der Klosterfrauen in Wienhausen (Niedersachsen)
geborgen.18 Zutage gefördert wurden von Andachtsbildchen und Heiligenfigürchen über Pilgerzeichen und
Rosenkränzen bis zu Pinseln, Brillen, Schreibtäfelchen
und Spindeln. Die über tausend Artefakte, die heute im
Klostermuseum ausgestellt sind, erschliessen ein Universum weiblicher Gelehrsamkeit, Handfertigkeit und Frömmigkeit.
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Archäologie und Geschichte
Zurückgelassene Sachgüter finden sich im Zusammenhang mit Wüstungen und Ruinenstätten und umfassen sowohl architektonische Überreste als auch Artefakte
im engeren Sinn. Als Beispiel sei auf die 1388 gewaltsam
zerstörte Stadt Weesen SG verwiesen, die gemäss den zwischen den Eidgenossen und den Habsburgern abgeschlossenen Landfrieden von 1394 und 1412 nicht mehr am
bisherigen Standort wieder aufgebaut werden durfte.19
Im Gegensatz dazu gibt es auch intentionelle
Überlieferungen von Sachgütern. Ein Beispiel dafür sind
die Kleidung und die Beigaben, die man den Toten mit
ins Grab gab – eine im Frühmittelalter und wiederum
zur Zeit der Gegenreformation verbreitete Sitte.20 Eine
besondere Art der Überlieferung von Sachgütern ist die
Deponie von Kostbarkeiten, etwa von Münzschätzen
oder Gegenständen aus Edelmetall, wie sie zu Zeiten
der Krise vorgenommen wurde. Als Beispiel sei auf den
spätantiken Silberschatz von Kaiseraugst hingewiesen.21
Aus der Sicht des Archäologen handelt es sich dabei um
Hortfunde, wobei naturgemäss nur jene Schätze aufgefunden werden, die der Besitzer oder dessen Vertraute
nicht wieder an sich nehmen konnten. Intentionell ist
zwar die Deponie; zur Überlieferung wird sie jedoch nur
dann, wenn sie ihren Zweck des vorläufigen Verbergens
verfehlt hat.
Es gibt aber auch den umgekehrten Fall, wo eine
Entsorgung von Gegenständen mit der Intention einer
Überlieferung verbunden wird. Wohl der bedeutendste
Fund von Schriften, die ausser Gebrauch gekommen
waren, wurde 1896 in der Genisa der Ben-Ezra-Synagoge
in Kairo gemacht.22 In einem abgeschlossenen Raum, der
Genisa, wurden rund 200 000 Schriftstücke gefunden, die
zwischen dem 8. und dem 18. Jahrhundert entstanden
waren. Unter den aufgefundenen Schriftstücken waren
zahlreiche Abschriften und Kommentare zu alttestamentlichen Büchern; es fanden sich aber auch profane
Schriften von der Heiratsvereinbarung bis zum Kaufver-
14
15
16
17
18
19
20
21
22
Lang 2002, 29–40 (archäologische Taphonomie).
Janin 1995.
Zürcher Liebesbriefe 1988.
Vgl. das 1992 gegründete Inventar der Fundmünzen in der Schweiz.
Appuhn 1973.
Schindler 2001, 21; vgl. Wüstung 1998.
Grab und Grabbrauch 1998; Graenert/Motschi 2005. – Die in der Zeit der
Gegenreformation neuerlich auflebende Sitte von Grabbeigaben wird erst in
jüngster Zeit wahrgenommen (Descoœudres et al. 1995, 78–80; Mittelstrass
2007).
Kaufmann-Heinimann/Furger 1984; Fellmann 2000.
Genisa 1989; Esch 1985, 543f.
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Archäologie und Geschichte
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Gebeine gingen allmählich vergessen. Im Jahr 1982 hat
man bei archäologischen Ausgrabungen den integralen
Umfang des ursprünglichen Beinhauses wieder entdeckt
und die Gipswände eingerissen. Dabei zeigte es sich, dass
zugleich mit dem Verbergen der Gebeine 23 Holzskulpturen deponiert worden waren.25 Es handelte sich dabei
mehrheitlich um Altarstatuen, die zwischen dem ausgehenden 13. und dem frühen 17. Jahrhundert entstanden
waren. Walter Ruppen, der Bearbeiter der Leuker Skulpturen, vermochte für das Wallis eine weit zurückreichende
Sitte nachzuweisen, wonach nicht mehr genutzte Statuen
von Heiligen pietätvoll bestattet wurden.26
Zusammenfassung
Abb. 3 Leuk VS, Beinhaus unter der Pfarrkirche St. Stephan. Die Anfang des 16. Jahrhunderts aufgeschichteten Gebeine (mittlerer Raster)
hat man Mitte des 19. Jahrhunderts durch eingestellte Gipswände verdeckt, welche 1982 wieder eingerissen wurden.
trag. Die Schriftstücke, noch immer nur zu einem geringen Teil bearbeitet und ediert, sind zu verschiedenen
Zeiten ausser Gebrauch gekommen. Wohl aus Gründen
der Pietät hat man sie jedoch nicht vernichtet, sondern
aufbewahrt. Man kann allerdings nicht von einer Archivierung sprechen, denn sie waren materiell und inhaltlich
völlig ungeordnet.
Entsorgt und dennoch aufbewahrt. Dazu gibt es
Parallelen bei den Sachgütern sowie auch bei menschlichen Überresten. In dem Anfang des 16. Jahrhunderts
unter der Pfarrkirche von Leuk VS eingerichteten Beinhaus haben sich Schädelwände und Gebeine von Bestattungen erhalten, die über die Gründungszeit des Ossuars
zurückreichen (Abb. 3).23 Solche Beinhäuser hat es damals
laudauf, landab gegeben. Bei den Gebeinen handelt es
sich ebenfalls um eine Form der pietätvollen Entsorgung
und zugleich der Aufbewahrung d.h. der Überlieferung.
In der Stadt Leuk kommt noch ein Weiteres dazu.
Fast alle Beinhäuser hierzulande wurden im Gefolge der
Aufklärung im 18. oder 19. Jahrhundert ausgeräumt; man
war des ständigen Memento-mori-Mahnmals überdrüssig
geworden. So auch in Leuk. Doch statt das Beinhaus auszuräumen und die Gebeine in einem Massengrab zu deponieren, wie man dies andernorts tat,24 wurden im Beinhaus
von Leuk Mitte des 19. Jahrhunderts Gipswände errichtet
und auf diese Weise die Knochen dem Anblick entzogen.
Das Beinhaus wurde solcherart zu einer einfachen Kapelle reduziert, und die hinter den Gipswänden gestapelten
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Die Überlieferung eines historischen Faktums durch
Schriftquellen oder durch materielle Quellen ist von der
Sache her eine verschiedene (Abb. 4). Nur kostbare Artefakte haben eine Chance, in Schriftquellen überhaupt
erwähnt zu werden. Da Kostbarkeiten von Generation
zu Generation weitergegeben oder wertvolle Materialien beispielsweise durch Einschmelzen rezikliert wurden, sind solche Gegenstände nur selten im Fundgut des
Archäologen anzutreffen. Es ist das Artefakt des täglichen
Gebrauchs, das zurückgelassen oder entsorgt wird, das
aber kaum je in den Schriftquellen Erwähnung findet.
Schriftquellen und Sachgüter, die nicht mehr in
Gebrauch sind, werden deponiert. Bei Schriftstücken
bedeutet dies wegwerfen oder aufbewahren. Eine Aufbewahrung bzw. Überlieferung in einem privaten oder
institutionellen Archiv setzt eine intentionelle Selektion
voraus. Auf unnütz oder unbrauchbar gewordene Dinge wird verzichtet, indem man sie entsorgt oder zurücklässt. Gewöhnlich besteht dabei keine Intention zu einer
Überlieferung. Wertvolle Gegenstände, sofern nicht länger gebraucht, werden verschenkt, verkauft oder materiell rezikliert. Damit findet ebenfalls eine Selektion statt.
In der postdepositalen Phase sind die Schriftstücke
im Archiv oder die Artefakte im Boden Prozessen ausgesetzt, die in der Regel ohne Intention in Bezug auf die
Überlieferung ablaufen wie Beschädigung und Verlust
im Archiv oder mechanische Störungen und chemische
Zersetzung im Boden.
23
24
25
26
Leuk 2008, 22f.
Descœudres/Bacher 1989, 15 und 27.
Ruppen 1983. – Die Deponie von Holzskulpturen in Beinhäusern ist auch in
der Innerschweiz überliefert (Horat 2004, 103).
Ruppen 1983, 243.
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Archäologie und Geschichte
Abb. 4 Schematische Darstellung des bei Schriftquellen und Sachgütern getrennt und unterschiedlich verlaufenden Überlieferungsprozesses.
Schriftquellen und Sachgüter unterliegen in ihrer
Überlieferung unterschiedlichen Selektionsprozessen,
die teils intentionell, teils ohne Intention vonstatten
gehen. Was dann übrig bleibt, was der Historiker im
Archiv und der Archäologe im Boden finden, das ist für
unsere Bestimmung der historischen Realität ausschlagge-
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bend. Wenn dabei die verschiedenartigen Realitäten der
Schriftquellen und der Sachgüter als Bedingtheit unterschiedlicher Überlieferungsprozesse wahrgenommen
werden, haben beide – Historiker und Archäologen –
gute Chancen, die eigene sowie auch die andere Position
besser zu verstehen.
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Archäologie und Geschichte
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Bibliografie
Abbildungsnachweis
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Zürcher Liebesbriefe 1988 – Zürcher Liebesbriefe aus der Zeit des Minnesangs,
wissenschaftliche Bearbeitung Max Schiendorfer (Kranich-Druck 25), Zollikon 1988.
1 Frascoli 1997, Abb. 88 (Kantonsarchäologie Zürich)
2 Frascoli 1997, Abb. 90 (Kantonsarchäologie Zürich)
3 Leuk 2008, 22 (Daniela Hoesli, Kunsthistorisches Institut der Universität Zürich) Adaption durch Verfasser
4 Daniela Hoesli, Kunsthistorisches Institut der Universität Zürich, nach Angaben des Verfassers
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Die Realität im Blick
61
Sören Frommer
Die Realität im Blick
Objektorientierung in den Geschichtswissenschaften
Der vorliegende Beitrag widmet sich der Beziehung zwischen Archäologie und Geschichte aus erkenntnistheoretischer Perspektive, wobei ausdrücklich – und sicherlich ein bisschen entgegen der Mode – ein traditionell
geschichtswissenschaftlicher Blickwinkel gewählt werden
soll.1 Zur Begriffsklärung vornweg: Unter «Geschichtswissenschaft» möchte ich «Geschichtswissenschaft im
weiteren Sinn» – also einschliesslich etwa der Archäologie und der Realienkunde – verstanden wissen, die
«Geschichtswissenschaft im engeren Sinne» (und nur
die) bezeichne ich der Einfachheit halber im Folgenden
mit dem Kurzbegriff «Geschichte».2 Der Beitrag firmiert
unter dem Dach der Sektion 2 «Unterschiedliche Ansätze», soll jedoch neben der Darlegung von Unterschieden
auch ganz bewusst der Suche nach gemeinsamen Grundlagen im weiten Feld der historischen Erkenntnisformen
gewidmet sein.
Als Ausgangspunkt für meine Betrachtung wähle ich die Objektorientierung als gemeinsame Problemstellung im Schnittfeld der Disziplinen. Dafür wende
ich mich in einer forschungsgeschichtlichen Rückschau
der im Zeichen der Alltagsgeschichte stehenden Diskussion zwischen Mittelalterarchäologie und Geschichte
während der 1980er und 90er Jahre zu. Dieser Diskussion entnehme ich zwei Grafiken, die den damaligen
Gesprächsstand zum objektorientierten Arbeiten in
Archäologie und Geschichte gut wiedergeben, und führe sie im Hauptteil des Beitrags einer systematisierenden
Neubetrachtung zu. Mehr als um eine Neubewertung der
Modelle von damals geht es dabei aber um einen Beitrag
zu einer Diskussion allgemeinerer Art. In der Objektorientierung lassen sich erkenntnistheoretische Grundprobleme der Geschichtswissenschaften aufzeigen, wobei
ich mich auf die Frage nach der Interpretationsmethode
der Geschichtswissenschaft konzentrieren möchte. Münden soll der Beitrag schliesslich in ein Plädoyer für eine
neuerliche Befassung mit der Theorie des historischen
Verstehens unter dem Zeichen des Materiellen, was für
die Archäologie nicht nur Positionierung im Gebäude
der historischen Wissenschaften, sondern auch dessen
Mitgestaltung bedeuten würde.
I. Forschungsgeschichte: Interdisziplinarität im
Zeichen der Alltagsgeschichte
Die alltagsgeschichtliche Neuorientierung der 80er Jahre
führte zu bedeutsamen Entwicklungen in der interdisziplinären Beziehung Mittelalterarchäologie – Geschichte.3
Zunächst bewirkte das «objektnahe» neue Forschungsfeld
der Alltagsgeschichte ein Zusammenrücken der Disziplinen in der Praxis. Daneben entstand zwischen der sich
herausbildenden «archäologischen Sachkulturforschung»
und der auf Schrift- und Bildquellen basierenden Alltagsgeschichtsforschung eine regelrechte Theoriediskussion
– vielleicht die einzige deutschsprachige Theoriediskussion zwischen Mittelalterarchäologie und Geschichte, die
bislang diesen Namen verdient. In dieser Diskussion ging
es um Möglichkeiten und Grenzen des archäologischen
Zugangs zur Alltagsgeschichte; die bild- und schriftquellenhistorischen Zugänge standen nicht zur Debatte. Es
handelte sich also tendenziell um eine asymmetrische
Diskussion, in der auch die Selbstrechtfertigung der jungen Mittelalterarchäologie – und deren Herausforderung
– noch eine bedeutsame Rolle spielten.
Ich will im Folgenden zwei von Seiten der Kremser
Realienkunde in die Diskussion eingebrachten Modelle
vorstellen, die in diesem Zusammenhang erwähnenswert
sind: Das Modell der «komplexen Alltagsverbindungen»
1
2
3
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Es ist allerdings nicht der «traditionell-historische Einfallswinkel» gemeint,
der nach Ericsson 2000, 144 nur mit der Beantwortung von Fragen nach dem
«Wann?» und «Wo?» befasst ist – was m. E. eher als antiquarischer Ansatz bezeichnet werden sollte. Geschichtswissenschaft befasst sich ganz zentral und
durchaus traditionell auch mit der Frage nach der Bedeutung ihrer Quellen
– wobei diese Frage mit wechselnder Mode natürlich in unterschiedlichen
Spielarten gestellt wurde und gestellt werden wird, vgl. Frommer 2007, 20f.
Die sprachliche Gleichsetzung der Geschichtswissenschaften im engeren und
weiteren Sinne ist für eine sich ernsthaft als Geschichtswissenschaft i. w. S.
begreifende Archäologie nicht sehr befriedigend. In Frommer 2007, 16 habe
ich den Begriff «Schriftquellenhistorik» für die Geschichtswissenschaft i. e.
S. vorgeschlagen – als umfassender formulierte «wissenschaftliche» Variante
des seit Mitte der 90er gebräuchlichen, aber eher quellenkundlich klingenden
Begriffs «Schriftquellenforschung», der auch auf der Züricher Tagung auf wenig Gegenliebe traf (vgl. auch schon Tauber 1996, 172). Wenn ich in diesem
Beitrag eine rein formale Lösung verwende, indem ich den Kurzbegriff «Geschichte» auf die Geschichtswissenschaft i. e. S. beschränke, soll der Diskussion etwas die Polarität genommen werden. Für die Zukunft möchte ich den
Wunsch äussern, dass auch von (schriftquellen)-historischer Seite Vorschläge
zur Lösung dieses für die historische Archäologie nicht ganz irrelevanten nomenklatorischen Problems eingebracht werden.
Zum gesamten Abschnitt «Forschungsgeschichte» vgl. Frommer 2007, 81–85.
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Abb. 1 Modell der Komplexen Alltagsverbindungen nach Gerhard Jaritz (erweitert durch Jürg Tauber und Helmut Hundsbichler).
Abb. 2 Modell des Forschungsfelds Realienkunde nach Ewald Kislinger (erweitert durch Hans-Werner Goetz).
nach Gerhard Jaritz und die Darstellung des «Forschungsfelds Realienkunde» nach Ewald Kislinger. Beide wurden
im Verlauf des Diskurses benutzt, um auf die Beschränktheit des archäologischen Zugangs zur Alltagsgeschichte
hinzuweisen. Beide sollen im Folgenden kurz vorgestellt
werden, als Grundlage für ihre ausführlichere Diskussion
im Hauptteil des Beitrags.
Nach Gerhard Jaritz spiegelt Alltag eine «gewisse
Anzahl oder ‹Summe› von Gegebenheiten wider. Diese
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Die Realität im Blick
sind bestimmten Bedingungen unterworfen, aus gewissen
Absichten entstanden und beziehen sich auf konkrete
Situationen. Jede entsprechende Quellennachricht lässt
sich so als eine aus bestimmten Gründen entstandene
Verbindung bzw. Verknüpfung der Kategorien Mensch
(geschlechts-, gruppen-, altersspezifisch etc.), Objekt, Situation (in der die Mensch-Objekt-Beziehung auftritt oder
durch welche sie ausgelöst wird) sowie Qualität (im weitesten Sinn, etwa als Form, Farbe, Material, Grösse, Wert,
Funktion oder Zahl) erkennen und interpretieren».4 Jaritz
zufolge lässt sich Alltag «allein in der Auseinandersetzung
mit solchen Verknüpfungen bzw. Verbindungen analysieren»; «die Frage nach ihnen muss als Basis für jede Interpretation dienen».
Das Jaritz-Schema, das im grafischen Original
lediglich aus den im Rechteck angeordneten und mit
Doppelpfeilen verbundenen Kategorien Mensch, Objekt,
Qualität und Situation besteht, wurde von Jürg Tauber
und, an diesen anschliessend, Helmut Hundsbichler
schliesslich auf die Archäologie übertragen, womit der
von Jaritz noch auf die Arbeit mit «Quellennachrichten» (s. o.) beschränkte Gültigkeitsbereich des Schemas
erweitert wurde (Abb. 1).5 Dabei wurde festgestellt, dass
die Archäologie mit der Objekt-Qualität-Beziehung nur
einen kleinen Teil dieser Alltagsbeziehungen bearbeiten
kann und daher auf der Basis der «Sachquellen allein das
geforderte Netz zur umfassenden Rekonstruktion des Alltags nicht zu knüpfen» sei.6
Im zweiten hier interessierenden Modell symbolisierte Ewald Kislinger das Forschungsfeld Realienkunde als System konzentrischer Kreise, wobei die jeweils
kleineren Teilkreise in die sie umfassenden integriert sein
sollen (Abb. 2).7 Die im Kreisschema angeordneten Forschungsbereiche stehen dabei in komplexer Wechselwirkung miteinander, was die zwei Pfeilreihen in der Grafik
versinnbildlichen sollen. Die als rein objektbezogen verstandene Sachforschung der Archäologie stellt in dieser
Sicht «das beschränkteste Arbeitsfeld dar, den blossen
Einstieg ohne Sicht auf übergeordnete, universellere Perspektive»8.
4
5
6
7
8
Alle Zitate des Absatzes vgl. Jaritz 1989, 13, vgl. auch ebda. Abb. 1.
Tauber 1992, 710f., 725; Hundsbichler 1996, 15–17.
Zitat: Tauber 1992, 710f.
Kislinger 1987, 28f. Zum Folgenden vgl. Goetz 1990, Abb. 1–3; Hundsbichler
1991, 92f.
Zitat: Hundsbichler 1991, 92.
14.11.2009 14:54:04 Uhr
Die Realität im Blick
63
II. Neubetrachtung: Interdisziplinär diskutierte
Modelle der Objektorientierung
Nach dieser Kurzvorstellung sollen die zwei Modelle
einer Neubetrachtung unterzogen werden. Dabei möchte
ich mich dreier systematischer Unterscheidungen bedienen, die in den theoretisch-methodischen Diskussionen
zum objektorientierten Arbeiten in der Geschichtswissenschaft häufig nicht mit ausreichender Konsequenz
beachtet werden:
– der Unterscheidung zwischen Objekten als Quellen
und Objekten als Elementen historischer Konstruktionen (Differenzierung nach der Stellung des Objekts
im wissenschaftlichen Erkenntnisprozess)
– der Unterscheidung zwischen materieller Realität und
subjektiver Auffassung/Imagination (Differenzierung
Objektivität vs. Subjektivität)
– der Unterscheidung zwischen Vergangenheit und wissenschaftlicher Gegenwart (Differenzierung nach Zeitebenen).
Im vorliegenden Beitrag wird vor allem auf die erstgenannte Unterscheidung abgehoben, in zweiter Linie auf
die zweite und nur am Rande auf die dritte. Systematisch dürfte den drei Unterscheidungsebenen wegen der
Elementarität ihrer Kategorien aber gleiche Bedeutung
zukommen.
II.1 Subjekt- und objektbezogene Umweltanalyse
Laut Gerhard Jaritz dient das Abb. 1 zugrunde liegende
Schema sowohl der Analyse als auch der Interpretation
von Quellennachrichten (s. o.).9 Damit unterlässt Jaritz
zugegebenermassen eine klare Trennung von Quellenund Konstruktionsebene. Man wird aber aus der Formulierung schliessen können, dass das Schema zumindest
auch Bedeutung für die Ebene der historischen Konstruktion beanspruchen soll. Die durch Tauber und Hundsbichler vertretene Beschränkung der Archäologie auf den
Bereich der Objekt-Qualitäts-Beziehung bezieht sich
dagegen letztlich wohl nur auf die Quellenebene: Die
Beschreibung von Qualitätsmerkmalen der geborgenen
Sachgüter gehört nach herrschender Meinung sicherlich
zu den ohne eigentliche Interpretationsleistung möglichen Grundkompetenzen der Archäologie.10
Der Verwendung des Schemas in der «asymmetrischen Theoriediskussion» liegt also gewissermassen ein
Missverständnis zugrunde. Dieses wird noch etwas klarer, wenn man die Struktur des Jaritz-Schemas generell
zur Diskussion stellt. Dabei geht man am besten von der
erweiterten, 1995 von Helmut Hundsbichler publizierten
Buch SKAM 36.indd 63
Abb. 3 Zur Anatomie objektorientierter historischer Konstruktion:
Subjektbezogene Umweltanalyse (links, reduziert nach Jaritz) und objektbezogene Umweltanalyse (rechts, nach Scholkmann) im Vergleich.
Version des Schemas aus (Abb. 1): Zunächst stellt man
fest, dass aus irgendeinem Grund nur die Kategorien
«Mensch», «Situation» und «Qualität» mit erklärenden
Attributen versehen wurden, nicht dagegen die Kategorie «Objekt». Ein Blick auf diese Attribute zeigt, dass
sie mit Alter, Geschlecht und Schicht für «Mensch» bzw.
mit Schauplatz, Bedingung und Auslöser für «Situation»
analytisch wichtige Charakteristika bzw. Qualitäten der
entsprechenden Kategorien beschreiben. Der Kategorie
«Qualität» zugeordnet finden sich wiederum analytisch
wichtige Bezeichnungen von Eigenschaften wie Material,
Form, Funktion, Wert – die nun aber ganz offensichtlich
Charakteristika/Qualitäten von Objekten bezeichnen sollen. Systematisch sind diese Objekt-Qualitäten in Abb. 1
also nach rechts oben zu verschieben, womit für die Kategorien Mensch, Situation und Objekt analoge Gegebenheiten geschaffen wären. Die vierte Kategorie «Qualität»
erweist sich nun aber als überflüssig – als im mathematischen Sinn «trivial» und kann daher vereinfachend entfallen. Die inhaltliche Bedeutung des Faktors «Qualität»
für die Alltagsforschung wird dadurch nicht gemindert,
sondern im Gegenteil noch herausgestellt: Qualität ist in
gleicher Weise Randbedingung der drei anderen Kategorien; ihr kommt daher in jeder einzelnen «Alltagsverbindung» besondere Bedeutung zu.
Beim nun entstehenden Dreieck zwischen Mensch,
Objekt und Situation (Abb. 3, links) würde sich eine Kenn-
9
10
Zum Abschnitt «Subjekt- und objektbezogene Umweltanalyse» generell noch
einmal Frommer 2007, 83f.
Diese Ansicht muss für primär beschreibende Kategorisierungen auch nicht
weiter problematisiert werden, anders sieht dies für (z. B. sozial) wertende
Kategorisierungen aus. Sicherlich nicht zu folgen ist etwa der in der frühmittelalterlichen Gräberfeldarchäologie entwickelten, aber auch über diese
hinaus verbreiteten, Vorstellung von der sozialen Qualität als neben Zeit und
Raum «dritter Dimension» (Christlein 1975, 173) der quellenkundlichen Bestimmung eines Sachguts; vgl. hierzu auch Brenner 2001, 365–368.
14.11.2009 14:54:05 Uhr
64
zeichnung des archäologischen Arbeitsfeldes – auf der
Quellenebene – auf den Eck-Punkt des Objektes beschränken, was – auf der Konstruktionsebene – bedeuten würde,
dass die Archäologie selbstständig überhaupt keinen Beitrag
zur Alltagsgeschichtsforschung leisten könnte. Da so weit
sicher die wenigsten Archäologen gehen würden, soll der
(interdisziplinäre) Erkenntniswert des Jaritz-Schemas im
Folgenden auf die Konstruktionsebene beschränkt werden;
das Schema soll im Weiteren ausschliesslich als gestaltliches
Modell der historischen Konstruktion verstanden werden.
Als solches kann das Schema zugleich auch als Essenz des
nach Hans-Werner Goetz und Hubert Ehalt so bezeichneten alltagsgeschichtlichen Konzepts der «subjektbezogenen
Umweltanalyse» begriffen werden, wo es um die Frage
geht, wie historische Lebensbedingungen (Kategorien:
Situation, Objekt) auf die Betroffenen (Kategorie: Mensch)
einwirken und von diesen «wahrgenommen, erlebt und
nach ihren Bedürfnissen gestaltet werden».11
Nun hat Barbara Scholkmann 1998 die archäologische Alltagsforschung – systematisch ist hier analog
zu Jaritz (s. o.) zumindest auch die Konstruktionsebene
gemeint – als «objektbezogene Umweltanalyse» dargestellt und dieser ebenfalls ein Drei-Kategorien-System
zugeordnet, das in Abb. 3 dem reduzierten Jaritz-Schema
gegenübergestellt werden soll.12 Wir stellen leicht fest: Sie
sind formal so gut wie identisch. Sie sind es auch inhaltlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Historiker
beider Disziplinen auf der Konstruktionsebene nur (noch)
mit subjektiven Imaginationen von Menschen, Objekten,
Strukturen und Situationen operieren.
Als Interpretationsmodelle weisen subjekt- und
objektbezogene Umweltanalyse im Wesentlichen zwei
Unterschiede auf, die im Folgenden besprochen werden
sollen. Der erste Unterschied steckt im Dualismus Situation/Struktur – was offenkundig mit der Ereignis/ProzessDiskussion zusammenhängt und hier nicht weiter vertieft
werden soll.13 Der zweite Unterschied ist in der Gegenüberstellung in Abb. 3 nicht zu sehen, da er nicht nur die
letztendliche Gestalt der historischen Konstruktion, sondern
den Gesamtvorgang des historischen Deutens betrifft. Er
hat damit zu tun, dass die subjektorientierte Umweltanalyse links auch als abstrakte Darstellung eines auf Schriftund Bildquellen basierenden hermeneutischen Erkenntnisprozesses begriffen werden kann, während das formal
fast identische Modell rechts erkenntnistheoretisch bislang nicht in gleicher Weise festgelegt ist.14
Um diesem Unterschied auf die Spur zu kommen,
soll der Konstruktionsebene vergleichend die Situation
Buch SKAM 36.indd 64
Die Realität im Blick
auf der Quellenebene gegenübergestellt werden. Hier
scheinen nämlich – namentlich aus hermeneutischer Perspektive – deutliche Unterschiede zwischen Archäologie
und Geschichte auf: Während die Archäologie mit im
Boden überlieferten realen historischen Objekten bzw.
Umgebungen umgeht, befasst sich die Geschichte mit
Schrift- und Bildquellen, in der historische Auffassungen
von solchen Objekten oder Umgebungen wiedergegeben
bzw. reflektiert werden.15
Im Folgenden wollen wir uns der sich abzeichnenden Diskrepanz zwischen Konstruktionsebene (grosse Ähnlichkeiten zwischen Archäologie und Geschichte)
und Quellenebene (grosse Differenzen) etwas genauer
zuwenden und dabei die Schlüsselfrage nach den diese
Ebenen verbindenden Interpretationsmethoden auf beiden
Seiten in den Blickpunkt rücken. Damit verbindet sich
denn auch eine gewisse Generalisierung: Nach Hermann
Appelt besteht zwischen objektorientiertem und nicht
objektorientiertem Arbeiten kein grundsätzlicher methodischer Unterschied, weswegen die folgenden methodologischen Überlegungen über diesen engeren Problemkreis hinaus Bedeutung beanspruchen können.16
II.2 Sprachhermeneutik und materielle Hermeneutik
Nun führt uns in der Methodenfrage eine Neubetrachtung des Kreismodells «Forschungsfeld Realienkunde»
weiter.17 Was die (objektorientierte) Geschichtswissenschaft angeht, insofern sie von Schrift- und Bildquellen
ausgeht, kann das Modell nämlich sowohl für die Konstruktionsebene als auch für die Quellenebene herangezogen werden. Um in der weiteren Diskussion die Unterschiede zur archäologischen Situation herauskristallisie-
11
12
13
14
15
16
17
Goetz 1986, 14, inkl. beider Zitate. Zum selben Thema vgl. Ehalt 1984, 21,
der den Begriff als «Subjektbezogene Lebensweltanalyse» eingeführt hatte.
Scholkmann 1998, 78–83.
Dazu Frommer 2007, 196–198.
Trotz diverser Ansätze zur Ausgestaltung des archäologischen Interpretationsprozesses (Scholkmann 1998, 78 und 82) formuliert Scholkmann keine explizite erkenntnistheoretische Dimension des Analyse- und Interpretationsmodells «Objektbezogene Umweltanalyse». Der Befund der «Methodenlücke»
zwischen quellenkundlicher Quellenerschliessung und -aufbereitung und der
etwa in Abb. 3 rechts dargestellten «fertigen» historischen Konstruktion beschränkt sich jedoch nicht auf den engeren Problemkreis von Alltagsgeschichte und Sachkulturforschung, sondern kann als allgemein-archäologisches Problem gelten, vgl. Frommer 2007, 16–18 und 99–112.
Scholkmann 1998, 82; Frommer 2007, 150f. Das Problem der Formationsprozesse auf beiden Seiten soll an dieser Stelle noch ausgeklammert bleiben, um
den grundsätzlichen Unterschied zwischen Materialität und Auffassung nicht
zu verunklären.
Appelt 1984, 17.
Zum gesamten Abschnitt «Sprachhermeneutik und materielle Hermeneutik»
vgl. Frommer 2007, 150–162.
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Die Realität im Blick
65
Abb. 4 Objektorientierung in der Geschichte: Der Nachvollzug von alltagshermeneutischer Auffassung in der Vergangenheit (links) durch alltagsgeschichtliche Forschung in der Gegenwart (rechts).
ren zu können, wird in Abb. 4 die subjektive Komponente
bzw. der Auffassungs-Aspekt durch die ikonische Zuordnung des Kreismodells zu einem menschlichen Auge (als
Schnittstelle zwischen Geist und Umwelt) plakativ hervorgehoben.
Auf der Quellenebene (Abb. 4, links) kann das
Kislinger-Modell für die zumeist alltagshermeneutische
Reflexion der Objekt-Umwelt-Mensch-Beziehung durch
den Menschen der Vergangenheit stehen – ihm soll das
abgebildete Auge gehören. Der historische Mensch fasst
Objekte in seiner Umwelt auf (symbolisiert durch die
Spiegelung in der Iris) und kontextualisiert sie vor dem
Hintergrund seiner Individualität und der auf ihn einwirkenden überindividuellen Mentalitäten und Strukturen
(untere Pfeilreihe). Zugleich trägt diese Auffassung zur
stetigen Neukonzeptualisierung von Individuum und
Umwelt bei (obere Pfeilreihe).
Auf der Konstruktionsebene (Abb. 4, rechts)
beschreibt das Kreismodell den Vorgang der subjektorientierten Umweltanalyse und ist in dieser Hinsicht dem
Jaritz-Schema weitgehend äquivalent: Der Forscher – zu
ihm gehört das rechte Auge – versucht zum einen, das
überlieferte aufgefasste Objekt vor dem Hintergrund seiner Kenntnis von Alltag/Lebenswelt, Mentalitäten/Strukturen sowie der materiellen Kultur zu kontextualisieren
und zu verstehen (untere Pfeilreihe und Spiegelung in der
Iris), andersherum aktualisiert er seine Begriffe der übergeordneten Geschichtsebenen anhand des aufgefassten
Objektes und dessen historischen Kontextes (obere Pfeilreihe). In ähnlicher Form wäre die historische Konstruktion sicher auch für die Archäologie zu beschreiben (s.o.).
Buch SKAM 36.indd 65
Nun behauptet die historische Hermeneutik – im
Einzelnen auf sehr unterschiedliche Art und Weise –,
dass der forschende Historiker in der Lage ist, über die
vermittelnden Quellen die historische Gedankenwelt
in adäquater Weise nachvollziehen bzw. verstehen zu
können. Diese Idee der prinzipiellen Durchlässigkeit der
Schranke zwischen vergangenen und gegenwärtigen geistigen Welten ist seit jeher ein zentrales Axiom der «historischen Methode». So glaubte der Theologe und Philosoph Friedrich Schleiermacher im frühen 19. Jahrhundert,
durch ineinandergreifende psychologische und grammatische Interpretation den Urheber eines Textes schliesslich besser verstehen zu können als dieser sich selbst.18
Für Johann Gustav Droysen, den methodologischen
Vater der modernen Geschichtswissenschaft, war dem
Historiker nicht mehr nur der Text und dessen Urheber,
sondern die (implizit als Text begriffene) Geschichte als
Ganzes verständlich.19 Verantwortlich hierfür zeichnete
bei Droysen die Geschichte und Historiker verbindende
Kongenialität des Menschen. Auch für den Philosophen
und Historiker Wilhelm Dilthey existierte eine «hintergründige Gleichartigkeit der menschlichen Natur», die
das einfühlende Verstehen vergangener geistiger Welten
ermöglicht, wobei Dilthey dem biografischen Verstehen
besonderes Potenzial zugestand.20 Dilthey billigte dem
Verstehen schliesslich sogar objektive Aspekte zu, indem
18
19
20
Schleiermacher 1999, 94–97..
Hier und zum Folgenden vgl. Droysen 1960, 25–27 und 334f., Grondin 2000, 96.
Zitat Giuliani 2003, 10. Zum Folgenden vgl. Dilthey 1981, 177–180 (mit Zitat).
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66
Die Realität im Blick
Abb. 5 Die hermeneutische Theorie sieht keine Möglichkeit des adäquaten Verstehens nicht aufgefasster materieller Relikte der Vergangenheit vor.
er das Leben als verständliche äussere Wirklichkeit eines
übersubjektiven, gemeinsam hervorgebrachten «objektiven Geistes» begriff. Bei Hans-Georg Gadamer, dem
Schöpfer der vielleicht prominentesten philosophischen
Hermeneutikkonzeption der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts, ist es die «Wirkungsgeschichte» als «Überlieferungsgeschehen, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln», die dem Historiker – unter
bestimmten methodischen Bedingungen – ein adäquates
Verstehen der Vergangenheit erlaubt.21
Bei aller Unterschiedlichkeit dieser Konzeptionen
von (historischer) Hermeneutik – die Spannweite reicht
von der Textauslegungslehre Schleiermachers hin zur universalen Beschreibung jedes Verstehens und Weltbezugs
bei Gadamer – ist dieses Gegenwart und Vergangenheit
verbindende Dritte, das tertium comparationis als philosophische Grundlage des zeitübergreifenden Verstehens,
immer am Vorbild des der Vergangenheit und Gegenwart
gemeinsamen Textes orientiert gewesen.22 Jede Erweiterung der Hermeneutik über reale Texte hinaus ging einher mit der Textualisierung der Objekte und Medien des
Verstehens, was bei Gadamer schliesslich in der kaum
weiter generalisierbaren Aussage mündet: «Alles Sein,
das verstanden werden kann, ist Sprache».23
Stets ausserhalb des Gesichtskreises hermeneutischen Verstehens lag daher das archäologische Problem
des historisch adäquaten Deutens der rein materiell
überlieferten Objekte und Umgebungen der Vergangenheit, deren ehemals lebendige «textuelle» Auffassungen
verloren gegangen sind oder gar nie überliefert wurden.
Dass das Droysen-Bernheim-System traditionell auch
Buch SKAM 36.indd 66
nicht schrift- oder bildtragende Relikte der Vergangenheit als historische Quellen einschloss (unter dem
Begriff «Überreste» auf einer Ebene mit Urkunden oder
Geschäftsschriftgut) muss letztlich weitestgehend als
Formalie gewertet werden:24 Sowohl Fragestellungen als
auch Methodologie der historistischen Geschichtswissenschaft bezogen sich effektiv nur auf die Belange der
schriftlichen Quellen – im Bezug auf die Methodologie
hat sich diese Tatsache bis heute erhalten.
Aus Sicht der historischen Hermeneutik ergibt
sich also das folgende Gesamtbild: Während die traditionelle nicht-archäologische Geschichtswissenschaft über
einen Zugang zur Vergangenheit und – über die menschliche Auffassung – auch zu deren materiellen Realitäten
verfügt (Abb. 4), ist dies für die Archäologie nicht der
Fall: Das Verstehen nicht aufgefasster materieller Relikte
der Vergangenheit wurde zu keiner Zeit ernsthaft als hermeneutisches Problem betrachtet (Abb. 5). Was bedeutet dies konkret? Es bedeutet, dass Archäologie zwar in
der Lage wäre, die materiellen Quellen der Vergangenheit nach einsichtigen Kriterien zu bergen und zu systematisieren, die historische Bedeutung des Geborgenen
erschlösse sich jedoch nur vor dem Hintergrund des
anderweitig auf gesicherter methodischer Basis gewonnenen Wissens, für das in erster Linie die Interpretation
21
22
23
24
Zitate: Gadamer 1990, 295 u. 305, dazu ebda. 311f., vgl. auch Grondin 2000,
144–151.
Vgl. Goertz 1995, 43f.
Zitat: Gadamer 1990, 192.
Vgl. Frommer 2007, 43–47.
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Die Realität im Blick
von Schrift- und Bildquellen verantwortlich zeichnete.
Nähmen wir das erkenntnistheoretisch Gegebene als
gegeben hin, wäre Archäologie nur als historische Hilfswissenschaft denkbar, womit wir, forschungsgeschichtlich betrachtet, sogar vor die oben thematisierte «asymmetrische Theoriediskussion» zurückgeworfen würden,
in die 1970er Jahre.25 Damals definierte Herbert Jankuhn
die sich entwickelnde Disziplin als «echte Hilfswissenschaft» der Geschichte, deren Aufgaben, wie Reinhard
Wenskus anschloss, ausschliesslich im Bezug auf die
Hauptdisziplin bestanden: Veranschaulichung, Bestätigung, Entscheidungshilfe, Korrektur und Ergänzung.26
Bei näherer Betrachtung jedoch werden die
Inkonsistenzen dieser traditionellen sprachhermeneutischen Auffassung deutlich. Vergegenwärtigt man sich,
dass der Erkenntnisprozess der auf Schrift- und Bildquellen gestützten Geschichtswissenschaft sich nicht mit den
Objekten bzw. der materiellen Umwelt der Vergangenheit selbst befasst, sondern nur mit deren «Spiegelung»
im Blick quellenproduzierender Akteure, dann wird klar,
dass diesen Akteuren etwas zugestanden wird, was die
traditionelle Sprachhermeneutik uns Archäologen gerne
absprechen würde: den Zugang zu einem sinnvollen Verstehen der materiellen Dinge, der materiellen Umwelt.
Es ist klar: Die materielle Realität der Vergangenheit liegt uns stark überformt vor,27 zudem geben
wir uns natürlich nicht – wie die meisten damaligen
Akteure – mit einem Alltagsverständnis der damaligen
Realität zufrieden, sondern interessieren uns vielmehr
für die wissenschaftliche Aufbereitung der Quellen unter
bestimmten Fragestellungen. Wenn aber der Weg zum
Verstehen der materiellen Quellen grundsätzlich offen
ist, dann müssten wir auch in der Lage sein, diesen Weg
methodisch zu analysieren, zu systematisieren und kohärent zu beschreiben – kurz: Wir könnten versuchen, der
traditionellen Sprachhermeneutik eine archäologische
Spezialhermeneutik gegenüberzustellen, eine materielle
Hermeneutik.28 Eine solche materielle Hermeneutik würde sicherlich den Verzicht auf die gar nicht so unproblematische Idee des Nachvollzugs fremder Gedankengänge als Grundlage aller Geschichtswissenschaft erfordern;
Leitmotiv wäre stattdessen die Frage eines möglichst
quellengerechten Aufbaus der eigenen historischen Deutung
auf der Basis materieller Geschichtsquellen.
Eine «materielle» Hermeneutikkonzeption würde
sich dabei keinesfalls nur als archäologischer Sonderweg
definieren müssen, sondern hätte (in verallgemeinerter
Form) auch das Zeug zu einer übergreifenden geschichts-
Buch SKAM 36.indd 67
67
Abb. 6 Die drei materiell miteinander verbundenen Deutungsebenen
historischer Quellen.
wissenschaftlichen Methodenperspektive:29 Die Quellen aller Geschichtswissenschaften sind materiell, seien
es Schrift-, Bild- oder archäologische Quellen (Abb. 6),
so dass neben der Konstruktionsebene letztlich auch
die Quellenebene für Archäologie und Geschichte einheitlich zu formulieren wäre: Jede historische Quelle
kann als materieller historischer Kontext begriffen werden, welcher aus einem oder mehreren (bis zahllosen)
Artefakten bzw. Ökofakten besteht, wobei die Artefakte
neben Herstellungs-, Gebrauchs- und Entsorgungsspuren
auch symbolische (häufig: Text) und/oder ikonische Darstellungen auf ihren Oberflächen aufweisen können.
25
26
27
28
29
Frommer 2007, 72f., 76–79. Unter Verwendung anderer Begrifflichkeiten hat
sich das Konzept «Archäologie als historische Hilfswissenschaft» allerdings im
von mir so bezeichneten «Eingeschichtenmodell» (ebda. 120–122) über die
90er Jahre bis heute erhalten: Im Rahmen der Auffassung, der Mittelalterarchäologe müsse auch im engeren Sinne Historiker sein, um die eigenen Quellen «über die banalste Grundlinie hinaus» verstehen zu können, vgl. Tauber
1992, 708. – «Archäologie als historische Hilfswissenschaft» kann schliesslich
auch bis heute noch als typisches Konzept der Praxis betrachtet werden: In
der archäologischen Interpretationspraxis beobachten wir eine erhebliche
(und nicht unproblematische) Abhängigkeit der Deutung archäologischer
Quellen des Mittelalters und der Neuzeit von herangezogenen Informationen vor allem aus Schriftquellen, vgl. Frommer, 2009.
Jankuhn 1973, 18; Wenskus 1979, 655f.
Zu den Formationsprozessen bei der Interpretation archäologischer Quellen
vgl. Frommer 2007, 250–252, 331 mit weiteren Literaturverweisen.
Eine solche «materielle Hermeneutik» als Methode der Interpretation einzelner archäologischer Kontexte wird konzipiert, ausführlich hergeleitet und
begründet in Frommer 2007, insb. 181–209, heuristisch ausgestaltet (ebda.
240–252) und auf übergreifende Auswertungen übertragen (ebda. 328–337).
Hier und zum Folgenden vgl. Frommer 2007, 140–149, 176–190. Auch die
traditionell zu den historischen Quellen gezählten «abstrakten Überreste»
wie Institutionen, Rechtszustände, Gebräuche, Sprachen, Orts- und Flurnamen (von Brandt 1998, 53) benötigen einer materiellen Verankerung z. B. in
schriftlicher Form, um belastbar historischer Quellenkritik ausgesetzt werden
zu können.
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Alle drei Ebenen (materieller Kontext, Artefakt, symbolische/ikonische Informationen) liefern dabei – in sehr
unterschiedlicher Weise – deutungsbedürftige historische
Informationen, die jedoch in ihrer gemeinsamen Materialität bzw. materiellen Kontextualität eine gemeinsame
historische Klammer besitzen.
Es kann nicht Ziel dieses Aufsatzes sein, die angedeutete Konzeption inhaltlich oder systematisch genauer
zu umreissen. Wichtig ist mir zu zeigen, dass die traditionelle Sprachhermeneutik nur schwerlich als gemeinsame methodologische Klammer für Archäologie und
Geschichte dienen kann – es sei denn, man entschiede
sich bewusst und explizit für den erkenntnistheoretischen
Nachrang der Archäologie als historischer Hilfswissenschaft. Eine im obigen Sinne materielle Hermeneutik
dagegen würde – bei aller Unterschiedlichkeit der Teildisziplinen im Einzelnen – als gemeinsames MethodenParadigma der Geschichtswissenschaften einen Rahmen
bilden, in welchem die Erkenntnismöglichkeiten beider
Disziplinen ernst genommen und systematisch verbunden werden könnten.
III. Schluss
Zum Schluss möchte ich die hier vorgetragene Argumentation noch einmal in wenigen Sätzen zusammenfassen:
In der Objektorientierung erkennt man die grundsätzliche Vergleichbarkeit der geschichtlichen Arbeit mit
archäologischen, schriftlichen und bildlichen Quellen.
Diese Vergleichbarkeit betrifft neben der Konstruktionsebene (grosse Ähnlichkeiten zwischen subjekt- und objektorientierter Umweltanalyse) auch die Quellenebene (alle
historischen Quellen sind materielle Quellen). Aus dieser Konstellation ergibt sich die Frage nach möglichen
Gemeinsamkeiten der Disziplinen auf der methodologischen Ebene, wobei ich die Frage nach der historischen
Die Realität im Blick
Interpretation der Quellen ins Zentrum gestellt habe, ein
erkenntnistheoretisches Problem mithin. Dabei konnte
zunächst festgestellt werden, dass die historische Archäologie anders als die Geschichte ihre Interpretationsmethode noch nicht ausdrücklich formuliert hat.
Es lag nahe, für unsere «nach Fragestellung und
Arbeitsziel … historische Wissenschaft»30 die Möglichkeiten einer hermeneutischen Interpretationsmethode zu
testen. Der Versuch der blossen Übertragung der traditionellen historischen Hermeneutik scheiterte jedoch an
deren methodischem sowie theoretischem Bezug insbesondere auf die Schriftquellen – genauer gesagt: ihre über
Schriftzeichen übermittelten «geistigen» Inhalte. Nun
lassen sich vor dem Hintergrund der Objektorientierung
aber einige Schwierigkeiten dieses traditionellen sprachhermeneutischen Ansatzes aufzeigen: es ist weder die
Frage der Auffassung des Materiellen als Zentralelement
objektorientierter historischer Erkenntnis befriedigend
beantwortet, noch wird die Rolle des Materiellen als des
gemeinsamen Nenners der historischen Wissenschaften
auf der Quellenebene bislang ausreichend methodologisch genutzt.
Die Orientierung an einer gemeinsamen materiellen Hermeneutik, welche die Erkenntnisgänge von
Archäologie und Geschichte dort zusammenführt, wo
sie zusammengehören, und dort klar trennt, wo sie mit
essenziell unterschiedlichen Problemstellungen umgehen, kann meines Erachtens nur positiv wirken: sowohl
in der interdisziplinären als auch in der innerdisziplinären Praxis. In der Tat sind es die Bedürfnisse der Praxis,
in der wir neben der Selbstverständlichkeit der Zusammenarbeit auch das Stagnieren der Reflexion über ihre
Grundlagen feststellen können,31 die m. E. den Einstieg
in eine – nunmehr symmetrische – zweite Theoriediskussion erforderlich machen.
30
31
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Definition nach Fehring 2000, 1.
Entsprechend formuliert auch im programmatischen Einladungstext der Veranstalter der Zürcher Tagung, vgl. http://www.mediaevistik.unizh.ch/downloads/GuA.pdf.
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Die Realität im Blick
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Hundsbichler 1991 – Helmut Hundsbichler, Perspektiven für die Archäologie
des Mittelalters im Rahmen einer Alltagsgeschichte des Mittelalters, in: Jürg
Tauber (Hg.), Methoden und Perspektiven der Archäologie des Mittelalters
(Archäologie und Museum 20), Liestal 1991, 85–99.
Hundsbichler 1996 – Helmut Hundsbichler, Sachen und Menschen, Alltag und
Geschichte. Faust und die Erkenntnis der Realität, in: Mamoun Fansa (Hg.),
Realienkunde und historische Quellen (Archäologische Mitteilungen aus
Norddeutschland Beiheft 15), Oldenburg 1996, 11–28.
Jankuhn 1973 – Herbert Jankuhn, Umrisse einer Archäologie des Mittelalters, in:
Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters 1 (1973), 9–19.
Jaritz 1989 – Gerhard Jaritz, Zwischen Augenblick und Wirklichkeit. Einführung
in die Alltagsgeschichte des Mittelalters, Wien 1989.
Kislinger 1987 – Ewald Kislinger, Notizen zur Realienkunde aus byzantinischer
Sicht, in: Medium Aevum Quotidianum 9 (1987), 26–33.
Schleiermacher 1999 – Friedrich D. E. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik.
Mit einem Anhang sprachphilosophischer Texte Schleiermachers, Frankfurt
a. M. 71999.
Buch SKAM 36.indd 69
69
Scholkmann 1998 – Barbara Scholkmann, Sachen und Menschen. Der Beitrag
der archäologischen Mittelalter- und Neuzeitforschung, in: Helmut Hundsbichler/Gerhard Jaritz/Thomas Kühtreiber (Hg.), Die Vielfalt der Dinge.
Neue Wege zur Analyse mittelalterlicher Sachkultur (Forschungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Diskussionen
und Materialien 3), Wien 1998, 63–83.
Tauber 1992 – Jürg Tauber, Symbole im Alltag aus archäologischer Sicht. Ein
Annäherungsversuch, in: Gertrud Blaschitz et al. (Hg.), Symbole des Alltags –
Alltag der Symbole. Festschrift für Harry Kühnel, Graz 1992, 701–731.
Tauber 1996 – Jürg Tauber, Archäologische Funde und ihre Interpretation, in:
Mamoun Fansa (Hg.), Realienkunde und historische Quellen (Archäologische
Mitteilungen aus Norddeutschland Beiheft 15), Oldenburg 1996, 171–187.
Wenskus 1979 – Reinhard Wenskus, Randbemerkungen zum Verhältnis von Historie und Archäologie, insbesondere mittelalterlicher Geschichte und Mittelalterarchäologie, in: Herbert Jankuhn/Reinhard Wenskus (Hg.), Geschichtswissenschaft und Archäologie. Untersuchungen zur Siedlungs-, Wirtschafts- und Kirchengeschichte (Vorträge und Forschungen 22), Sigmaringen 1979, 637–657.
Abbildungsnachweis
1 Hundsbichler 1996, 3 (nach Jaritz 1989 und Tauber 1992)
2 Hundsbichler 1991, 3 (nach Kislinger 1987 und Goetz 1990)
3–6 Sören Frommer; Fotovorlage
4 © Samy13 / PIXELIO, Grafikvorlage wie Abb. 2, Fotovorlagen
5 Sybil Harding, Institut für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters, Universität Tübingen (Hintergrundfoto links, beide Detailfotos links),
Hintergrund rechts wie Abb. 4)
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Villam que vocatur Friburg
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François Guex
Villam que vocatur Friburg
Freiburg hat die Erinnerung an das Datum seiner Gründung nicht bewahrt – es war nicht wichtig genug, wie bis
vor wenig mehr als hundert Jahren der 1. August 1291,
die angebliche Gründung der Schweiz. Es hat aber immer
einen Herzog Bertold als seinen Gründer verehrt, ohne
dabei zwischen Vater und Sohn, dem vierten und dem
fünften des Namens zu unterscheiden.1
Die Berner Chronistik stellt fest, Freiburg sei zwölf Jahre vor Bern gegründet worden. Das ergibt 1179. Spätere
Geschichtsschreiber bis ins 20. Jahrhundert haben dieses
auf Bern bezogene Gründungsjahr übernommen. Von
den frühen Freiburger Historikern sind zu nennen Peter
von Molsheim,2 Rudella,3 Guillimann4 und Fuchs.5 Manche Autoren gingen von einer Burg oder einer kleinen
Siedlung aus, die ab 1178 oder 1179 zur Stadt geworden
wäre. Beachtlich ist die 1874 geäusserte Hypothese des
Franziskanerpaters Nicolas Raedlé, die Gründung könne sehr wohl in die ersten Jahre Herzog Bertolds IV. von
Zähringen als Rektor Burgunds zurückgehen, bald nach
1152; der Name der Stadt erscheine mehrfach im Verzeichnis der Schenkungen an das Kloster Altenryf, und
zwar schon vor 1177 oder 1179.6 Andere sind ihm darin
gefolgt, konnten aber gegen die Autorität des damaligen
Präsidenten der Société d’Histoire nicht aufkommen. 7
Bereits 1841 war Docteur Berchtold zum weisen, aber
nicht sehr mutigen Schluss gekommen «Cette divergence
d’opinions se laisse facilement expliquer. Une ville ne
s’élève pas dans l’espace d’une seule année et l’on peut
dater la bâtisse du jour où elle a commencé ou de celui
où elle a fini.»8
Die Zähringer kommen nach Westen
Der Freiburger Chronist Franz Rudella stellt uns in seiner Chronik von 1568 den Gründer mit seiner Titulatur
vor: «Bercholdus der 4 dess namens, herzog von Zeringen,
regirer in Burgundt, graff zu Rinvelden, Rychs vogt zu
Zürich, vogt der dryen bistumben Sitten, Losannen und
Genff».11 «Herzog von Zeringen, regirer in Burgundt» –
das ist die getreue Übersetzung von «Dux et rector Burgundie», wie die Siegelinschrift Bertolds IV. lautet. Das
Rektorat ist ein besonderes Amt, das es sonst im Deutschen Reich nirgends gibt. Wie Rudella präzis übersetzt:
«regirer in Burgundt», also bevollmächtigter Vertreter des
Herrschers, Gouverneur.
Mit den Bezeichnungen «Herzog zu Zeringen»
und «graff zu Rinvelden» wird auf die Herkunft dieses
Mannes aus dem alemannischen Gebiet verwiesen. Weshalb wirkt er als «rector Burgundie» in der Westschweiz?
Die Geschichte wurde schon oft erzählt: Dank zweier
Erbschaften von verschwägerten Geschlechtern sind die
Zähringer zu Gütern und Rechten zwischen Jura und
Alpen gelangt.12 Um die Legitimität der zähringischen
Herrschaft zu erklären, wie sie Bertold IV und schon sein
Vater Konrad verstanden haben dürften, müssten wir
weit ausholen, zurück bis zu den burgundischen Königen
des 11. Jahrhunderts. Über den Gegenkönig Rudolf von
1
2
3
4
Die älteste datierte Urkunde, in der Freiburg «villam
que vocatur Friburg» genannt wird, wurde im Jahre der
Menschwerdung Christi 1177 ausgestellt, also zwischen
dem 25. März 1177 und dem 24. März 1178.9 Die drei
nächst folgenden Urkunden sind von 1181, 1182 und
1183. Sie setzen das Bestehen eines Ortes, seiner Kirche
und einer Gruppe führender Personen voraus. Hier setzt
Pierre de Zurich mit seiner minuziösen, 1922 vorgetragenen Studie «Les Origines de Fribourg» ein.10 Seither gilt
1157 unangefochten als das Gründungsdatum der Stadt
Freiburg, und auch der vorliegende Aufsatz – dies sei vorweggenommen – wird daran nichts ändern.
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5
6
7
8
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11
12
Dieser Beitrag ist die gekürzte Fassung des Vortrags am Kolloquium, enthält
aber sämtliche Literaturangaben. Ein ausführlicher Aufsatz erscheint aus Anlass der 850-Jahr-Feier der Stadt Freiburg i. Ü. in Bd. 85/2008 der Freiburger
Geschichtsblätter.
Molsheim, 2. Vater und Sohn Bertold sind nicht unterschieden.
Rudella 1568, Teil II, 11.
Guillimann 1598. Kapitel IX des dritten Buchs ist Freiburg gewidmet. Die Gründung der Stadt wird auf 1179 angesetzt, der Text folgt teilweise Rudella 1568.
Fuchs/Raemy 1687, 26–27. Der damals noch nicht identifizierte Verfasser der
Chronik von 1687, Chorherr Henri Fuchs, überliefert das Gründungsjahr
1179, was vom Herausgeber bereits in Zweifel gezogen wird.
«Communication écrite» vom 20. Oktober 1874, mitgeteilt in: Archives de la
Société d’histoire du canton de Fribourg 4 (1888), 105–109.
De Zurich 1924, 25 zum Urteil des Präsidenten, Abbé Jean Gremaud: «C’est,
sans doute, le ton catégorique de cette critique qui a empêché la version du P.
Raedlé de faire plus tôt son chemin.»
Berchtold 1841, 30.
Abgedruckt in: RD 1 1839, 1, ferner in: Kat. Zähringer 2 1986, 449, mit dt.
Übersetzung (Kat. Nr. 196). Der Zeitraum der Abfassung ergibt sich aus der
Besonderheit des Bistums Lausanne, die Jahre nicht nach der Geburt Christi,
sondern von einem Festtag Mariae Verkündigung zum andern zu zählen.
De Zurich 1924.
Rudella 1568, Teil II, 11.
Zusammenfassend, mit älterer Lit.: Ladner 2003, 11–16; ferner auch Guex
2005, http://www.hls-dhs-dss.ch .
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Villam que vocatur Friburg
Bertold IV. von Zähringen,
ein mutiger junger Ritter
Im Jahre 1152 starben kurz nacheinander Herzog Konrad
von Zähringen und der deutsche König Konrad III. Der
Königswahl ging ein reges Verhandeln unter den Mächtigen voraus. Für Bertold IV. von Zähringen, den neuen,
noch nicht dreissigjährigen Herzog, eröffnete sich die
Hoffnung auf ein eigentliches territoriales Herzogtum.
Mit dem neuen König, dem Staufer Friedrich I., wurde ein
Feldzug nach Westen, nach Burgund und in die Provence
geplant; ein Italienzug sollte folgen.
Doch das Projekt zerschlug sich.15 Vielleicht hatte
Bertold seine Möglichkeiten überschätzt und konnte das
versprochene Truppenaufgebot von 1000 gepanzerten
Reitern nicht aufbieten. Vielleicht war auch eine neue
Lagebeurteilung und eine neue Prioritätenordnung des
Königs der Grund: Anfangs 1153 kam ein Vertrag mit
dem Papst zustande, in dem ein Italienzug und Hilfe
gegen das normannische Königreich Sizilien versprochen
wurde. Bertold von Zähringen brach 1154 mit Friedrich
Barbarossa auf nach Rom zur Kaiserkrönung. Auf dem
kriegerischen Zug durch Italien bewährte sich der nachmalige Gründer von Freiburg mehrfach als mutiger Ritter.
Gunther der Dichter erwähnt ihn im «Ligurinus».16 Gottfried von Viterbo preist seine Schlauheit, die dem Kaiser
das Leben gerettet hat.17 Bei Handstreichen, nächtlichen
Überfällen, Belagerungen aber auch in diplomatischen
Missionen zeichnet Bertold sich aus.18
Abb. 1 Stammtafel der Herzöge von Zähringen und der mit ihnen
verwandten Hochadelsgeschlechter.
13
14
15
Rheinfelden stammte Bertold IV vom burgundischen
Königshaus ab.13 Bertold II von Zähringen hatte 1090
die Güter und Rechte der Rheinfelder in der Westschweiz und anderswo geerbt. Sein Sohn Konrad konnte
1127 mit königlichem Segen das Erbe seines in Payerne
ermordeten Neffen Wilhelm, genannt «puer», der Junge, aus dem burgundischen Grafenhaus beanspruchen.
Mehr noch: König Lothar von Süpplingenburg verlieh
ihm das Rektorat über Burgund. Es ist Konrad gelungen,
sich in diesem neuen Wirkungsfeld auch durchzusetzen,
namentlich gegen seinen Vetter, den Grafen Amadeus
von Genf.14
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16
17
18
Zur Abstammung Rudolfs von Rheinfelden: Wolf 2001. Ferner auch http://
www.genealogie-mittelalter.de/rheinfelden_herren_von/rheinfelden_herren_
von.html und von dort ausgehend Links zu einzelnen Personen, mit Literaturverweisen.
Guichonnet 2006; Wolf 2001, 63–74. Ferner auch: http://www.genealogiemittelalter.de/welfen/rudolfinger_koenige_von_burgund/mathilde_prinzessin_von_burgund/mathilde_von_burgund.html.
Über die Gründe bestehen verschiedene Auffassungen. Eine gewisse vorübergehende Abkühlung des Verhältnisses zwischen den beiden jungen Männern
ist möglich – wie ich auch einmal abgeschrieben habe –, doch hat man das
Zerwürfnis zu sehr betont. Tatsächlich ist Bertold eine Zeit lang nicht am
Königshof, genauer, erscheint er nicht als Zeuge in Urkunden. Andererseits
lässt sich das ganz seltene Auftreten seiner alten Widersacher, Wilhelm von
Mâcon und Amadeus von Genf, nicht mit einer neuen Huld des Königs erklären. Das eine Mal werden sie wegen der Freiheiten des Klosters Payerne in
die Pflicht genommen, ein anderes Mal suchte eine Gesandtschaft eigens den
König in Worms auf wegen zweier Burgen im Raum Grenoble. Für gleichzeitig behandelte Geschäfte betreffend Vienne und Arles wurde Amadeus nicht
beigezogen. Dazu: Regesta Imperii IV, 2/1, Nr. 160 (Grafen Amadeus und
Wilhelm), Nr. 182 (Graf Amadeus), ferner auch Nr. 162 (Graf Wilhelm, ebenfalls in burgundischer Sache).
Parlow 1999, Nr. 368, nach: Erwin Assmann, Gunther der Dichter: Ligurinus
(MGH, SS. rer. Germ. LXIII), Hannover 1987, 219.
Parlow 1999, Nr. 457, nach: Georg Heinrich Peertz, Gotifredus Viterbensis:
Gesta Friderici I. (MGH, SS. rer. Germ. XXX), Hannover 1870 , 30.
Regesta Imperii IV, 2/1, Nr. 280; Parlow 1999, Nr. 368, 369, 408, 409, 416,
418, 423, 452 und 481.
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Villam que vocatur Friburg
73
Was immer in diesen Berichten im einzelnen
stimmt oder nicht – von Aussenstehenden verfasst,
dürfen sie als unverdächtig gelten, was die Wertung der
Tüchtigkeit Bertolds betrifft. Er wusste Stärken und
Schwächen des Gegners, des Geländes oder einer Befestigung zu beurteilen und verfügte über einen ausgeprägten
Orientierungssinn. In Italien sind ihm vielversprechende
kommunale Organisationsformen bekannt geworden, die
sich nicht ohne Reibungen dem Lehenswesen nördlich
der Alpen einfügen liessen. Der Erbauer Freiburgs war
mit mehreren Formen der welschen Sprache vertraut. Seine Mutter stammte aus Namur im heutigen Belgien. Das
Erlernen des Westschweizer Franko-Provemzalisch hatte
wohl zu seiner Erziehung gehört, und offenbar wurde
ihm auch das lombardische Idiom ausreichend vertraut.
Die Neuordnung in der nachmaligen
Westschweiz
Abb. 2 Die Westschweiz im 12. Jahrhundert.
Wann während dieser langen Jahre zu Pferd im Staub italienischer Landstrassen konnte Bertold an seine burgundischen Angelegenheiten denken?
Er war auch nach der Rückkehr vom ersten Italienzug im Herbst 1155 zunächst im Gefolge des Kaisers
geblieben und erlebte die neueste Wendung aus der Nähe.
Zielsicher das Ableben des Grafen Wilhelm von Mâcon
nutzend, gab Friedrich seinen Plan auf, um eine byzantinische Prinzessin zu werben, und holte Beatrix heim,
die als anmutig gepriesene junge Erbtochter der Grafen
von Burgund. Damit waren die Hoffnungen Bertolds auf
einen Ausbau seiner Stellung westlich und südlich des
Juras weitgehend zerschlagen. Er wurde jedoch mit dem
Recht abgefunden, den Bischöfen von Lausanne, Genf
und Sitten im Namen des Kaisers ihre weltlichen Kompetenzen zu übergeben (Regalieninvestitur).19 Der Kaiser
war höchst zufrieden mit der Regelung der burgundischen
Frage, wie er Abt Wibold von Stablo nach Weihnachten
1156 mitteilte: «Über den Stand Unseres Wohlergehens
– als Unser Vertrauter wirst Du Dich zweifellos darüber
freuen – wollen Wir Deiner Gelehrsamkeit zu wissen
tun, dass Wir mit der Gnade dessen, der den Königen
Heil verleiht, die Angelegenheiten in Burgund prächtig
beigelegt haben und auf glücklicher Reise ins Rheinland
zurückgekehrt sind.»20
Bertold konzentrierte sich vor allem auf das Bistum Lausanne, zu welchem auch die neue Stadt gehören sollte. Diesem stand Bischof Amadeus vor. Über ihn
schreibt ein moderner Historiker: «Saint Amédée est le
seul grand évêque de Lausanne, si par là on entend à la
fois une vie et une doctrine exemplaires, ainsi qu’une
action politique et pastorale hors du commun.»21
Amadeus, ein Zisterzienser aus der Dauphiné,
genoss das vollständige Vertrauen des Papstes wie auch
des Kaisers. Er akzeptierte die neue Situation, in weltlichen Belangen nicht mehr direkt dem Kaiser unterstellt
zu sein. Andererseits konnte er mit einer gewissen Erleichterung die Unterstützung annehmen, die ihm fortan Bertold von Zähringen zu gewähren hatte, beispielsweise
gegen Übergriffe des Grafen Amadeus von Genf. Dieser
hatte sich gar erfrecht, dem Bischof die Burg Lucens zu
entfremden und in Lausanne selber einen Turmbau zu
beginnen.
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Bertold IV. trifft Bischof Amadeus
Die kluge Politik des Bischofs führte zu einer Beruhigung der Lage. Wenig später, im Verlaufe des Jahres 1156,
erfolgte die Ernennung Bertolds zum Vertreter des Königs
gegenüber dem Bischof von Lausanne. Zwischen dem 25.
19
20
21
Das Datum der Vereinbarung ist nicht bekannt. Parlow 1999, Nr. 390, datiert
sie zwischen die Rückkehr vom Romzug im Herbst 1155 und die kaiserlichen
Hochzeit (Juni 1156), die Bearbeiter der Regesta Imperii IV, 2/1, Nr. 424, in
den November 1156, als Friedrich sich in Burgund aufhielt. Noch im Februar
1156 ist Bertold «dux Burgundie» (Parlow 1999, Nr. 388 bzw. Regesta Imperii
IV, 2/1, Nr. 386); am 10. Mai «dux de Ceringen» (Parlow 1999, Nr. 389 bzw.
Regesta Imperii IV, 2/1, Nr. 394).
MGH, DD F I, Nr. 154: «De statu nostri prosperitatis te tanquam specialem
nostrum gaudere non dubitantes eruditionem tuam scire volumus, quod nos
compositis in Burgundia magnifice nostris negotiis ipsius favente clementia,
qui dat salutem regibus, prospero itinere ad partes Reni sumus reversi …».
Morerod 2000, 151. Dieser auf einer souveränen Kenntnis eines höchst umfangreichen Quellenmaterials beruhenden Arbeit verdankt der vorliegende
Aufsatz mehr als im Detail nachgewiesen wird.
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März 1157 und dem 24. März 1158 beurkundete Bertold
zwei Rechtsgeschäfte, an denen Bischof Amadeus als Zeuge
beteiligt war.22 Diese Begegnung kann stattgefunden haben
zwischen anfangs Februar 1157, als der Herzog in Ulm den
Kaiser verliess, und seiner neuerlichen Rückkehr an den
weiterziehenden Hof, diesmal nach Besançon, gegen den
20. Oktober;23 dann wiederum in den Monaten Dezember
1157 und Januar oder Februar 1158. Die beiden Herren
haben gewiss nicht bis in den Winter 1157/58 gewartet, um
die Grundlagen ihrer Zusammenarbeit zu regeln.24 Allerdings muss eingeräumt werden, dass das genannte, eindeutig bezeugte Treffen nicht das erste gewesen sein muss. Mit
zwei gleich lautenden Urkunden erliess Bertold um seines
Seelenheils willen den Zisterzienserklöstern Altenryf und
Hautcrêt Steuern aller Art in seinem Herrschaftsgebiet und
befahl ferner, dass niemand in seiner Herrschaft von ihnen
und andern Brüdern des Ordens Wegzölle und Markttaxen fordere – wörtlich übersetzt: eine Abgabe bei Gelegenheit der Durchreise oder einen Zoll, wie er üblicherweise
auf Handelswaren nach Marktrecht erhoben wurde. Selber Zisterzienser, setzte sich Amadeus besonders für das
Wohl der beiden Klöster ein; es war erst zwanzig Jahre her,
dass diese nicht zuletzt mit der Absicht gegründet worden
waren, das Ausgreifen des Zähringers Konrad zu bremsen.
Warum wohl war den Zisterziensern ausgerechnet jetzt daran gelegen, vom Herzog und Rektor von
Burgund eine solche Gunst zu erlangen? Welcher Markt
mit seinen Gebühren hätte die Mönche benachteiligen
können? Seit der Arbeit von de Zurich bringt man dieses
Privileg mit der Gründung der Stadt Freiburg in Zusammenhang, eine Gründung, die Bischof Amadeus wohl
nicht nur geduldet, sondern ausdrücklich gebilligt hat.
Wenn Bertold nicht nur mit militärischem, sondern auch
politischem Spürsinn begabt war, konnte ihm nicht entgangen sein, dass der friedfertige Bischof durchaus seine
geistlichen Waffen zu führen wusste, wenn ihm ein weltlicher Grosser eine Burg entriss oder einen Turm vor die
Nase setzte. Das zeigt deutlich ein Brief, den Amadeus
aus dem Exil an seine Getreuen gerichtet hatte, in welchem er Moudon, von wo aus die Männer des Grafen
von Genf ihre Streifzüge unternahmen, als Festung des
Teufels verwünscht.25
Villam que vocatur Friburg
stück zurückzugeben, auf dem der vierte Teil der neuen
Stadt steht. Aus dem Text schliesst Pierre de Zurich, 27
dass bereits eine Stadt mit mehreren Gebäuden bestanden haben müsse, die Gründung also bereits einige Jahre zurückliege. Mit der genauen Analyse von 21 nicht
datierten Urkunden grenzt de Zurich nun den möglichen
Zeitraum seit dem Herrschaftsantritt Herzog Bertolds
IV. weiter ein. Zusammengefasst das Wichtigste: In einer
Schenkungsurkunde an das Kloster Hauterive wird unter
den Zeugen ein «Anselmus dal Fribor» genannt. Der
Schenker und die Zeugen treten auch bei andern Geschäften aus dem mittleren 12. Jahrhundert auf. Dies lässt sich
aus den bekannten Amtszeiten der da und dort genannten geistlichen Würdenträger schliessen, auch wenn alle
diese Akten nicht datiert sind.
Der Name des damaligen Abts von Altenryf ist
mit P. abgekürzt. Damit kann kein anderer als Pontius
gemeint sein, der lediglich um 1162 für ein Jahr oder
etwas mehr dem Konvent vorstand. Die früheste Erwähnung des Namens unserer Stadt muss von 1162 stammen
«ou d’une époque extrêmement voisine de cette date».28
Der Zeitraum, in dem die Gründung stattgefunden haben muss, ist damit auf das Jahrzehnt zwischen
1152 – Bertold wird Herzog – und 1162 – die Herkunftsbezeichnung «dal Fribor» eingeschränkt.
Und wenn damit noch keine Stadt, sondern lediglich eine Burg gemeint sein sollte? De Zurich ist überzeugt, dass sich der Name Freiburg nur auf ein Gemeinwesen mit einem Stadtrecht beziehen kann, fügt aber einen
zusätzlichen Beweis an. Er untersucht dazu das in Altenryf
erhalten gebliebene Doppel eines Briefs des Herzogs B.
an den Priester H., den Schultheissen T. und die übrigen
Bürger, hoch und niedrig, sie sollen sich keine Übergriffe
auf das Haus des Klosters Altenryf in ihrer Stadt mehr
erlauben, das er von allen Abgaben befreit habe.29 Die
Stadt Freiburg ist nicht mit Namen genannt. Das Siegel
fehlt; aber die Beschreibung durch einen Gelehrten des
18. Jahrhunderts ist überliefert. Es muss sich um ein Sie-
22
23
24
25
«Villa que vocatur Friburg»
Wie eingangs gestreift, stammt die erste datierte, allerdings nur in Kopie überlieferte Urkunde, die den Namen
der Stadt erwähnt, von 1177/78.26 Bertold IV. erklärt sich
bereit, dem Kloster Payerne ein entfremdetes Grund-
Buch SKAM 36.indd 74
26
27
28
29
Text ediert in: Tremp 1984, 347 D7.
Regesta Imperii IV, 2/1, Nr. 435 und 488.
Morerod 2000, 158–161.
«Castrum Milduni, nec ros misericordiae, nec pluvia gratiae veniant in te
[…]. Posteritas tua, Mildune, perpetue ob probra Christi Domini maledicto
addicta est. […] Sanguis tuus in caput tuum. Fundata es, munitio diaboli, in
injustitia.» Gedruckt in: Dimier 1949, 369–372.
Wie Anm. 9.
De Zurich 1924, 36.
De Zurich 1924, 51.
Druck in: Tremp 1984, 349 D 9; ferner mit dt. Übersetzung in: Kat. Zähringer
2 1986, 449f. Nr. 202.
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Villam que vocatur Friburg
gel gehandelt haben, das Bertold IV. bis 1169 verwendet
hat und das auch an der Urkunde von 1157 hängt, mit
der Bertold das Kloster Altenryf von Abgaben befreit hatte. Die Mahnung muss an Freiburg gerichtet sein. Während die blosse Nennung eines «Anselmus dal Fribor»
von 1162 noch nichts über die Eigenart des Ortes aussagt,
wird mit diesem zwischen 1157 und 1169 verfassten Brief
ein organisiertes Gemeinwesen gemassregelt.
Pierre de Zurich kommt zum Schluss: «Toutes
ces considérations me paraissent suffisantes pour formuler l’hypothèse – je dirais plus – pour affirmer qu’il
est presque certain que Fribourg a été fondée en 1157.»30
Dem ist nichts beizufügen.
Die Voraussetzungen der Gründung
Weshalb eine Siedlung mit zentralörtigen Aufgaben –
um den Begriff Stadt noch zu vermeiden – und weshalb
ausgerechnet hier? Seit Jahrhunderten wird diese Frage
gestellt. Versuchen wir, nicht vom Ergebnis her zu urteilen, sondern uns an die Voraussetzungen heranzutasten.
Wie konnte Bertold aus der verliehenen Ehrenstellung im Bistum Lausanne bestimmenden Einfluss
gewinnen? Offenbar sicherte er Bischof Amadeus weitgehende Handlungsfreiheit zu, wie sie das Bistum seit den
Zeiten der burgundischen Könige genoss. Seit 1011 war
der Bischof auch Graf über das Waadtland; er verfügte
beispielsweise über das Recht, Münzen zu schlagen. Nur
in Randgebieten der Diözese, in Neuenburg und in Greyerz, haben andere Adlige den Grafentitel angenommen.
Auf welche Gebiete und welche von ihm unmittelbar abhängigen kleinere Herren konnte sich Bertold
IV. stützen? Wo lagen die zähringischen Eigengüter? Aus
Anlass der letzten grossen Zähringerausstellung, 1986 in
Freiburg i. Br., stellte Alfons Zettler auf einer Karte die
Ministerialen der Zähringer zusammen, und ebenso diejenigen ihrer Erben, was Rückschlüsse auf zähringische
Zeiten erlaubt. Da gibt es ausser in Kallnach (Kt. Bern)
und Rüeggisberg (Kt. Bern) keine Ministerialen westlich
der Aare, demnach also auch keine Eigengüter, die von
solchen Dienstleuten zu verwalten gewesen wären.
An den Anfang jeder unvoreingenommenen
Beurteilung gehören die naturräumlichen Voraussetzungen. Es gibt Übergänge, Engpässe oder Talmulden
mit Wegkreuzungen, die sich für Siedlungen geradezu
anbieten. Der Standort Freiburg gehört nicht dazu. Sonst
stünde nämlich hier spätestens seit keltischen Zeiten ein
Haupt-Ort, wie etwa in Genf, Zürich, Basel oder Bellinzona, wie in Thun oder Yverdon. Auch im militärischen
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Sinne handelt es sich nicht um ein Schlüsselgelände an
einer natürlichen Hauptachse. An Bulle/Vaulruz etwa
oder am Raum Murten kommt man hingegen nicht vorbei. Ob der zentrale Ort nun als keltisches Oppidum auf
dem Wistenlacher Berg liegt, im römischen Aventicum
oder im mittelalterlichen Murten: immer geht es um
die Sicherung einer West-Ost-Verbindung mit wenigen
Alternativen. Die Bedingungen des Geländes setzen sich
immer irgendwie durch.
Ein Naturraum, der je länger, je mehr dem Zugriff
des Menschen ausgesetzt wurde, waren die «iura nigra»,
die schwarzen, finsteren Urwälder. Sie gehörten dem
König. Sein Stellvertreter durfte darüber verfügen. Bertold kannte das grosse Potenzial des noch unerschlossenen Waldlands. Schon sein Vater Konrad war mehrfach als Zeuge anwesend, als über Einsiedeln, Engelberg,
Interlaken und Rüeggisberg verhandelt wurde.31 Diese
Klöster am Rande des Altsiedellandes stiessen mit ihren
Leuten rodend in den Urwald vor. Bertold selber hatte
Altenryf und Hautcrêt näher kennengelernt, und natürlich waren ihm die Klöster im Schwarzwald, dem Kernland der Zähringer, vertraut: St. Blasien, St. Georgen, St.
Peter.
Gab es anderes Reichsgut, auf das Bertold als Rektor von Burgund Zugriff gehabt hätte? Schwer zu sagen.
Gewiss die Grasburg hoch über der Sense und Gümmenen an der untern Saane. Aber weiter westlich? Da
sind die wichtigsten Plätze schon längst in anderen Händen: Murten, Avenches, Payerne, Lucens und Moudon
im Broyetal, Riaz mit seiner Nachfolgesiedlung Bulle
auf der Drehscheibe zwischen Genferseebecken, Mittelland und Voralpen. Dem altberühmten Kloster Payerne
oder gar dem Bischof in Moudon oder Lausanne selber
mit dem Bau eines Turms in die Quere zu kommen –
damit war eben Graf Amadeus von Genf gescheitert.
Dass die Abklärung bestehender Rechte nie sorgfältig
genug geschehen konnte, zeigt das Einlenken gegenüber
Payerne mit der Urkunde von 1177/78.32
Zu den königlichen Rechten, den Regalien,
gehörten ferner und ganz wesentlich die Strassen, die
Zölle, die Märkte. Wollte also Bertold solche Einkünfte erzielen, musste er sich auf den Raum ausserhalb des
Waadtlands beschränken, um nicht mit dem Bischof in
Konflikt zu geraten. Dieser konnte sich bei Bedarf auf
30
31
32
De Zurich 1924, 63.
Parlow 1999, Nr. 241, 280, 296, 303, 304 und 309.
Siehe oben bei Anm. 9.
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76
alte, grosszügige Formulierungen berufen, wie «zwischen
Jura und Alpen und bis an die Saane».33
Herrschaftsausübung beruht auf persönlichem
Kontakt. Für Bertold und seine engsten Helfer war es
demnach wichtig, über gute Verbindungen und über
sichere Etappenorte zu verfügen. Wie weiter, wenn eine
Furt wegen Hochwasser tagelang nicht passierbar war? Von
keinem natürlichen oder künstlichen See gebändigt – im
Gegensatz zu anderen Flüssen des Mittellandes – war die
Wasserführung der Saane bis ins 20. Jahrhundert noch
weit unregelmässiger. Wo gab es frische Pferde, Unterkunft und Verpflegung für Ross und Reiter? Auch musste
ein solcher Stützpunkt wie die lombardische Burg, die
Bertold einst selber mit Leitern erklettert hatte, 34 durch
Natur und Baukunst gleichermassen geschützt sein.
Die Übersicht zeigt es: Naturräumliche und vom
Menschen bestimmte Voraussetzungen greifen eng ineinander. Vieles ist über Jahrhunderte gewachsen: die geographische Verteilung von Altsiedelland und Gebieten,
die sich zur Erschliessung durch Rodung anbieten, die
oft mit Gewalt zustande gekommenen rechtlichen und
politischen Gegebenheiten. Dazu kommen mittel- und
langfristige Vorstellungen und Ziele von Menschen, die
immer etwas mehr als ein Dach über dem Kopf und das
tägliche Brot für sich und ihre Kinder suchen. Alle diese
Gegebenheiten musste Bertold von Zähringen berücksichtigen.
Bertolds Wahl
Bertolds Wahl fiel auf ein Plateau in einer Fluss-Schlaufe
der Saane. Der Ort liegt unmittelbar bei einer Furt; er ist
von Natur aus gut geschützt. Er verfügt über Trinkwasser.
Zwischen Burgdorf und Lausanne, zwischen Burgdorf
und Vevey oder zwischen Solothurn und Lausanne liegt
er je auf halbem Weg, jeweils einen allerdings anstrengenden Tagesritt entfernt.35 Der Ort liegt im Altsiedelland, aber nahe von noch zu erschliessenden Wald- und
Weidegebieten.
Zahlreiche objektive Voraussetzungen sind also
erfüllt. Aber von selber bekommt eine hier gegründete
Siedlung nicht die Bedeutung eines Zentrums, das als
Stadt wahrgenommen wird. Ohne die Entschiedenheit
der Initianten und der ersten Einwohner geschieht gar
nichts.
Im März 1158 reiste Bertold von Zähringen wieder nach Italien. Er hatte zwar die Weichen gestellt, aber
andere mussten sich um die Baufortschritte kümmern.
Es dürften führende Familien der Umgebung gewesen
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Villam que vocatur Friburg
sein. Mit günstigen rechtlichen Rahmenbedingungen
erhielten sie ehrenvolle Aufgaben im Dienst des kaiserlichen Statthalters und die Möglichkeit, ihr Einkommen
zu mehren. Aus den Zeugenlisten der Schenkungen an
Altenryf und den wenigen Urkunden aus Freiburg selber
treten sie uns entgegen, Geschlechter von deutscher und
von welscher Herkunft. Zu Beginn war Freiburg wohl eine
Ansammlung gut gebauter Häuser (Sässhäuser), von der
aus das umliegende Land durch Dienstleute des Herzogs
herrschaftlich erschlossen, aber auch gesichert wurde.
Später war die ausgebaute Landwirtschaft immer mehr
in der Lage, auch Menschen zu ernähren, die in anderen
Bereichen tätig waren; Arbeitsteilung setzte ein.
Eine selbstbewusste Gemeinschaft von Stadtbürgern entstand, die zunehmend als eigene Rechtspersönlichkeit ihr Schicksal selber gestalten wollte. Seit 1225 ist das
«sigillum de Friburgo in Burgundia» nachgewiesen. In der
Mitte des 13. Jahrhunderts bezeichnen sich die Bürger als
«Communitas de Friburgo» oder «Universitas Friburgi».
Freiburg ist nach dem heutigen Stand der Kenntnis eine Neugründung, wenn auch in altem Siedlungsgebiet. Die vereinzelten vormittelalterlichen Funde da
und dort widersprechen dieser Feststellung nicht. Andere
Stadtgründungen mögen von einer bestehenden Siedlung ausgehen, die – vereinfacht gesagt – mit einer neuen
Rechtsstellung und einer Stadtmauer versehen werden.
Neugründung, das heisst an einem Ort Menschen dauerhaft zusammenzuführen, die vorher noch kaum etwas
miteinander zu tun hatten. Es ist ein Willensakt, dem
eine eingehende Lagebeurteilung vorausgehen muss. Für
den Gründer ist eine solche Investition kein Ziel an sich,
sondern ein Mittel, Herrschaft aufzubauen und langfristig zu sichern.
Rechtmässige Herrschaft und ehrendes
Andenken
Die neue Siedlung heisst Freiburg,36 ganz offensichtlich
in Anlehnung an die Gründung von Bertolds Vater Konrad im Breisgau.37 Das Wort «Burg» war damals noch in
seiner ursprünglichen Bedeutung verständlich, die im
33
34
35
36
37
Schenkung Kaiser Heinrichs IV. von 1079, zitiert in Morerod 2000, 516:
«quicquid vero ipse (d.h. Rudolf von Rheinfelden) suique infra fluvium Sanuna et montem Iovis et pontem Genevensem et infra montana Iur et Alpium
habuerunt […] in proprium tradidimus.» Einige Orte, darunter «Muratum»,
höchst wahrscheinlich Murten, werden namentlich genannt.
Parlow 1999, Nr. 369.
Guy von der Weid, Pierrafortscha, Hauptmann der Kavallerie a.D., hat mir zu
dieser Frage liebenswürdig Auskunft gewährt.
Walter Haas, Freiburg, verdanke ich den Artikel von Metzner 1983.
Baeriswyl 2003.
14.11.2009 14:54:07 Uhr
Villam que vocatur Friburg
französischen le bourg weiter besteht: nicht «Ritterburg»,
sondern geschlossene, mehr oder weniger befestigte Siedlung. Freiburg ist ein solcher Ort, dessen Einwohner als
Bürger gewisse Freiheiten, das heisst ein bestimmtes Mass
an Selbstverwaltung und die Befreiung von gewissen
Leistungen und Abgaben geniessen.
So wie der Name der Stadt ist auch die Wahl des
Titelheiligen für die vom Herzog errichtete Kirche mit
dem Andenken der Vorfahren verbunden. Die Verehrung
des heiligen Nikolaus von Myra38 hat sich in Süddeutschland seit der Mitte des 11. Jahrhunderts – noch vor der
Überführung seiner Gebeine nach Bari (1087) – durch
Förderung führender Adelsfamilien verbreitet, die der
kirchlichen Reform nahestanden. Der Gründer von Freiburg im Üchtland hatte offenbar nicht vergessen, auf wen
seine Güter und Rechte in Burgund zurückgingen. Seine
Urgrossmutter Adelheid, die Gattin Rudolfs von Rheinfelden, und der jung verstorbene Bertold von Rheinfelden,
der Bruder der Grossmutter, liegen in der Nikolauskapelle
des Klosters St. Blasien im Schwarzwald bestattet.39 Diese
wurde 1092 nach einem Neubau von Bischof Gebhard III.
von Konstanz, einem Zähringer, geweiht.40 Der Bau einer
Nikolauskirche in Freiburg durch Bertold IV. mochte dem
Seelenheil der Vorfahren förderlich sein und konnte die
Rechtmässigkeit der Zähringerherrschaft in der Nachfolge des Rheinfelder Grafenhauses, ja der burgundischen
Könige, unterstreichen. Darüber hinaus mochte der heilige
Nikolaus alle beschützen, die aus irgend einem Grund, im
77
Abb. 3 Die Topographie der Gründungsstadt Freiburg in Spornlage
über dem Steilufer der Saaneschlaufe
Dienst der Herrschaft oder als Kaufleute, den Weg über
diesen neuen Ort nahmen.41
So neuartig das Wagnis einer Stadtgründung unabhängig von einer bestehenden Siedlung war – Bertold IV.
stellte sich in die Tradition seines Vaters Konrad, der den
zähringischen Anspruch westlich der Aare durchzusetzen
wusste und sich als Erbe König42 Rudolfs von Rheinfelden
verstand.43
38
39
40
41
42
43
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Stanislas Rück, Freiburg, verdanke ich den Katalog einer Ausstellung in Bari
mit zahlreichen Forschungsbeirägen: Kat. Splendori.
Jakobs 1968, 230–232, 267, 283; Jakobs 1973, 87–115; Jakobs 1996, 9–38. –
Den Hinweis auf die von Rudolf von Rheinfelden dem heiligen Nikolaus
entgegengebrachte Verehrung verdanke ich Jürg Tauber, Kantonsarchäologe
Baselland, im Anschluss an seinen Vortrag an der Tagung.
REC 1 1895, 72–82. Tüchle 1949, 24, 66 und 70; zur Nikolausverehrung in
der Diözese, ausgehend von Hirsau: 127.
Die Urkunde von 1157 (siehe oben bei Anm. 22) zu Gunsten der Klöster
Hauterive und Hautcrêt zeigt, dass von Anfang an mit Handel und Wandel gerechnet wurde. – Zur Frage des Freiburger Nikolauspatroziniums: Utz
Tremp 2005, 14–17.
Die so eindeutig scheinende Unterscheidung zwischen einem rechtmässigen
König – dem Salier Heinrich IV. – und einem negativ zu beurteilenden Gegenkönig geht wohl wesentlich auf die Geschichtsschreibung der deutschen
Kaiserzeit des 19. Jahrhunderts zurück.
Skoda 2004, 181–194, hier 191.
14.11.2009 14:54:08 Uhr
78
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Buch SKAM 36.indd 78
Villam que vocatur Friburg
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Abbildungsnachweis
Abb. 1–3 F. Guex (Umzeichnungen Archäologischer Dienst des Kantons Bern,
Andreas Zwahlen)
14.11.2009 14:54:08 Uhr
Die Entdeckung des Platzes
79
Karsten Igel
Die Entdeckung des Platzes
Die Entstehung und Gestaltung kommunaler Plätze – Methoden ihrer Erforschung
I. Kommunale Plätze
Das Ensemble aus Rathaus, Kirche, stattlichen Bürgerhäusern und dem von diesen eingerahmten Marktplatz
steht wie die Stadtmauer mit ihren Türmen und Toren als
Sinnbild für die mittelalterliche Stadt. Doch ist auch in
diesem Falle häufig das Bild der mittelalterlichen von der
frühneuzeitlichen Stadt überlagert. Dort, wo Marktplätze
archäologisch untersucht wurden, hat sich oft gezeigt, dass
sie ihre Platzgestalt erst am Ende des Mittelalters oder in
der Frühen Neuzeit erhalten haben.1 Diese bewusste Anlage und Gestaltung von kommunalen Plätzen, die «Entdeckung des Platzes», die Daniel Gutscher für Bern als Phänomen des 15. Jahrhunderts beschrieben hat,2 ist für den
deutschsprachigen Raum bislang nur für einzelne Städte
und noch kaum vergleichend untersucht worden.3 Verbunden mit dieser Forschungsaufgabe ist die methodische
Frage, wie diese Platzanlagen, die zum Teil tiefe Eingriffe
in den Stadtraum bedeuteten, im integrativen Zusammenspiel der Fächer untersucht werden können.
Um die zu stellenden Fragen, die möglichen Beiträge der einzelnen Disziplinen und deren Grenzen zu diskutieren, ist zunächst der Begriff des «kommunalen Platzes»
näher einzugrenzen. Beschrieben wird damit im Gegensatz zu den unter stadtherrlichem oder Einfluss geistlicher Institutionen entstandenen Plätzen jene, die von der
Kommune bzw. vom Rat als dessen Vertretung bewusst
angelegt wurden. Das Idealbild eines kommunalen Platzes
verkörpert die Piazza del Campo in Siena, die mit ihrer
gegen Ende des 13. Jahrhunderts einsetzenden Gestaltung
den kommunalen Plätzen jenseits der Alpen auch zeitlich
deutlich vorausging. Bemerkenswert am Sieneser Campo
ist in diesem Zusammenhang aber weniger seine Gestalt,
sondern vielmehr die durch Bauverordnungen und die
diese überwachenden Behörden bzw. Personengruppen
geprägte Anlage und mehr noch die darüber berichtenden
Quellen.4 Als 1297 der Bau des Palazzo Publico in Angriff
genommen wurde, bestimmte der Rat der Neun in der
großen Bausitzung vom 10. Mai 1297, dass ein Ausschuss
von Bürgern zur Überwachung des Baues gewählt werden
sollte, zugleich wurden weitere Bauverordnungen erlassen.
Zwei von diesen waren von grundlegender Bedeutung für
die Gestaltung des Campo: Einerseits wurden Vorbauten
an den platzseitigen Fassaden verboten, andererseits für
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alle Neubauten an der Piazza der Bau von mit Säulchen
untergliederten Fenstern, in Anlehnung an jene des Palazzo, vorgeschrieben. Gewollt war damit ein einheitlicher
Frontverlauf der Fassaden entlang des Halbrundes des
Campo wie auch deren möglichst einheitliche Gestaltung. Überwacht wurde dies – wie auch andere Bauverordnungen in der Stadt – von den ufficiali de l´ornata della
città.5 So musste 1370 ein Laden an der Piazza del Campo
«pro major pulcritudine campi» abgerissen werden – er
ragte gut 40 cm über die Fassadenfront hinaus! Und noch
1465 wurde von dieser «Schönheitsbehörde» vorgeschlagen, dem Besitzer des Palazzo Sansedoni ein hohes städtisches Amt zu geben, damit er so in die Lage versetzt werde, seine Palastfassade mit den vorgeschriebenen Fenstern
zu vollenden.6 Der Platz wurde in seiner Gestaltung also
als Gesamtheit mit den angrenzenden öffentlichen wie privaten Bauten betrachtet und sollte sich in der Einheitlichkeit der Fassaden auch als ein in sich geschlossener Raum
präsentieren. Sind wir für Siena dank der schriftlichen
Überlieferung zu Bauverordnungen, deren Ausführung
und Überwachung, aber auch dank Bildquellen und der
erhalten Bausubstanz des Platzes gut über die Entstehung
und Gestaltung der Piazza informiert, so stellt sich dem
Versuch, vergleichbare Phänomene nördlich der Alpen
zu erfassen und zu untersuchen, sogleich die Frage nach
den zur Verfügung stehenden Quellen und den geeigneten
Methoden in den Weg. Ein Blick in die bisherige Forschung
zeigt zudem, dass für diesen Raum der Markt(-platz)
als städtisches Zentrum – von Untersuchungen zu einzelnen Orten abgesehen – bislang kaum ein Thema vergleichender und überregionaler Untersuchungen gewesen ist.7
Ähnliches gilt für die einzelnen Bauelemente des Marktes
bis hin zum Rathaus, zu dem zwar ein jüngerer Überblick
vorliegt, in dem die Relation von Rathaus und Markt/
1
2
3
4
5
6
7
Vgl. Untermann 2009.
Gutscher 1999, 87; siehe dazu auch Untermann 2006a, 218.
Albrecht 1993; Gleba 1998; Igel 2006; Klein 1997; Arnhold 1997; Untermann 2006a 217–219.
Dazu noch immer Braunfels 1982, 93f.; siehe auch Uberti 1995, 191–195.
Braunfels 1982, 96f.
Ebd., 110.
Einen guten, aber gerade für den nordalpinen Raum nicht immer gelungenen
Ansatz bietet Calabi 2004.
14.11.2009 14:54:08 Uhr
80
Abb. 1 Greifswald, Markt um 1400.
Platz aber nur in geringem Masse thematisiert wird.8 Zu
Recht hat Matthias Untermann jüngst darauf hingewiesen, dass die Stadtbaugeschichte der Zeit um 1400 – aber
wohl auch der folgenden Jahrzehnte – bislang kaum eine
eingehendere Würdigung gefunden hat.9
II. Kommunale Plätze in deutschen
Städten als Forschungsaufgabe
Die Entstehung und Gestaltung städtischer Plätze als
Teil einer ursprünglichen Stadtplanung, als (längerfristiger) Entwicklungsprozess oder als Neugestaltung
innerhalb des bestehenden Stadtraums ähnelt letztlich
den verschiedenen beschreibbaren Wegen der Stadtentstehung, spiegelt diese in gewissem Sinne im Kleinen
wider.10 Stand letzterer Prozess, vor allem in der Frühphase, unter stadtherrlichem Einfluss, wenngleich auch
in unterschiedlichem Masse mit Beteiligung städtischer
Gruppen, so dokumentierte die Anlage kommunaler
Plätze die städtebaulichen Vorstellungen des Rates bzw.
der diesen dominierenden Gruppen. Daraus ergeben sich
verschiedene Fragerichtungen, die zu einem Gesamtbild
zusammenzuführen sind: Zu Beginn der Betrachtung stehen Form und Ausmass der Umgestaltung – damit verbunden die Frage, nach dem, was zuvor war, Zeitpunkt
und Dauer der Umsetzung und schliesslich die dahinterstehenden Protagonisten und deren Intentionen. Beantworten, soweit dies möglich ist, lassen sich diese Fragen
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Die Entdeckung des Platzes
nur im Zusammenspiel verschiedener Quellentypen und
der diese untersuchenden Disziplinen.
Die Grenzen der Untersuchungsmöglichkeiten
zeigen sich bereits im Blick auf die Entstehung kommunaler Platzanlagen im deutschsprachigen Raum. Die Frage,
wie weit diese, der angeführten Definition entsprechend,
schon vor dem 15. Jahrhundert entstanden,11 wäre sicherlich noch zu untersuchen, dürfte vermutlich aber auch an
die Grenzen der schriftlichen Überlieferung zu diesem
Aspekt führen. Städtische Plätze, vor allem Marktplätze,
mit älteren Wurzeln existieren zahlreich, typisch sind sie
beispielsweise für die Städte des Ostseeraums. Die umfangreichen archäologischen Untersuchungen, die seit den
1990er Jahren in den Städten der ehemaligen DDR stattgefunden haben, liefern zum Teil einen sehr guten Einblick in
die sich über Jahrzehnte bzw. Jahrhunderte erstreckenden
Entwicklungen und Wandlungen der dortigen Märkte und
ihrer Bebauung.12 Diese bislang nur in Teilen oder Vorberichten publizierte umfangreiche Befundlage bietet sich
geradezu als Ausgangspunkt zur fächerintegrativen Untersuchung des Phänomens Markt(-platz) an. Die häufig, aber
nicht immer, bereits in der Gründungsphase festgelegten
Plätze entwickelten ihre Gestalt erst über einen längeren
Zeitraum in der Entwicklung und im Wandel ihrer kommunalen Funktionen und sind so – im Gegensatz zum
geplanten und gestalteten kommunalen Platz – vielleicht
eher als ein zunächst bewusst für verschiedene öffentliche
Zwecke offen gelassener «Freiraum» zu betrachten.
Archäologisch wie historisch gut untersucht ist der
Greifswalder Markt, der durch das in den 1340er Jahren
errichtete Rathaus in zwei Plätze, den kleineren Fischmarkt
im Westen und den Grossen Markt im Osten, untergliedert wird (Abb. 1).13 Nach den archäologischen Befunden
scheint das sich über die Breite von zwei Strassenblöcken
erstreckende Areal schon bei der Absteckung des Strassenrasters für eine öffentliche Nutzung frei gelassen worden
zu sein. Der erste belegbare Bau in diesem Bereich ist ein
kurz nach 1266/67 errichteter hallenartiger Pfostenbau von
gut 50 m Länge, der als Markthalle gedeutet wird.14 Der
8
9
10
11
12
13
14
Albrecht 2004. Knapp thematisiert wird dieser Zusammenhang von Meckseper 1982, 181–184; Meckseper 2003; Paul 1985, 100f.; Arnhold 1997.
Untermann 2006a, 211.
Zu diesen Prozessen siehe beispielsweise Stadt 2004; Baeriswyl 2003; Baeriswyl 2006; Untermann 2006b; Stercken 2006.
Siehe Untermann 2006a, 219.
Nur als Beispiele seien genannt Hoffmann 2005; Wieczorek 2005; Konze
2005; Plate 2008.
Schäfer 2000,446f.; Schäfer 2004, 272f.; Igel 2002a, 26–30; Igel/Kiel 2004, 9;
Igel 2008a.
Schäfer 2004, 272.
14.11.2009 14:54:08 Uhr
Die Entdeckung des Platzes
Bau grosser steinerner Bürgerhäuser am Markt setzte ausweislich der archäologischen wie bauhistorischen Befunde
frühestens in den 1270er, eher aber in den 80er und 90er
Jahren desselben Jahrhunderts ein.15 Um 1300, als das erste
Marktgebäude aus den 1260er Jahren anscheinend ausgedient hatte und verfallen war, wurde nördlich des späteren
Rathauses eine später als «Alte Krämerbuden» bezeichnete, noch heute bestehende Marktbudenzeile errichtet, das
Rathaus folgte dann in den 1340er Jahren. Darüber hinaus
haben auf den Freiflächen der beiden so entstandenen
Marktplätze keine massiven Bauten, die entsprechende
Spuren im Untergrund hinterlassen hätten, bestanden.16
Nicht auszuschliessen sind natürlich ältere Strukturen, die
von den «Alten Krämerbuden» oder dem Rathaus mit ihren
Kellern überlagert wurden. An diesem Beispiel zeigt sich
also eine Platzentwicklung im Wechselspiel von öffentlichen
wie privaten Bauprojekten im Gegensatz zu der bewussten
Platzgestaltung, die hier betrachtet werden soll.
Die Anlage städtischer Plätze lässt sich für das 14.
Jahrhundert auch unter dem Einfluss Karls IV. beobachten, zu denken ist dabei nur an die Prager Neustadt mit
dem heutigen Karlsplatz,17 aber ebenso an den Nürnberger Hauptmarkt, der mitsamt der diesen akzentuierenden Frauenkirche nach 1349 an die Stelle des jüdischen
Quartiers trat. Aber hier war das herrschaftliche Element,
nicht das kommunale entscheidend.18 Mit dem Nürnberger Hauptmarkt wäre zugleich ein weiteres Phänomen angesprochen: Plätze oder Freiflächen, die an die
Stelle jüdischer Siedlungsareale, insbesondere von Synagogen traten.19 Verstärkt ab dem 15. Jahrhundert setzte
der Abbruch von Marktbuden und anderen Bauten der
Marktareale ein, wodurch häufig erst der Charakter eines
Platzes, auch bei den breiten Strassenmärkten entstand.20
Mit diesen Vorgängen muss aber nicht notwendig eine
eigentliche Platzgestaltung im Zusammenhang von Platz
und den ihn umgebenden bzw. akzentuierenden Bauten
verbunden gewesen sein.
Bereits das Beispiel Greifswald hat verdeutlicht,
dass die Frage nach der Platzentstehung und -gestaltung
nur im Zusammenspiel von archäologischer, historischer
und nicht zu vergessen bauhistorischer Forschung untersucht werden kann, womit der Blick auf die methodischen
Probleme dieser Zusammenarbeit gelenkt werden soll.
Offensichtlich ist, dass die archäologischen Befunde kaum
Hinweise auf die Protagonisten hinter Veränderungen im
Stadtraum und deren Intentionen liefern können. Andererseits ist es zumindest problematisch, sofern überhaupt
möglich, von den Schriftquellen allein auf die räumliche
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81
Dimension dieser Veränderungen zu schliessen, zumal
im Blick auf die zuvor bestehenden Raumstrukturen. Die
notwendige Zusammenarbeit muss also die unterschiedlichen Aussagemöglichkeiten der archäologischen und
schriftlichen Quellen, aber ebenso die unterschiedlichen
Blickwinkel und Interpretationsansätze von Archäologie
wie Geschichtswissenschaft beachten.21 Da für die Rekonstruktion der dreidimensionalen Strukturen natürlich
die erhaltene aufgehende Bausubstanz von wesentlicher
Bedeutung ist, kommt zudem der Bauforschung eine zentrale Rolle zu, sofern überhaupt an der Höhe Null eine
Scheidelinie zwischen dieser und der Archäologie gezogen
werden sollte.22 Die Chancen einer die archäologischen
und historischen Quellen zusammenführenden Untersuchung sollen eingehender am Beispiel des Osnabrücker
Altstadt-Marktes diskutiert werden. Dieser wurde in den
1980er und 1990er Jahren in grösserem Masse archäologisch untersucht,23 ist aber auch in den Schriftquellen, insbesondere den Stadtrechnungen des 15. und 16. Jahrhunderts, sehr gut zu fassen.24
III. Das Beispiel Osnabrück
Die schon an anderen Orten vorgestellte Umgestaltung
des Marktes der Altstadt Osnabrück von einem Strassen- und Gassensystem hin zu einem Platz soll hier nicht
noch einmal im Detail nachvollzogen werden (Abb. 2
und 3).25 Anzuführen sind vielmehr jene Aspekte und
Probleme, an denen sich die Chancen und Grenzen einer
fächerübergreifenden Auswertung der archäologischen
wie schriftlichen Quellen aufzeigen lassen. Die grundsätzliche Notwendigkeit dieser Zusammenführung ist bereits
an der Forschungsgeschichte zum Osnabrücker Altstadtmarkt abzulesen: Der älteren stadtgeschichtlichen Forschung galt der Markt in seiner dreieckigen Grundfläche
als ein schon seit dem 11. Jahrhundert aus einer Strassengabelung erwachsener Platz.26 Hinweise auf verschiedene
Marktbuden im Bereich des Marktes waren zwar aus den
spätmittelalterlichen Quellen bekannt, wurden aber nicht
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
Brandt/Lutze 2004, 32–38.
Igel 2002a, 30.
Siehe hierzu und zum folgenden Untermann 2009.
Frieser/Friedel 1999.
Untermann 2006a, 219; Untermann 2009.
Ebd.
Dazu immer noch wesentlich Wenskus 1979; siehe auch Igel 2008b.
Zur Diskussion der Zusammenarbeit siehe Bauforschung 2000.
Schlüter 1987; Schlüter 2001; Igel 2006.
Siehe Eberhardt 1996, 81–103.
Vgl. Igel 2002b; Igel 2006; Igel 2007, 199–207.
So Planitz 1980, 94.
14.11.2009 14:54:09 Uhr
82
Die Entdeckung des Platzes
Abb. 2 Osnabrück, Altstadt-Markt um 1400.
Abb. 3 Osnabrück, Altstadt-Markt im 16. Jahrhundert.
mit der Platzform in Zusammenhang gebracht. 27 Wie
viele, sich allein auf den neuzeitlichen Stadtplan stützende Überlegungen zur frühen Stadtentwicklung wurde allerdings auch diese Vorstellung von einer archäologischen Grabung beerdigt. Überraschend traten 1984/85
praktisch mitten auf dem Marktplatz massive Steinkeller
ans Tageslicht. Zugleich zeigte sich, dass das Areal nördlich dieser Keller bis ins 15. Jahrhundert für Bestattungen
genutzt wurde, also kein Marktplatz, sondern ein Kirchhof war.28 Die Auflassung von Budenzeile und Friedhof,
die sich ausgehend von den archäologischen Befunden in
die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts setzen lässt, gibt
eine umfangreichere räumliche Veränderung im Bereich
des heutigen Marktplatzes zu erkennen, die über den reinen Abriss einer Marktbudenzeile hinausging. Die Keller
dieser Marktbuden lassen mit ihrer massiven Wandstärke
eine auch im aufgehenden Baukörper steinerne und/oder
zweigeschossige Ausführung möglich erscheinen – mehr
als die Möglichkeit lässt sich aus den archäologischen
Befunden freilich nicht erschliessen. In der urkundlichen
Überlieferung werden diese Bauten als hallula oder niederdeutsch als gadem bezeichnet,29 was dem Begriff der Bude
entspricht. Ein Hinweis auf die Bauweise, ob steinern oder
Fachwerk, fehlt. Allerdings sind solche Angaben in der
Osnabrücker Überlieferung ohnehin ausgesprochen selten
und würden in diesem Falle als Unterscheidungskriterium
auch nur sinnvoll erscheinen, wenn die einzelnen Buden
dieser Zeile zwischen Marktstrasse und Marienkirchhof
aus unterschiedlichem Baumaterial errichtet worden sein
sollten. Zu fassen sind in den Quellen die Eigentümer und
zum Teil auch Bewohner dieser Buden, darunter Goldschmiede.30 Die Witwe eines Hökers bewohnte in den
1330er Jahren eine ihr gehörende Bude, obgleich sie auch
ein Haus in unmittelbarer Nähe zum Markt besass.31 Die
Wahl des vermutlich kleineren Gebäudes am Markt liesse
sich vielleicht mit den höheren von einem Haus zu erwartenden Mieteinnahmen als Teil ihres Lebensunterhaltes
begründen. Andererseits deutet der Besitz von mindestens
zwei Gebäuden in der Stadt auf ein gewisses Vermögen
und legt damit auch nahe, dass die Buden am Markt trotz
geringerer Grösse über eine angemessene Wohnqualität
verfügt haben dürften. Damit enden die Überlegungen,
die sich zur Gestalt und Nutzung dieser Budenzeile auf
die Schriftquellen gründen lassen. Eindeutige archäologische Befunde zur Nutzung fehlen allerdings: Herdstellen im Keller können sowohl auf eine handwerkliche Nutzung wie auch auf Vermietung als Wohnkeller hinweisen;
aufgefundene Handwerksabfälle gehören den Verfüllungsschichten der Baugruben und des Abrisses an, können also
nicht sicher einem ursprünglichen Zusammenhang mit
diesen Gebäuden zugeordnet werden.32
Im Blick auf den gesamten Bereich des Marktes
verweisen die archäologischen Befunde auf eine Datierung
in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts, darüberhinaus
geben sie aber zudem eine umfassendere Veränderung der
Raumstruktur zu erkennen, die neben der bereits genannten Budenzeile und dem südlichen Marienkirchhof auch
den Bereich östlich des Chores von St. Marien betraf.33
Detaillierten Aufschluss über die Vorgänge enthalten die
Rechnungen der Osnabrücker Altstadt: Für das Jahr 1486
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27
28
29
30
31
32
33
Stüve 1855, 341–350; Rothert 1938, 175f.
Zur Nutzung als Versammlungsort siehe Igel 2009.
Igel 2006, 206–209.
Ebd., 208.
Urkunden Marienkirche, 1333 April 16.
Vgl. Igel 2002b, 177. Eine überfällige ausführlichere Untersuchung des Fundmaterials könnte aber auch in diesem Falle zu weiteren Ergebnissen führen.
Schlüter 2001, 85–91.
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Die Entdeckung des Platzes
verzeichnen sie den Abriss des Rathauses,34 das ausgehend
von Steuerverzeichnissen und der urkundlichen Überlieferung an der Stelle des heutigen, ab 1487 errichteten
Rathauses lokalisiert werden kann.35 In jenem und den
folgenden Jahren wurden zudem weitere städtische Bauten im Bereich des Marktes abgerissen, andere vom Rat
angekauft und ebenso abgebrochen, zugleich verschwanden die bisherigen Gassen aus den städtischen Mieteinnahmen. Da nicht alle Rechnungsjahrgänge dieser Jahre
erhalten geblieben sind,36 bestehen aber auch hier Lücken,
so dass möglicherweise nicht alle angekauften und abgerissenen Bauten greifbar sind. Dennoch erlaubt das Zusammenspiel der archäologischen Befunde mit den Stadtrechnungen neben der exakten, jahrgenauen Datierung der
Abrisse auch eine weitgehende Erfassung des betroffenen
Bereiches. Hinzu kommt der zeitliche Ablauf des Bauprozesses, der sich trotz einzelner Überlieferungslücken
für das Rathaus über ein Vierteljahrhundert von 1487 bis
1512 verfolgen lässt und Baufortschritte wie auch -unterbrechungen zu erkennen gibt.37 Daraus ergeben sich Fragen an die sowohl räumliche wie zeitliche Rekonstruktion
archäologischer Baubefunde: Welchen Aufschluss bieten
Fundamente für die einstmalige aufgehende Bausubstanz,
wenn es zu Unterbrechungen, Planveränderungen oder
schlicht zur Aufgabe des Projektes kam – von der Datierung einmal ganz abgesehen. So wurde der unmittelbar
vor dem Rathaus gelegene Ratsbrunnen ebenfalls bei den
Grabungen erfasst (Abb. 4) und konnte in seiner Neugestaltung auch der Anlage des Marktplatzes am Ende des
15. Jahrhunderts zugeordnet werden. Allerdings gilt dies
nur für die Brunnenröhre selbst – nach den Einträgen in
den Stadtrechnungen erhielt diese 1517 zunächst ein hölzernes Schutzdach, ein Provisorium, das erst Jahrzehnte
später gegen Ende des 16. Jahrhunderts von dem reich
gestalteten Brunnenaufsatz abgelöst wurde.38 Nur aus der
schriftlichen Überlieferung fassbar sind ebenso andere
Elemente. So finden sich Pflasterungen, die archäologisch
– da häufig später durch tieferreichende Erneuerungen
der Platzoberfläche zerstört – nur begrenzt nachgewiesen
werden können, in den Osnabrücker Rechnungen auch
mit Nennung der Herkunft der Steine.39 Ähnliches gilt für
Gebäude, die von späteren Neubauten überlagert wurden.
Kaum auf archäologischem Wege erfassbar sind die
beteiligten Personen, es sei denn durch Bauinschriften.
Im Falle des Osnabrücker Rathauses benennen die Stadtrechnungen aber auch die entscheidenden Protagonisten
innerhalb der städtischen Führungsgruppe: Drei Bürgermeister und zwei Ratsherren zahlten 1489 12 ½ Mark
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Abb. 4 Osnabrück, Rathaus und Ratsbrunnen (Gerhard Berger 1607).
Osnabrücker Münze, um dafür ihre Wappen in Kapitelle des Rathauses – dem Baufortschritt nach vermutlich
Konsolsteine für Figuren an der Hauptfassade – schneiden und sich so als Bauherren in der Fassade verewigen
zu lassen.40 Ebenso finden sich weitere Personen in den
Stadtrechnungen, die mit Geldstiftungen zum Rathausbau und seiner Ausschmückung beitrugen und so auch
ihre Nähe zum Rat dokumentierten.41 Hinzu kommt
eine grosse Zahl der am Bau beschäftigen Handwerker
bis hin zu den Tagelöhnern.42 Ihre Grenze erreichen die
Osnabrücker Schriftquellen im Blick auf die Ideen und
Absichten der führenden Ratsgruppe, darüber schweigen
die Rechnungen, Ratsprotokolle fehlen aus dieser Zeit,
allein die noch nicht durchgesehenen Urkunden zu den
einzelnen Grundstückskäufen – soweit erhalten – könnten
hier vielleicht noch weiterhelfen. Letztlich bleibt nur der
Weg, aus den historischen und archäologischen Quellen
das Vorher und das Nachher zu rekonstruieren und aus
dem dazwischen erkennbaren zeitlich eingrenzbaren Pro-
34
35
36
37
38
39
40
41
42
Eberhardt 1996, 343: Item dat olde raithus was dale to brekene ...
Igel 2006, 209f.
Eberhardt 1996, 22.
Ebd., 99–103; Igel 2007, 201–203.
Ebd., 205.
Eberhardt 1996, 213–256; Igel 2007, 205.
Ebd., 204.
Eberhardt 1996, 87.
Ebd., 81–103.
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Die Entdeckung des Platzes
Abb. 5 Osnabrück, Altstadt-Markt mit Treppengiebelhäusern (Christian Ludolph Reinhold um 1780).
zess Rückschlüsse auf mögliche Intentionen zu ziehen
bzw. in den Kontext mit vergleichbaren Vorgängen zu
stellen. In Osnabrück kann so die enge Verknüpfung von
Rathausbau und Platzgestaltung herausgearbeitet werden,
nicht aber, ob auch auf weitere Bauten eingewirkt wurde.
Gerade am Altstädter Markt fällt eine ausgesprochen einheitliche Fassadengestaltung der südlichen Häuserzeile
auf, deren Wurzeln ebenfalls in die zweite Hälfte des 15.
Jahrhunderts zurückreicht (Abb. 5). Rein archäologisch
erfasst ist eine bewusste Verschwenkung der nördlichen
Strassenfront östlich von St. Marien, womit der Blick auf
deren Umgangschor von der Domimmunität aus freigestellt wurde (Abb. 6). Die drei Bürgermeister, die ihre
Wappen in Kapitelle des Rathauses schneiden liessen,
erscheinen zudem im selben Zeitraum in ihrem Amt als
Kirchenräte auch als Bauherrn des monumentalen Kirchturms der Osnabrücker Katharinenkirche, der mit seiner
Fertigstellung 1511 eine Höhe von über 100 m erreichte.43
Die Reaktion des Domkapitels auf diesen Bau verweist
bereits auf Konkurrenzen zwischen Gruppen als zumindest einen Hintergrund dieser Bauprojekte. Die Domherren liessen schon ein Jahr vor der Fertigstellung des
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Turmes von St. Katharinen einen Baumeister aus Bielefeld
kommen, um den Südwestturm des Osnabrücker Doms
zu begutachten. Kurz darauf wurde auf vierfacher Grundfläche ein massiver Neubau des Turms begonnen, der mit
seiner Spitzhaube jene von St. Katharinen übertreffen
sollte. Ein Ziel, das angesichts der aufkommenden Reformation und fehlender Stiftungen aus der Bürgerschaft
um wohl nur wenige Meter misslang.44 Dass die Intentionen der städtischen Führungsschicht zumindest teilweise an das Domkapitel adressiert waren, das sich seit dem
15. Jahrhundert zunehmend von dieser abzuschliessen
suchte, darauf könnten auch die Freistellung des Chores
von St. Marien, der sich nun optisch der Domfreiheit und
damit dem Dom gegenüberstellte, und das mutmassliche
Programm der «Neun guten Helden» an der Rathausfassade, mit dem sich eine beanspruchte Gleichrangigkeit
konnotieren liesse, deuten, auch wenn letzteres vielleicht
nicht einmal vollständig ausgeführt wurde.45
43
44
45
Salzmann 1957, 46f.; Igel 2007, 207.
Guntermann 2003, 93–102.
Igel 2007, 203f.
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Die Entdeckung des Platzes
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Abriss, der in der Folge auch weitere benachbarte Gebäude betraf und archäologisch gut zu erfassen ist, genannt.
Auch hier ging es, wie im Fall der Marienkirche darum,
eine Sichtbarkeit auf Distanz zu schaffen. Gleiches gilt für
das Verhältnis von Rathaus und Marktplatz in Osnabrück,
erst der vorgelagerte Platz ermöglichte die Fernsicht auf
den Neubau, während das vorherige Rathaus nur aus der
Enge der umgebenden Strassen wahrnehmbar war.47 Auf
ähnliche Entwicklungen in weiteren Städten soll hier nur
kurz hingewiesen werden, zeitlich nachfolgend wäre beispielsweise an den Rathausbau in Marburg zu denken,48
deutlich vorhergehend an den Neubau des Bremer Rathauses zu Beginn des 15. Jahrhunderts, das in das räumliche Spannungsfeld zwischen Markt und Domfreiheit
gesetzt wurde, und schon damit die städtische Autonomie
und den Herrschaftsanspruch des Rates dokumentierte.49
IV. Resümee
Abb. 6 Osnabrück, Domfreiheit und Altstadt-Markt (um 1630).
Angedeutet ist damit, dass ein Verständnis für die
Hintergründe solcher räumlichen Um- bzw. Neustrukturierungen im städtischen Raum – soweit überhaupt – nur
im Zusammenhang des gesamten Stadtraums und seiner
gesellschaftlichen wie Verfassungsstruktur zu gewinnen
ist. Verbunden ist damit neben der Berücksichtigung der
verschiedenen archäologischen Befunde und historischen
Quellengattungen auch die Einbeziehung und kritische
Diskussion der erhaltenen Bildquellen. Auch wenn letztere für die spätmittelalterlichen Verhältnisse nur begrenzt
aussagefähig sein dürften.
Hinzu tritt nicht zuletzt die vergleichende Betrachtung von Platzgestaltungen, die sich nach bisherigem Forschungsstand durchaus als Phänomen des 15. Jahrhunderts
betrachten lassen. Zeitlich parallel zu den Abrissarbeiten
in Osnabrück findet sich in Bern 1489 seitens des Rates
eine Verpflichtung an den Chorherrn Johannes Armbruster, sein Eckhaus gegenüber der Einmündung des Münstergässchens abzureissen: Soliches hus zu slissen sy dem Kichhof zu gut, denn so wurde der Blick auf die Münsterfassade
freigestellt.46 Während die Osnabrücker Quellen schweigen, wurde hier, wenn auch knapp, der Anlass für den
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Deutlich geworden ist, dass – jenseits von erhaltener
Bausubstanz oder Bildquellen – nur über den archäologischen Weg ein einigermassen exaktes Bild der räumlichen Ausdehnung und der baulichen Gestalt erreichbar
ist. Allerdings findet auch dieser Weg seine Grenze in der
Überlieferung entsprechender Strukturen im Bodenarchiv
und der Möglichkeit, diese überhaupt zu untersuchen. So
bieten die Schriftquellen, trotz aller Unschärfen in Lokalisierbarkeit und Beschreibung, eine wichtige Ergänzung,
im Spätmittelalter vielleicht sogar das eigentliche Grundgewebe, in das sich die archäologischen Befunde räumlich
wie zeitlich einflechten lassen. Zumal, wenn die tatsächliche Nutzung und deren Wandel über einen längeren
Zeitraum in Betracht gezogen werden soll. Zudem erlauben auch archäologische Befunde ohne erhaltene aufgehende Bausubstanz zunächst einmal nur eine zweidimensionale Rekonstruktion von Baustrukturen, die letztlich nur den Ausgangspunkt für Idealrekonstruktionen
anbieten können. Mit den erwähnten Planänderungen,
Umbauten, Aufgaben von Bauprojekten etc. sei auf die
zeitliche Dimension verwiesen, für die die Archäologie im
Vergleich zur schriftlichen Überlieferung häufig nur sehr
ungenaue Datierungen anbieten kann, vor allem, wenn es
nicht den Baubeginn, sondern die Niederlegung betrifft.
46
47
48
49
Gutscher 1999, 85.
Siehe dazu auch Untermann 2009.
Klein 1997.
Albrecht 1993; Gleba 1998.
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86
Bei der notwendigen und fruchtbaren fächerintegrativen
Zusammenarbeit bleibt es also entscheidend, die aus den
in ihrer Form verschiedenen Quellen folgenden unterschiedlichen Zugänge beider Disziplinen zu beachten,
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Die Entdeckung des Platzes
die besonders im Blick auf die räumlichen wie zeitlichen
Dimensionen, wie sie in den Prozessen eines stadträumlichen Wandels in enger Verknüpfung stehen, zum Tragen
kommen.
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Die Entdeckung des Platzes
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Abbildungsnachweis
1–3 K. Igel
4–6 Kulturgeschichtliches Museum Osnabrück (4 Gerhard Berger 1607, 5 Christian
Ludolph Reinhold um 1780, 6 Wenzel Hollar um 1630)
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Gegründet & geplant
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Michaela Jansen
Gegründet & geplant
Hochmittelalterliche Stadtgründungen – die vielseitigen Facetten eines Begriffpaares
Das antithetische Begriffspaar «gewachsen» – «gegründet» beschäftigt seit Jahrzehnten die Stadtforschung. Fast
synonym mit gegründet wird geplant verwendet, da die
Forschung meist voraussetzt, dass gegründete Städte als
planmäßige Stadtanlagen errichtet wurden. Diese postulierte Abhängigkeit wird nur selten in Frage gestellt.1
I. Definition
Der Begriff der «gegründeten» Stadt beinhaltet nach allgemeiner Auffassung einen bewussten politischen und
städtebaulichen Gründungsakt. Merkmale der Gründungsstadt sind:
– Verleihung von Privilegien (bspw. Stadtrecht), welche die sozialen und wirtschaftlichen Abhängigkeiten
regeln und die Gründungsstadt mit einem Sonderstatus auszeichnen. Sie sind Bestandteil des Gründungsakts, auch wenn sie nicht überliefert sind oder erst zu
einem späteren Zeitpunkt vorliegen.
– Eine regelmäßige Grundrissstruktur, die den Planungsakt widerspiegelt.
– Ein Stadtgründer, der die Gründung initiiert.
Die Stadterhebung, also die Rechtsverleihung an eine
schon funktional städtische Siedlung, wird hingegen
nicht als Gründung bezeichnet.2
II. Archäologisch-bauhistorische und
historische Disziplin
Bedingt durch ihre Quellen beschäftigen sich die beiden Disziplinen mit unterschiedlichen Aspekten der
Gründungs- und Planstadt. Die Geschichtswissenschaft
kann primär über ihre Quellen die rechtlichen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und religiösen Funktionen
erschließen und im Idealfall über einen Bericht den
Gründungsakt nachvollziehen. Meist kann sie aber keine
Aussagen über die Lage bzw. die konkrete Bauform einer
Planstadt machen, bis auf die Erwähnung einer Stadtmauer oder generell von Häusern. Über die Jahrzehnte
haben Historiker Kriterien für die Definition von Stadt
erarbeitet, modifiziert und neu formuliert, um den Prozess der Stadtwerdung zu beschreiben.3
Die archäologischen und bauhistorischen Quellen
geben zunächst punktuell Auskunft über die bauliche
Gestalt und architektonische Form eines durch die Unter-
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suchungsfläche festgelegten Raumes innerhalb der Stadt,
den Anfang der Besiedlung, ihre bauliche Entwicklung
und ermöglichen meist weiterführende Aussagen zum
wirtschaftlichen und sozialen Leben. Merkmalskataloge
«städtisch» anzusprechender archäologischer Befunde
und Funde wurden zwar erstellt,4 eine konkrete, systematische, übergreifende Überprüfung der Kriterien liegt
bislang aber nur in wenigen Fällen vor.5
Beiden Disziplinen gemein ist, dass ihre Quellen
sehr lückenhaft sind und deren Interpretation sich im stetigen wissenschaftlichen Fluss befinden. Während in der
Geschichtswissenschaft kaum noch mit neuen Quellen
zu rechnen ist, steht die Archäologie vor der entgegengesetzten Situation: Mit jeder Stadtgrabung werden neue
Quellen erschlossen, die – ausgewertet – die Thesen der
Archäologen wie Historiker modifizieren oder gar revidieren können.
Archäologische Ausgrabungen in den Stadtkernen
mittelalterlicher Gründungsstädte haben in den letzten
Jahren die generelle Koppelung des historischen Gründungsakts oder ihres «städtischen Zustandes» an die
Planstadt in Frage gestellt, da beispielsweise die Plananlage jünger als die aus den schriftlichen Quellen zu erschließende Stadtgründung oder ihr «städtischer Zustand» sein
kann. Andererseits ist das Bild von Stadt bei Archäologen
oftmals noch von der Idealstadt Karl Grubers6 geprägt,
so dass meist keine Differenzierung zwischen Gründung
und Plananlage stattfindet bzw. dieser Widerspruch nicht
aufgelöst wird.7
1
2
3
4
5
6
7
Stercken 2006, 16, 24, 31; Untermann 2004, 14; Schadek 1990, 419.
Mihm 2002, 131; LexMA 8 (1997) 21 s. v. Stadtgründung (F. B. Fahlbusch);
Reinisch 1990, 126–127; Patze 1977, 168, 196; Strahm 1950; Hofer 1963, 85.
Heit 1978; ders. 2004.
Steuer 2004, bes. 33–35, 41–51; Hartmann u. a. 1991; dazu Steuer 1995 bes.
89; ders. 1986, bes. 228.
Baeriswyl 2003; Piekalski 2001.
Gruber 1952.
Ausnahme: Baeriswyl 2003; Untermann 2004, 14.
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90
Abb. 1 Heidelberg: 1 Peterskirche, 2 Planstadt (heutige Kernaltstadt),
3 Heiliggeistkirche, 4 Burg auf der Molkenkur, 5 Burg auf dem Jettenbühl (heutiges Schloss).
III. Zwei Fallbeispiele
1. Heidelberg
Heidelberg (Abb. 1), linksseitig im Tal des unteren Neckar gelegen, wird wegen seines symmetrischen Aufbaus
als eine typische Planstadt angesehen.8 Die Planstadt,
die heutige Kernaltstadt, erstreckt sich auf engem Raum
zwischen Neckar und dem steilen Berghang des Königsstuhls. Zentrale Achse der Planstadt ist die linksufrige
Fernstrasse. Diese gabelt sich beim Eintritt in die ummauerte Planstadt in zwei Längsstrassen (Hauptstrasse und
Untere Gasse), um kurz vor dem Austritt aus der Stadt,
wieder zusammengeführt zu werden. Von diesen Längsstrassen sowie einer weiteren, sich nicht über die volle
Länge der Altstadt erstreckende Strasse (Ingrimstrasse),
zweigen im nahezu rechten Winkel die Querstrassen ab.
Zentral im Mittelpunkt der Planstadt wurde der Marktplatz angelegt, über den beide Längsstrassen führen und
auf dem die Kirche der Planstadt, die Heiliggeistkirche
(Abb. 1,3), errichtet wurde. Sie hatte anfangs den Status
einer Kapelle und erhielt erst 1400 Pfarrrechte. Diese
hatte zuvor allein die westlich ausserhalb der Planstadt
gelegene Peterskirche (Abb. 1,1) inne, in deren Umkreis
eine zugehörige Siedlung vermutet und als ältere Vorgängersiedlung zur Planstadt angesprochen wurde.9 Diese
sogenannte Peterskirchen-Siedlung ist inzwischen archäologisch an verschiedenen Fundstellen nachgewiesen
worden (Abb. 2).10 Kirche und Siedlung liegen erhöht
auf dem Schwemmfächer des Klingenbaches, während
sich die Planstadt auf den hochwassergefährdeten Nie-
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Gegründet & geplant
derterrassen des Neckars erstreckt.11 Oberhalb von Peterskirchen-Siedlung und Planstadt dominierten zwei Burgen
das Neckartal: die untere Burg (das heutige Schloss) auf
dem Jettenbühl (Abb. 1,5) sowie die obere Burg auf der
sogenannten Molkenkur (Abb.1,4). Die gleichzeitige Existenz der Burgen ist erst seit 1303 aus den Schriftquellen
ersichtlich. In den älteren Quellen wurde immer nur eine,
nicht näher spezifizierte Burg erwähnt,12 weshalb über ihre
zeitliche Rangfolge nur spekuliert werden konnte. Archäologische und bauhistorische Untersuchungen der letzten
Jahre haben eine zeitliche Einordnung der beiden Burgen
erlaubt: Eine Befestigung existierte auf der Molkenkur
bereits im 12. Jahrhundert, während eine Burganlage auf
dem Jettenbühl erst in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts errichtet wurde.13
Bis Ende des 20. Jahrhunderts stand vollkommen
ausser Frage, dass die in den Schriftquellen erwähnte Stadt
die Planstadt sei. Die Siedlung bei der Peterskirche wurde
und wird als Burgweiler angesprochen und damit ein städtischer Charakter abgesprochen.14
Der Name Heidelberg erscheint erstmals in den 80er
Jahren des 12. Jahrhunderts in Verbindung mit einer Burg,
des castrum Heidelberg. Sie ist überliefert in der Lebensbeschreibung des Eberhard de Commeda (auch de Stalecke
genannt),15 der sich als Knabe oft dort aufhielt. Eine Siedlung wird erstmals 1225 erwähnt, als der Wormser Bischof
den Wittelsbacher Ludwig I. mit castrum in Heidelberg cum
burgo ipsius castri belehnt.16 Seit seinen frühesten Erwähnungen ist Heidelberg als differenziertes Gemeinwesen
zu erkennen. Ein 1196 als Zeuge genannter plebanus in
Heidelberch17 lässt auf eine grössere kirchliche Gemeinde
schliessen.18 In der Lebensbeschreibung des oben genannten Eberhard de Commeda wird von einer Armenfürsorge
berichtet, was sich vermutlich auf Heidelberg bezieht. 19
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10
11
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13
14
15
16
17
18
Beispielsweise: Seidenspinner/Benner 2006, 61–63; Nitz 1999; Scheuerbrandt
1996, 49; Derwein 1940, 31.
Schaab 1958, 258–259; ders. 1997, 17; ders. 1998, 193.
Carroll-Spillecke 1993; Benner/Wendt 1996; Wendt/Benner 1997; Wendt
1997; Wendt/Benner 2001; Benner/Damminger 2005; dies. 2006.
Schweizer 1996, 16.
Schaab 1958, 258; Steinmetz 2008, 161–162.
Wendt/Benner 1997, 27–46; Wendt/Benner 2002, 165–177. Anderer Meinung: Steinmetz 2008.
Bspw. Carroll-Spillecke 1993, 45; Goetze 1996, 111; Damminger 2008, 82–85.
Schneider 1962, caput IV, S. 54. Seine Vita wurde nach seinem Tode um 1220
vermutlich von einem Eberbacher Mönch verfasst. Das Original ist zerstört
und ihr Inhalt über eine Abschrift von 1631 erhalten (ebenda S. 39–42).
GLA 43/3056.
Gudenus 1728, 50.
Schaab 1998, 192.
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Abb. 2 Heidelberg. Archäologisch nachgewiesene Bebauung seit der
Zeit vor und um 1200 (schwarz).
Abb. 3 Heidelberg. Archäologisch nachgewiesene Bebauung seit dem
13. Jahrhunderts (schwarz), ältere, Bebauung (grau).
Seit 1200 sind verschiedene Funktionen und Ämter für
Heidelberg nachzuweisen: 1203 wird erstmals ein Schultheiss (scultetus de Heidelberg)20 genannt. 1214 ist der Sitz des
pfalzgräflichen advocatus indirekt in Heidelberg nachzuweisen.21 Bürgerliches Selbstbewusstsein drückt sich im
Gemeindesiegel aus, das erstmals – heute nicht mehr erhalten – für die Jahre nach 1217 überliefert ist. Im selben Jahr
werden erstmals in einer Urkunde Heidelberger Bürger (burgenses) 22 genannt, ebenso 1220 (Heidelberg burgenses) 23 und
1223 (cives de Heidilberc) 24. In letzterer Urkunde erscheint ein
archipresbiter de Heidilberc.25 Auf dem ältesten erhaltenen Siegel, auf einer Urkunde von 1229, bezeichnen sich die Bürger als (nostre) communitas (sigillo), auf einem anderen Siegel
als (sigillo) civitatis nostre. Die Urkunde, an der letzteres Siegel hängt, datiert zwischen 1228 und 1233,26 in ihr wird
indirekt erstmals eine Befestigung (munitiones) genannt,
die 1235 namentlich (prope lictus Neckari infra murum civitatis) bezeugt ist.27 Ein Stadtrecht ist nicht überliefert.28
All diese Zeugnisse liessen für Historiker Heidelberg als ein städtisches Gemeinwesen erkennen, dessen
Gründung den Staufern (Konrad von Staufen [1156–
1195], Philipp von Schwaben [1198–1208]), den Welfen
(Heinrich der Ältere [1195–1211], Heinrich der Jüngere
[1211–1214]) oder den Wittelsbachern (Ludwig I. [1214–
1228], Otto II. [1228–1253]) zugesprochen wurde.29 Seit
den 1950er Jahren wurde durch die Untersuchungen
des Historikers Meinrad Schaab Konrad von Staufen als
Heidelberger Gründer etabliert. Zwar gibt es für diese
Zuordnung keinen direkten Beleg, die städtische Struktur
Heidelbergs im späten 12. Jahrhundert spräche aber nach
Schaab für die Gründung nicht lange vor dieser Zeit und
fiele somit in die Regierungszeit Konrads von Staufen,
dem Halbbruder Friedrichs I. Barbarossa, an den 1156
die Rheinische Pfalzgrafschaft gelangte. Ferner sei nicht
mit einer Initiative des Staufers Philipp von Schwaben
oder des Welfen Otto IV. während des Thronstreits zu
rechnen, der ihnen kaum Möglichkeiten für das umfangreiche Projekt einer Stadtgründung geboten hätte. Eine
Gründung durch die Wittelsbacher, die seit 1214 das Amt
des Rheinischen Pfalzgrafen bekleideten, sei zu spät, da
zu diesem Zeitpunkt die städtischen Strukturen zu weit
entwickelt gewesen wären.30
Dieser noch jüngst vertretenen Meinung31 wurde
in den letzten Jahren vor allem von archäologischer Seite
verstärkt widersprochen, woraus sich eine teilweise heftige
Kontroverse zwischen beiden Disziplinen entwickelte. Eine
Zusammenstellung und Durchsicht der archäologischen
Dokumentation innerhalb der Stadt Heidelberg zeigte, dass
die Besiedlung in der Planstadt nicht vor dem 13. Jahrhun-
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19
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31
Schneider 1962, caput V, S. 54. Da der Ort der Armenfürsorge nicht genannt
ist, ist nicht auszuschliessen, dass es sich dabei auch um Bacharach gehandelt
haben kann (ebenda S. 49). Kritisch dazu: Wendt/Benner 2001, 106–107.
Würdtwein 1792, cap. IV, 37.
Schaab 1958, 255.
Gudenus 1728, 100.
Gudenus 1728, 114.
Gudenus 1728, 128.
Gudenus 1728, 128.
Dahlhaus 1999, 120.
Gudenus 1728, 141–142, 183.
Siehe allerdings: Goetze 2002.
U. a. Wolf 1956, 148–151; Ricker 1954a; bes. Ricker 1954b; Derwein 1940, 29–30;
Derwein 1939, 88–89; Schöll 1939, 108; Pfaff 1902, 63; Häusser 1845, 52, 54, 59.
Schaab 1958, 273–276; ders. 1997, 9–22 bes. 20–21; Scheuerbrandt 1996,
49–50; Steinmetz 2008, 163–166.
Steinmetz 2008; Finke 2005, 23.
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Gegründet & geplant
auf das Phänomen einer ‹städtebaulichen› Zäsur bzw. einer
topographischen Siedlungsverlegung zu beziehen» sei.37 Die
Ansprache als präurbane Siedlung ist dabei in jüngster Zeit
von Historikern angenommen worden.38 Mit der Ansprache als präurban wird aber weiterhin Urbanität nur mit der
Planstadt verbunden.
Abb. 4 Chemnitz: 1 Benediktinerkloster, 2 Nikolaikirche, 3 Johanniskirche, 4 Planstadt, 5 Jakobikirche.
dert einsetzte (Abb. 3).32 Die Archäologen Achim Wendt
und Manfred Benner vertraten deshalb Ende der 1990er
Jahre die Meinung, dass die Planstadt auf die Regierungszeit Ludwig I. von Wittelsbach (1214–1228) zurückgehen
müsste.33 1999 ordnete der Historiker Joachim Dahlhaus
das heraldische Motiv des Adlers auf den überlieferten
Heidelberger Stadtsiegeln des 13. Jahrhunderts nicht wie
bisher dem Amt des Pfalzgrafen zu, sondern bezog es auf
den König bzw. das Reich und sah darin ein Indiz für eine
Stadtgründerschaft Philipps von Schwaben (1198–1208).34
In Reaktion darauf modifizierten die Archäologen ihre These und schlossen die beginnende Umsetzung der Plananlage in der Zeit Philipps von Schwaben oder der Welfen zwischen 1195 und 1214 nicht mehr aus. Mit den vorläufigen
Ergebnissen der jüngsten Grabung werden hingegen wieder
die Wittelsbacher als Gründer der Planstadt favorisiert.35
Meinrad Schaab vertrat auf Grundlage der schriftlichen Quellen weiterhin die Meinung, dass Heidelberg
schon vor dem frühen 13. Jahrhundert einen städtischen
Zustand erreicht hatte. Da er die archäologischen Quellen
als zu lückenhaft ansah, blieb er bei der frühen Datierung
der Planstadt und koppelte damit seine Gründungsstadt
weiterhin an die Planstadt.36 Die Archäologen sprechen
von einer präurbanen Siedlung oder einem suburbium, das
«wichtige Schritte in der Entwicklung zu einer städtischen
Verfassung bereits unternommen hatte», während die Anlage einer Planstadt keinen rechtlichen oder verfassungsmässigen Neuanfang bedeutete, sondern «zunächst einmal nur
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2. Chemnitz
Chemnitz (Abb. 4) am Rande des Erzgebirgbeckens in
der Talaue des Flusses Chemnitz gelegen, gilt mit seinem
ovalen Stadtgrundriss als planmässige Stadtanlage.39 Im
Zentrum der Planstadt liegen der Markt und die städtische Pfarrkirche St. Jakobi (Abb. 4,5). Die südlich davon
verlaufende Johannisgasse teilt die Planstadt in ein nördliches und ein südliches Areal. Ersteres wird von einem
rechtwinkligen Strassenraster bestimmt, in das sich weder
Markt und Pfarrkirche noch die westlichen und östlichen
Randbereiche willig einfügen. Das südliche Stadtareal
weicht in seiner Ausrichtung um 15° bis 20° vom nördlichen ab und wird von der einzigen von West nach Ost
durchlaufenden Strasse dominiert, der Langen Gasse, von
der rechtwinklig Strassen abzweigen.
Im Jahre 1143 wird der Name Chemnitz (locus
Kameniz) erstmals in einer Urkunde im Zusammenhang
mit dem dortigen Benediktinerkloster genannt.40 Das
Kloster,41 etwa 1,5 km nördlich der späteren Planstadt
auf einem Geländevorsprung am westlichen Talrand der
Chemnitzaue gelegen (Abb. 4,1), war von Lothar III.
wohl 113642 gegründet worden.43 1143 bestätigte Konrad
III. die Stiftung seines Vorgängers und nahm das Kloster in seinen Schutz. Ferner erlaubte und bestimmte er,
dass ein Markt mit allen Freiheiten eingerichtet werden
solle, dessen Abgaben das Kloster erhalten solle.44 Den
Bewohnern (incole) der Marktsiedlung gewährte Konrad
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43
44
Wendt/Benner 1997, 17–26, 47–60. Keramikmaterial der «Übergangszeit» liegt
zwar vor, es sei aber als verlagerte Funde «aus Schwemmschichten oder Gräbern
des Spitalsfriedhofs aufzufassen. Sämtliche konkreter greifbaren Siedlungsbefunde enthalten Material des jüngeren Keramikhorizonts» (ebenda S. 21–23).
Carroll-Spillecke 1993, bes. 45. – Kritisch zu den archäologischen Befunden:
Schaab 1998, 195–212.
Zur genauen Argumentation siehe Dahlhaus 1999, bes. 119–124.
Benner/Damminger 2005, bes. 235.
Schaab 1998, 212.
Wendt/Benner 2001, 115.
Weinfurter 2005, 104, 106.
Schlesinger 1952, 59.
Cod. dipl. Sax. II/6, Nr. 302, S. 263.
Zur Archäologie: Geupel 1990; ders. 2002.
Schlesinger 1952, 13 Anm. 1, 85–87.
In jüngeren Urkunden als Stifter genannt: Cod. dipl. Sax. II/6, Nr. 302, S.
263, (Anhang Necrologium des Benedictinerklosters zu Chemnitz) S. 481.
Cod. dipl. Sax. II/6, Nr. 302, S. 263.
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Gegründet & geplant
III. Zollfreiheit im gesamten Reich. Sie standen nach
dem Historiker Walter Schlesinger aber noch unter der
Immunität des Klosters, weshalb die Marktsiedlung nicht
als Stadtgründung angesprochen werden könne.45
Eine Stadt ist erstmals im ältesten erhaltenen Zinsregister des Klosters zu fassen. Es wird auf den Beginn
des 13. Jahrhunderts datiert und listet fünfzehn Personen
de civitate auf. 46 Diese civitas wird allgemein mit der
Planstadt gleichgesetzt, während die Marktsiedlung bislang nicht lokalisiert werden konnte. Zu ihrem Standort
gibt es zahlreiche Spekulationen.47 Die ältere Forschung
vor Schlesinger verband den stellenweise unregelmässigen Grundriss der Planstadt mit älteren, vorplanstadtzeitlichen Siedlungsstrukturen und identifizierte sie mit
der Marktsiedlung.48 Walter Schlesinger sah 1952 keinen
Anhaltspunkt aus dem Marktprivileg überhaupt eine
Marktsiedlung abzuleiten. Er deutete die Plananlage als
– nicht überlieferten – städtischen Gründungsakt, den er
aufgrund seiner Unregelmässigkeit als früh ansprach. Im
Vergleich mit anderen pleißenländischen Städten schrieb
er die Gründung Friedrich Barbarossa zu und datierte sie
auf 1165.49 Der Historiker Karl Heinz Blaschke lokalisierte hingegen 1967 die Markt- bzw. Kaufleutesiedlung
ausserhalb der Planstadt, in der Nähe der Chemnitzerfurt
um die Nikolaikirche (Abb. 4,2),50 da seine Forschungen
den unmittelbaren Zusammenhang zwischen NikolausPatrozinien, dem Schutzheiligen der Kaufleute, und den
frühen Kaufleutesiedlungen aufgezeigt hatten.51 Schlesingers Datierung der Gründungsstadt wurde in den 1960er
Jahren von dem Archäologen Heinz-Joachim Vogt in Frage gestellt, da er im Bereich der Planstadt vor dem 13.
Jahrhundert keine wesentlichen archäologischen Befunde
wie Funde antraf.52 Ebenso wurde 2002 der Umkreis der
Nikolaikirche als Standort der Marktsiedlung von archäologischer Seite ausgeschlossen, da keine in diese frühe
Zeit gehörenden archäologischen Befunde oder Funde
die These bestätigen konnten.53
In Reaktion darauf hielt der Historiker Manfred
Kobuch 1983 zwar an der von Schlesinger durch Analogieschlüsse postulierten Gründung der Rechtsstadt durch
Friedrich Barbarossa fest, meinte aber, es müsste sich
folglich bei der Planstadt in der Talaue um eine Stadterweiterung, vermutlich Philipps von Schwaben (1198–
1208), handeln, während die Gründungsstadt an anderer
Stelle liegen müsse.54 Gegen eine Gleichsetzung der von
Schlesinger postulierten Gründungsstadt Barbarossas mit
der Planstadt spräche neben der archäologischen Datierung die Größe der Planstadt von 30 ha, die im Vergleich
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93
mit anderen Gründungsstädten des 12. Jahrhunderts
ungewöhnlich gross sei, des weiteren ihr Grundriss, der
erst charakteristisch für die Zeit um (bzw. nach) 1200 sei.
Ferner erkläre sich die kleine Flur der Planstadt mit ihrer
Errichtung erst nach der bäuerlichen Aufsiedlung der
Region während der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts,
als keine grösseren Landflächen für das Umland der Stadt
mehr vorhanden waren.55 Den Zeitpunkt des Gründungsaktes korrigierte Kobuch in die Spätphase der Regierungszeit Friedrich Barbarossas, in die Jahre nach 1170.56 Im
Gegensatz zu Schlesinger ging Kobuch von der Existenz
der Marktsiedlung aus und lokalisierte sie im hochwasserfreien Areal um die Johanniskirche (Abb. 4,3).57 Verschiedene Indizien sprachen nach Kobuch dabei für eine
ältere Zeitstellung von Kirche und Platz. Zum einen sei es
die hohe Bedeutung, die der Johanniskirche im 13. Jahrhundert zukam. So wird sie 1264 explizit als Kirche der
Stadt ausserhalb der Mauern bezeichnet und noch vor
der Marktkirche (innerstädtische Jakobikirche) genannt.58
Die Patronatsrechte nahm bis 1264 Margarete wahr,
Tochter Friedrich II. und Ehefrau des wettinischen Landgrafen Albert. Da das Kaiserhaus im pleißenländischen
Reichsterritorium in Dörfern und für Kaufleute keine
Kirchen stiftete und die Kirche der älteren Marktsiedlung
auf Klostergrund gestanden haben müsse, konnte nach
Kobuch St. Johannis nur als Stadtkirche errichtet worden sein.59 Die Zugehörigkeit von drei Rodungsdörfern
der Zeit nach 1160 zur Pfarrei St. Johannis deute nach
Kobuch ebenfalls auf ein hohes Alter der Kirche. Ferner
spräche die topographische Bezeichnung «Sitzeplan» in
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48
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56
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59
Schlesinger 1952, 24–25.
Schlesinger 1952, 10 Anm. 2, 25–26.
Ausführlich dazu bis 1983: Kobuch 1983, 139–144. Schlesinger 1952, 59–79;
Fassbinder 2006, 14–15.
Bernstein 1927/28, bes. 50 (Langgasse, Herrengasse und Johannisvorstadt),
Laudeley 1933/34, 6–18 (vor 1143 Händlertreffpunkt auf dem Kapellenberg
bei der Nikolaikirche, identifiziert die Planstadt mit der Marktsiedlung von
1143).
Schlesinger 1952, 79–97.
Blaschke 1967, 282, 314, 324–326; ders. 2002, 32; Kobuch 1983, 143–144.
Blaschke 1967, 273–337.
Vogt 1969, 251–253; ders. 1990, 14–15.
Kobuch 2002, 26; Geupel 2002, 119, 127 Anm. 76.
Kobuch 1983, 151–157.
Kobuch 1983, 145–146; ders. 2002, 28–31. Als weitere Begründung seiner
These führt er 2002 an, dass die Trockenlegung der sumpfigen Talaue erst
mit der Einführung der wasserbautechnischen Kenntnisse im Pleissenland
im 13. Jahrhundert durchgeführt worden sein konnte.
Kobuch 1983, 147–148.
Tritt in der archivalischen Überlieferung seit dem 15. Jahrhundert als Vorstadt auf (Kobuch 1983, 148).
Cod. dipl. Sax, II/6, Nr. 2, S. 2 (… ius patronus, quod in sancti Johannis extra
muros ac forensi in civitate Kemniz ecclesiis habuimus, …). Schlesinger 1952, 66.
Kobuch 1983, 148–150; ders. 2002, 28–29.
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94
Gegründet & geplant
Abb. 5 Chemnitz. Archäologisch nachgewiesene Bebauung um die
Mitte des 12. Jahrhunderts (schwarz).
Abb. 6 Chemnitz. Archäologisch nachgewiesene Bebauung seit dem zweiten Drittel (?) des 12. Jh. bis um 1200 (schwarz), ältere, Bebauung (grau).
unmittelbarer Nähe der Johanniskirche für einen älteren
Marktplatz, da Plätze mit der Bezeichnung Plan «vielerorts als Stätten frühen Marktverkehrs und als Zentren
frühstädtischer Siedlungen» nachzuweisen seien.60
Kobuch sah also in der Chemnitzer Geschichte
eine mehrstufige Stadtentwicklung, in der er den Zusammenhang zwischen Gründungs- und Planstadt auflöste:
Auf die Gründung der Marktsiedlung von 1143, die er
im Umfeld der Nikolaikirche lokalisierte, folgte die Gründung einer unbefestigten Rechtsstadt nach 1170 um die
Johanniskirche, die im frühen 13. Jahrhundert in die
Talaue verlegt und als Planstadt errichtet wurde.61 2002
modifizierte er die These. Den Rechtsstatus der von Schlesinger angenommenen Stadtgründung Barbarossas bei
der Johanniskirche, an der er schon 1983 Zweifel geäussert hatte,62 revidierte er. Er stellte diese Gründung durch
Barbarossa zwar nicht in Frage, sprach sie aber als frühstädtische Phase an, während erst mit der Neugründung
der Planstadt in der Talaue der Status einer Vollstadt mit
vollem Stadtrecht erreicht worden sei.63 Ein Stadtrecht
bzw. ein volles Stadtrecht wurden sowohl von Schlesinger
als auch Kobuch vorausgesetzt, obwohl es nicht überliefert worden ist.64 Kobuch verband damit die Planstadt wieder mit der Gründungsstadt, in dem er erst die Rechtsstadt
als «vollwertige» Stadt anerkannte.
Im selben Kolloquiumsband (2002), in dem der
Historiker Kobuch sein mehrstufiges Stadtentwicklungsmodell modifizierte, betrachteten die Archäologen Klaus
Wirth und Volkmar Geupel die Siedlungsentwicklung von
Chemnitz aus archäologischer Sicht.65 Nach den jüngsten
archäologischen und bauhistorischen Befunden begann
die systematische Besiedlung der Planstadt im letzten
Viertel des 12. Jahrhunderts. Ältere bauliche Strukturen –
zwei Schwellriegelbauten und ein Backofen – liessen sich
bislang nur im nordöstlichen Bereich der Planstadt nachweisen (Abb. 5). Eines der Häuser ist nach einem Dendrodatum zwischen 1130 und 1150 errichtet worden. Die
Bauten standen erhöht auf einer Bank aus Flussschotter
über der sumpfigen Talaue und werden von der Auswerterin Frauke Fassbinder als Gehöft ohne baulichen Bezug
zur späteren Planstadt angesprochen. Die Bauten wurden
vor, vielleicht erst bei der Errichtung der Stadtmauer abgerissen.66
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Kobuch 1983, 150–151.
Kobuch 1983, 157–158.
Kobuch 1983, 147 Anm. 13.
Kobuch 2002, 32.
So auch Kobuch 2002, 32.
Kobuch 2002; Wirth 2002. Kobuch geht in seinem Aufsatz aber nicht auf die
archäologischen Ergebnisse von Wirth ein, sondern zitiert stattdessen den
Archäologen Volkmar Geupel, der aber im selbigen Band (Geupel 2002, 118)
eine ältere Datierung der Stadtanlage in die Regierung der Spätphase Friedrich Barbarossas oder Heinrich VI. wie Wirth vertritt. Zur archäologischen
Siedlungsentwicklung ebenfalls Fassbinder 2006, aber ohne Einarbeitung
des Tagungsbandes von 2002 (siehe Kobuch 2002; Geupel 2002; Wirth
2002). Fassbinder hängt ihre Interpretation und Datierung stark an die historischen Auslegungen (vor allem Schlesinger und Kobuch) und archivalischen
Quellen (bspw. Erstnennung der Stadtmauer).
Fassbinder 2006, 67, 82, 87, 179.
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Seit dem letzten Viertel des 12. Jahrhunderts wurde die Planstadt realisiert (Abb. 6). Einzelne Schritte des
Stadtausbaus lassen sich mit Hilfe der verschiedenen
Datierungsmethoden rekonstruieren: Das älteste nachgewiesene Bauwerk der Planstadt ist die Pfarrkirche St. Jakobi. Ihr ergrabener erster Bau wird stilistisch in das letzte
Drittel des 12. Jahrhunderts datiert.67 Daneben stellen
bislang Strukturen der Zeit um 1200 die ältesten Befunde
dar. Es handelt sich um Lehmentnahmegruben, Abfallgruben, Kulturschichtreste und Gruben mit mehrschichtigen
Holzfundamenten. Die ergrabene älteste Holzfundamentierung am Holzmarkt (Verlängerung der Johannisgasse,
heute Rosenhof 2/Markt 19) datiert dendrochronologisch
ins späte 12. Jahrhundert (1192d). Zahlreiche Hölzer mit
Fälldatum aus den 1180er Jahren, die für die Errichtung
von Häusern und Strassen verwendet wurden, legen aus
archäologischer Sicht ebenfalls eine einsetzende Besiedlung in dieser Zeit nahe, da eine ausschliesslich sekundäre
Nutzung wenig wahrscheinlich ist.68 Ferner wird der heute
noch stehende untere Teil des Roten Turms stilistisch in
diesen Zeitraum gesetzt. Allerdings schwanken die Angaben zwischen dem späten 12. Jahrhundert, der Zeit um
1200 und dem ersten Drittel des 13. Jahrhunderts.69 Die
Stadtmauer ist gegen den Roten Turm gesetzt worden,
muss folglich jünger sein. Urkundlich wird sie erstmals
1264 erwähnt.70
Seit dem Beginn des 13. Jahrhunderts nehmen die
dendrodatierten archäologischen Befunde, wie Holzhäuser und Strassenunterbauten zu (Abb. 7). Die Strassen
wurden – sicher aufgrund des sumpfigen Untergrunds –
aufwändig fundamentiert. Gräben entlang der Strassenseiten sorgten für die Entsorgung des Schicht- und Oberflächenwassers.71 Im ersten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts
wurde die Lange Gasse in dieser Weise erbaut. Gleichzeitig
sind im nördlich angrenzenden Bereich drei Holzhäuser
archäologisch nachgewiesen. Ein oder zwei Jahrzehnte
später wurde die im rechten Winkel von der Lange Gasse
abzweigende Kronengasse angelegt. Im gleichen Zeitraum
setzte nach den derzeitigen Befunden im Bereich nördlich
der Pfarrkirche St. Jakobi die Anlage und Bebauung der
Strassen ein.72
In dem oben genannten Kolloquiumsband kamen
also Historiker und Archäologen in der Interpretation der
Befunde zu gegensätzlichen Ergebnissen bzw. widersprachen sich.
Die Lokalisierung der Marktsiedlung bei der Nikolaikirche schlossen die Archäologen aus, da bisher in
ihrem Umkreis weder Befunde noch Funde einer frühen
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Abb. 7 Chemnitz. Archäologisch nachgewiesene Bebauung seit dem
13. Jahrhundert (schwarz), ältere, Bebauung (grau).
Zeitstellung angetroffen wurden,73 während die Historiker auf diesen Standort beharrten.74
Die archäologischen Befunde des 12. Jahrhunderts
in der Planstadt wurden unterschiedlich beurteilt: Für den
Historiker Manfred Kobuch waren die archäologischen
Erkenntnisse nicht «wesentlich»,75 der Archäologe Klaus
Wirth war hingegen der Meinung, dass die Strassen der
Planstadt «auf älteren Siedlungsspuren, d. h. auf besiedeltem Gelände errichtet wurden».76
Auf Grundlage der unterschiedlichen Bewertung
der archäologischen Quellen ist für den Historiker die
Gründungsstadt Friedrich Barbarossas nicht identisch
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76
Gegen die Datierung ohne überzeugende Argumentation Kobuch 1983,
154–156; ders. 2002, 31–32. Er wollte den Sakralbau zur Aufrechterhaltung
seiner These um 1200 datieren. Diese späte Datierung ist stilkritisch aber
mehr als fragwürdig: Magirius 1989, 63; Geupel 2002, 121; Denkmale 1978,
398–400.
Wirth 2002, 106.
Er wird als Hof eines Ministerialen interpretiert. Geupel 2002, 119; Herling
1998, 175–182; Wirth 2002, 104.
Cod. dipl. Sax. II/6, Nr. 2, S. 2.
Wirth 2002, 88: «Die Straßen bestanden aus einer Fundamentlage aus Rundhölzern und teilweise sekundär verwendeten Bauholz mit aufliegenden
Ästen, Reisigbündeln und Holzabfällen, die von Rollierungen aus unterschiedlich großen Feld- und Kieselsteinen bedeckt waren. Oberflächen- und
Schichtwasser floß in Sickergräben, die die Straßenkörper beidseits flankierten und deren Wände man mit Flechtwerk ausgekleidet hatte.»
Wirth 2002; Fassbinder 2006.
Blaschke 2002, 22; Kobuch 2002, 26.
Geupel 2002, 119.
Kobuch 2002, 31.
Wirth 2002, 105.
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mit der Planstadt.77 Die Archäologen meinten zwar, dass
die dendrochronologischen Daten der archäologischen
Befunde dieser These entsprächen, aber aus der grossen
Anzahl von Hölzern mit Fälldatum aus den 1180er Jahren sowie der Datierung der Jakobikirche sei doch Friedrich Barbarossa oder Heinrich VI. als Initiator der Stadtgründung in der Talaue anzusehen.78 Letztendlich war für
Kobuch Chemnitz «eine Planstadt in der späten Form des
Meridiantyps mit ausgeprägter Querachse im Zuge des
Marktes, deutlichen rechten Winkeln und strenger Parallelität der Strassen».79 Dieser Auffassung widersprach Wirth:
«Die Summe der Einzelbeobachtungen widerspricht einer
kompletten, alle Bereiche einer Stadt umfassenden Plananlage des ausgehenden 12./frühen 13. Jahrhunderts und
der Zuweisung zu einem vordefinierten Meridiantyp».80
Von archäologischer Seite wurde deshalb ein sukzessiver
Ausbau der Planstadt über ein, zwei Jahrhunderte vorgezogen.81
IV. Eine unüberbrückbare Differenz?
Wie kommt es zu diesen sich widersprechenden Aussagen?
Liegt es daran, dass beide Disziplinen etwas zusammen
bringen wollen, was nicht oder nicht immer zusammen
gehört?
Archäologie und Geschichte meinen mit ihren
unterschiedlichen Quellen und Methoden dasselbe zu
beschreiben, die gegründete Planstadt bzw. die geplante
Gründungsstadt, deren hypothetische Zusammengehörigkeit sie – als einen sich mehr oder weniger bedingenden
Vorgang betrachtend – nicht in Frage stellen.
Von historischer Seite wird nicht selten die Aussagefähigkeit archäologischer Quellen geleugnet, während
sich Archäologen oftmals darauf beschränken, einfach
Gegründet & geplant
die Interpretationen der Historiker zu widerlegen, ohne
ihre eigenen Quellen selbst zu erklären und damit ernst
zu nehmen. Im Falle von Chemnitz widerlegen zwar die
Archäologen die historische Datierung, stellen aber weiterführend die auf ihr fussenden historischen Modelle nicht
in Frage.
Ebenso wird in Heidelberg das Modell der Gründungs-/Planstadt nicht wirklich hinterfragt. In Konsequenz
der bisherigen Erkenntnisse beider Disziplinen müsste die
historisch zu fassende Stadt des späten 12. Jahrhunderts
identisch mit der archäologisch ergrabenen Siedlung um
die Peterskirche sein. Diese frühe Stadt müsste aber nicht
als präurban, sondern als (früh)städtisch angesprochen
werden. Das Phänomen der Planstadt wäre damit keine
Voraussetzung der Stadtwerdung, wie von historischer Seite
postuliert, sondern stellt, wie von Achim Wendt beschrieben, erst einmal nur eine städtebauliche Zäsur dar.
Planstädte sind keine Erfindung des 12. und 13.
Jahrhunderts.82 Ältere Planstädte oder Stadtplanungen
sind beispielsweise in Leopoli, das heutige Cencelle,
Winchester oder dem planmässigen Ausbau Haithabus
ergraben, in literarischen Vorstellungen von Idealstädten83
überliefert oder in den Kathedralstädten des 10. und 11.
Jahrhunderts untersucht.84
Was sich aber um 1200 zu ändern scheint, ist die
Wahrnehmung der Zeitgenossen: Während zuvor die
Gestalt einer Stadt noch nicht fest definiert zu sein scheint,
entwickelt sich im 12. Jahrhundert eine feste Vorstellung
davon, wie eine Stadt auszusehen habe. Sie wird im 13.
Jahrhundert zu einem «must have», zu einem Kriterium
für Stadt, das man haben will oder haben muss, um sich
als Stadt zu fühlen und von aussen als solche anerkannt
zu werden.
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Kobuch 2002, 28–29, 32.
Wirth 2002, 107; Geupel 2002, 122.
Kobuch 2002, 31.
Wirth 2002, 105.
Geupel 2002, 121; Wirth 2002, 105; Fassbinder 2006, 189.
Mann 1988, 681–687.
Kugler 1986; Rosenau 1974.
Hirschmann 1998.
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Abbildungsnachweis
Alle M. Jansen
1–3 Kartierungsgrundlage Seidenspinner/Benner 2006
4–7 Kartierungsgrundlage Fassbinder 2006; Wirth 2002
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Archäologischer Stadtkataster Offenburg
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Bertram Jenisch
Archäologischer Stadtkataster Offenburg
Synthese topographischer Befunde aus Archäologie, Schriftquellen
und historischen Karten
Einleitung
Der «Archäologische Stadtkataster Baden-Württemberg»
untersucht jene etwa 300 Städte des Landes, die bereits
im Mittelalter und zum Teil schon in römischer Zeit
bestanden haben. Selbst wenn die Bauten (Gebäude,
Stadtmauern, Türme etc.) oder auch Zeugnisse aus dem
Alltagsleben vergangener Epochen obertägig oft nur
bruchstückhaft erhalten sind, zeichnet viele dieser Städte
heute ihre reiche, nicht selten hervorragend konservierte
archäologische Substanz aus. Ausgrabungen in zahlreichen Stadtkernen Baden-Württembergs haben dies
in den vergangenen Jahren durch Aufsehen erregende
Funde und Befunde deutlich gemacht. Der archäologische Beitrag zur Stadtgeschichte reicht vielfach vor die
ältesten schriftlichen Überlieferungen zurück und birgt
häufig entscheidende Informationen über die Entstehung einer Stadt und ihre frühe Geschichte. Für die Folgezeit ergänzen und verdeutlichen die Bodenzeugnisse
Nachrichten aus Schriftquellen und können so zu einem
neuen Verständnis historischer Prozesse führen. Den im
Boden tradierten Spuren kommt innerhalb historischer
Siedlungsareale eine herausragende Bedeutung als
Geschichtsquelle zu.
Die Bodenurkunden sind vielfältigen Eingriffen
ausgesetzt, die ihre Aussagekraft schmälern oder sie gar
zerstören. Angesichts erheblicher Verluste ist der Schutz
dieser «unterirdischen Stadtgeschichte» von grosser
Bedeutung. Ausgrabungen, wie sie in vielen Städten in
den letzten Jahren durchgeführt wurden, sind nur die
zweitbeste Lösung, denn auch sie zerstören – wenn auch
kontrolliert – den archäologischen Bestand und damit
historische Quellen. Die unter wissenschaftlichen und
heimatgeschichtlichen Zielsetzungen durchgeführten
archäologischen Grabungen sind immer wieder Anlass
zu Konflikten zwischen Stadterneuerung, Bauherren
und Archäologischer Denkmalpflege – insbesondere
dann, wenn es nicht möglich war, die archäologischhistorischen Zielsetzungen langfristig in Planungsverfahren einzubinden.
Anfang der 1990er Jahre wurde der erste Erhebungsschritt des «Archäologischen Stadtkatasters» abgeschlossen und den Städten übergeben. Bei diesem Bear-
Buch SKAM 36.indd 99
beitungsstand waren die archäologisch bedeutsamen
Flächen innerhalb der mittelalterlichen Städte und in
ihrem unmittelbaren Umfeld nur summarisch ausgewiesen worden. Für die Erstellung eines differenzierten
Katasterwerkes musste eine vertiefte Bearbeitung erfolgen. Voraussetzung für den qualifizierten Schutz und
Erhalt der archäologischen Kulturdenkmale und zugleich
Bedingung für eine Konfliktminimierung ist eine möglichst umfassende Kenntnis über Lage und Bedeutung
der archäologischen Flächen innerhalb mittelalterlicher
und frühneuzeitlicher Stadtareale. Hierzu werden archäologische Funde und Befunde, historische Schrift- und
Bildquellen, Karten und Pläne sowie kommunale Bauakten ausgewertet und in Text und thematischen Plänen
zusammengefasst. Als Ergebnis erhalten sowohl die
Stadtplanung als auch die Denkmalpflege einen qualifizierten Überblick über die archäologisch relevanten
Zonen. Die Erhebungen können bei der Aufstellung von
Flächennutzungs- und Bebauungsplänen, projektierten
Stadtteilsanierungen und sonstigen Planungsverfahren
als qualifizierte Unterlage herangezogen werden. Ein
Stadtkataster bildet die Grundlage, um archäologisch
relevante Bereiche im Rahmen von denkmalbezogenen
Stellungnahmen schnell und fachlich hinreichend zu
benennen. Für die Denkmalpflege stehen dabei der
Schutz und Erhalt der unterirdischen Geschichtszeugnisse im Vordergrund. Daher besteht bei jeder in den
Boden eingreifenden Baumassnahme die Notwendigkeit
der frühzeitigen Abstimmung mit der Archäologischen
Denkmalpflege. Auf diesem Weg sollte es gelingen, die
Belange der Stadterneuerung und der Denkmalpflege
einvernehmlich aufeinander abzustimmen, dass künftig
die «Urkunden im Boden» entsprechend ihrer Bedeutung
als oft einmalige Quellen zur Stadtgeschichte gewürdigt werden. 1 Die konsequente Zusammenarbeit von
Archäologen und Historikern ist innerhalb des Projektes
«Archäologischer Stadtkataster Baden-Württemberg»
Programm. Die Arbeitsweise kann am aktuellen Beispiel
Offenburg gezeigt werden.
1
Bräuning 2000.
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100
Ausgangssituation bei der Bearbeitung des
Archäologischen Stadtkatasters Offenburg
Bereits mit Beginn des Stadtkataster-Projekts stand
Offenburg auf der Prioritätenliste, da diese historisch
bedeutsame Stadt in der südlichen Oberrheinebene, die
sich dynamisch entwickelt, aus archäologischer Sicht ein
weitgehend unbeschriebenes Blatt war.
Die Frage nach den Anfängen der Stadt Offenburg steht seit dem beginnenden 19. Jh. im Mittelpunkt
der stadtgeschichtlichen Forschung, ohne dass bisher
eindeutig geklärt werden konnte, wer Offenburg wann
gründete.2 Erstmals vertrat Johann Baptist Kolb im frühen 19. Jh. die These von der Gründung Offenburgs
durch die Zähringer: Der sagenhafte königliche Missionar Offo aus England soll nach einer aus dem 16. Jh.
überlieferten Sage Offenburg im Jahr 605 als Niederlassung für Mönche gegründet haben. Herzog Berthold
III. von Zähringen (1111–1122) habe begonnen, aus der
(nicht nachgewiesenen) Burg dieses Offo und aus Kinzigdorf eine Stadt auszubilden, die Herzog Konrad II.
von Zähringen (l122–1152) mit Befestigungsanlagen versehen habe.3
Die These von der Zähringer-Gründung, für die
es keine urkundlichen Nachweise gibt, prägte bis in
jüngste Zeit die Diskussion. In den 1930er Jahren gaben
ihr Ernst Hamm, Theodor Mayer und Karl Gruber neue
Impulse.4 Otto Kähni stellte in einem 1953 erschienenen
Aufsatz die Gründung Offenburgs ebenfalls in einen
neuen Zusammenhang mit der Absicherung der zähringischen Hausmacht. Allerdings setzte er das Gründungsdatum schon in die 2. Hälfte des 11. Jh., wofür er eine
Schenkungsnotiz in einer um 1101 ausgestellten Papsturkunde heranzieht, die als Ausstellungsort in loco Offinburc
nennt; hier wird zugleich der Ort erstmalig erwähnt.5
Die von Kähni angeführte Schenkungsnotiz wurde 1969
von Hans Harter aufgrund paläographischer wie inhaltlicher Merkmale allerdings auf einen deutlich späteren
Zeitpunkt – wahrscheinlich um 1139, datiert und damit
der Gründungszeitraum in der ersten Hälfte des 12. Jh.
bestätigt.6
Eine These über die Anfänge der Stadt Offenburg,
die der Zähringer-Gründung rigoros widersprach, stellte
1968 Karlleopold Hitzfeld auf.7 Davon ausgehend, dass
der Grundherr auch immer der Stadtgründer gewesen
sei, versuchte er nachzuweisen, dass nur der Strassburger Bischof als Stadtgründer in Frage komme, was sich
allerdings durch nichts belegen lässt. 8 Ein allgemeines
Problem der Diskussion um die Gründung Offenburgs
Buch SKAM 36.indd 100
Archäologischer Stadtkataster Offenburg
ist die mangelhafte Quellenlage. Weder für die Zähringer noch für den Strassburger Bischof als Gründer liegen
urkundliche Belege vor.
Unabhängig von der Person des Gründers –
Strassburger Bischof oder der Zähringerherzog – kann
immerhin als gesichert gelten, dass sich die frühmittelalterliche Siedlung im 12. Jh. zu einem Marktort mit
lokaler Bedeutung entwickelt hatte, dessen Ausbau bis
zur Stadtwerdung sich allerdings noch längere Zeit hinziehen sollte. Die Ersterwähnung Offenburgs in einer
Schenkungsnotiz um 1101 (in loco Offinburc)9 bezeichnet
lediglich die Siedlung, ohne dass mit dem Begriff locus
ein Hinweis auf dessen rechtliche Qualität oder eine
Siedlungsform verbunden wäre.
Aus archäologischer Sicht liess sich bis vor einigen
Jahren ausser einigen Fundbeobachtungen zur römischen
Vergangenheit der Stadt, die grösstenteils Batzer in den
1930er Jahren machte, nur wenig zur Stadtgründung und
-entwicklung Offenburgs beitragen.
Dem Stadtgrundriss von Offenburg ist bei der
Diskussion zur Gründungsgeschichte der Stadt schon
früh der Charakter einer Geschichtsquelle beigemessen
worden. Die zu keinen brauchbaren Ergebnissen führende und daher bereits abgeschlossene Diskussion um das
«Zähringerkreuz» wurde jüngst erneut aufgenommen.
Klaus Humpert versuchte die geometrische Konstruktion der Stadt auf eine Vermessung zurückzuführen, der
ein Basisgerüst zugrunde liegt.10 Ihm zufolge soll ein im
Längenverhältnis frei (beliebig?) gewähltes Basisrechteck
den Ausgangspunkt für die weiteren Messungen bilden.
Als «Gründungsachse» soll nach Humperts Meinung die
Flucht entlang der Hauptstrasse festgelegt worden sein.
Durch mehrere Zirkelschläge konstruiert er darauf ein
Rechteck von 1400 Fuss Länge und 1100 Fuss Breite,
das sich an drei Eckpunkten annähernd mit ehemaligen
Standorten von Stadttoren deckt. Diese Konstruktion
gliedert er durch Querachsen, Mittelachsen und Diago-
2
3
4
5
6
7
8
9
10
Eine Zusammenfassung der Forschungsdiskussion um die Gründung Offenburgs bei Hillenbrand 1990, 11–30 mit allen relevanten Literaturnachweisen.
Kolb 1816, 19–35.
Gruber 1937, 33f.; Mayer 1935; Neudruck in: Mayer 1959, 350ff.; Hamm
1932; Hillenbrand 1990, 19ff.
WUB 1, Nr. 260; vgl. Kähni 1953, bes. 217ff.
Harter 1969, darin speziell zur Datierung 228ff.
Hitzfeld 1968.
Eine kritische Beurteilung der These Hitzfelds findet sich bei Hillenbrand
1990, 24f.
Kähni 1953.
Humpert/Schenk 2001, bes. 200–253.
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Archäologischer Stadtkataster Offenburg
101
Abb. 1 Titelblatt des Archäologischen Stadtkatasters Offenburg.
nalen, um zu einer Streifeneinteilung zu gelangen, die
in etwa den Baublöcken der Stadterweiterung entspricht.
Durch aufwendige Berechnungen wird der (massgeblich
von der Topographie bestimmte) Verlauf der Stadtbefestigung nachvollzogen, wobei teilweise Baufluchten des
frühneuzeitlichen Wiederaufbaus als Fixpunkte herangezogen werden, die nicht den mittelalterlichen Gegebenheiten entsprechen. Nach Humpert soll erst nach «der
Ausrichtung der Stadtanlage im Raum und der Festlegung des Befestigungsrings die Hauptstrasse als erste
Binnenstruktur im Grundriss der neuen Stadt bestimmt»
worden sein.11 Die auf kompliziertem Weg gewonnene
geradlinige Geometrie des Grundrisses wird durch
Bogenradien überformt und der Situation im Stadtbild
angepasst. Abweichungen von der angeblich festgelegten
geometrischen Struktur werden als «spielerische Varianten» erklärt,12 was den Sinn einer Vermessung grundsätzlich in Frage stellt.
Zu diesem in der Öffentlichkeit stark rezipierten Stadtgründungsentwurf ist grundsätzlich kritisch anzumer-
Buch SKAM 36.indd 101
ken, dass zur Berechnung des Vermessungsmodells der
aktuelle Katasterplan herangezogen wurde, der selbst
schon erhebliche Abweichungen zum ältesten masshaltigen Stadtplan von Nussbaum aus den Jahren 1848–50
aufweist (Abb. 2). Der aktuelle Katasterplan kann nicht,
wie postuliert, in die Zeit vor dem Stadtbrand von 1798
zurückprojiziert werden, da durch archäologische Aufschlüsse und Bauforschungen teilweise erhebliche Veränderungen in den historischen Baufluchten offensichtlich
geworden sind. Der Nachweis von planerischen Elementen im Stadtgrundriss ist keineswegs so spektakulär
wie von Humpert programmatisch herausgestellt; das
Fluchten und die Streckenmessung bei Planungen im
Mittelalter sind seit langem wissenschaftliches Allgemeingut und unbestritten. Die Anlage eines Basisrechtecks als
Grundlage eines Messsystems für eine Stadtgründung ist
dagegen reine Fiktion und durch keine historischen Quel-
11
12
Ebd., 231.
Ebd., 253.
14.11.2009 14:54:15 Uhr
102
Archäologischer Stadtkataster Offenburg
Abb. 2 Plan der Stadt Offenburg von Geometer Johann Adam Nussbaum, aufgenommenen zwischen 1848 und 1850 (Stadt Offenburg).
Buch SKAM 36.indd 102
14.11.2009 14:54:16 Uhr
Archäologischer Stadtkataster Offenburg
len belegt. Humperts Feststellung, dass bei dem von ihm
bearbeiteten Städten alle Vorstädte und die Hofstätteneinteilung Bestandteil der Ersteinmessung sind und die
Tortürme in die Gründungsphase einer Stadt gehören,13
ist schlicht ahistorisch. Sein Modell der Siedlungsentwicklung Offenburgs beruht auf willkürlichen Setzungen,
es ignoriert die topographische Situation sowie die chronologische Dimension der Stadtentstehung und ist trotz
aufwendiger Illustrierung nicht nachvollziehbar.
Die Bearbeitung des Archäologischen
Stadtkatasters Offenburg
Ein erster archäologischer Stadtkataster wurde nach etwa
neunmonatiger Bearbeitung durch den Verfasser und Uwe
Schmidt 1998 als Typoskript der Stadt Offenburg übergeben. In der Praxis stellte sich rasch heraus, dass es ein
wichtiger Impuls für die lokale Stadtgeschichtsforschung
war.14 In der Folge kam es aufgrund einer grösseren Sensibilität zur konsequenten archäologischen Begleitung von
innerstädtischen Baumassnahmen in einer Zeit mit erheblichem Veränderungsdruck im Stadtgebiet. Im Jahr 2005
wurde daher angeregt, den aktualisierten Stadtkataster
nach den mittlerweile standardisierten Kriterien der Reihe zu drucken. Dies kam aufgrund des grossen Zuwachses
an Quellen sowohl im archäologischen als auch im historischen Teil einer Neubearbeitung gleich. Innerhalb der
Schriftenreihe «Archäologischer Stadtkataster BadenWürttemberg» erschien der Offenburger Kataster 2007
als Band 33 (Abb. 1).15 Kernstück der Arbeit sind sechs
Karten, die im Massstab 1:2500 vorgelegt sind. Karte 1
übernimmt die Gliederung des Untersuchungsgebietes
und signiert die archäologisch relevanten Bereiche. Karte
2 weist die vor- und frühgeschichtlichen sowie die mittelalterlichen/frühneuzeitlichen Fundstellen aus. In Karte
3 sind alle lokalisierbaren historischen Gebäude eingetragen: Befestigungsanlagen, städtische und kirchliche
Einrichtungen, Einrichtungen der Sozialfürsorge und des
Gesundheitswesens, Einrichtungen der städtischen Infrastruktur (Wasserversorgung und Verkehr), Ökonomiegebäude und wirtschaftlich genutzte Bauten (z.B. Mühlen
und Gasthäuser). Bei der Bodeneingriffskarte (Karte
4a) wird eine exakte Bestandsaufnahme der erhaltenen
archäologischen Substanz durchgeführt. Dabei wurden
Bodeneingriffe (Unterkellerungen, Tiefgaragen etc.) aus
den kommunalen Bauakten und Archivbeständen erhoben. Dem Offenburger Kataster ist als weitere Karte eine
Zusammenstellung der historischen Keller beigefügt
(Karte 4b), weil diese die Stadtstruktur vor der Zerstö-
Buch SKAM 36.indd 103
103
rung 1689 spiegeln. Karte 5 ist eine auf der Grundlage des
heutigen Katasterplans erstellte Entzerrung des zwischen
1848 und 1850 von Geometer Johann Adam Nussbaum
aufgenommenen Plans der Stadt Offenburg. Dieser Plan
tradiert weitgehend unverändert die historischen Strukturen des Wiederaufbaus nach 1689 und die zugrunde
liegenden mittelalterlichen Strukturen (Abb. 2).
In einem Textteil werden diese Karten erläutert.
Im Untersuchungsbereich wurden insgesamt 83 archäologische Fundstellen (Lesefunde, Sondagen, Plangrabungen) erfasst, die vom Neolithikum über die römische
Epoche bis zu einem Schwerpunkt in Mittelalter und
Neuzeit reichen. Der zweite Grundpfeiler ist die Erhebung zur historischen Topographie der Stadt. Während
sich die erste Bearbeitung vorwiegend auf publiziertes
Material stützte, unternahm Andre Gutmann die Bearbeitung der Ratsprotokolle, unter der Fragestellung, ob
diese Angaben zur Baugestalt oder zur Lokalisierung von
historischen Liegenschaften in der Stadt enthalten. Als
besonders ergiebig erwiesen sich dabei die so genannten
Kontraktenprotokolle, in denen Vertragsabschlüsse protokolliert wurden. In den frühneuzeitlichen Schriftquellen wurden oftmals zur Ortsbeschreibung benachbarte
Anwesen genannt, die für unsere Fragen relevant waren.
Auf diesem Weg konnten insgesamt 147 Objekte für die
historische Topographie erfasst und zum grossen Teil
auch kartiert werden.
Diesen positiven Erhebungen der archäologischen
und historischen Substanz wird eine Karte von Bodeneingriffen gegenübergestellt, die auf der Auswertung von
Bauakten fusst. Dies ist notwendig, um Bereiche mit
grossflächigen Störungen zu ermitteln. In der Abwägung
dieser Erhebungen lassen sich denkmalpflegerisch relevante Bereiche ansprechen.
Nicht alle erfasste Bodeneingriffe sind jedoch als
«Fehlstellen» anzusprechen, so sind spätmittelalterliche
und frühneuzeitliche Keller ihrerseits als Kulturdenk-
13
14
15
Ebd., 255.
Jenisch/Schmidt 1998.
Jenisch/Gutmann 2007. Heinrich Meyer, Stadt Offenburg, steuerte viele
wertvolle Informationen, insbesondere zu historischen Kellern und bauhistorischen Untersuchungen in der Stadt bei und koordinierte die Zusammenarbeit zwischen Denkmalpflege und der Stadt. Die digitalen Karten wurden
von der städtischen Mitarbeiterin Friderike Sandfort umgesetzt. Stadtarchivar
Dr. Wolfgang Gall und seine Mitarbeiter unterstützten die Bearbeitung durch
Hinweise und die Bereitstellung von Abbildungsvorlagen. Die redaktionelle
Bearbeitung des Manuskripts übernahm Valerie Schoenenberg, die Endredaktion und das Layout lag in den Händen von Dr. Alois Schneider und Dr.
Birgit Kulessa, Landesamt für Denkmalpflege Esslingen. Den Umschlag hat
Brigitte Ruoff, Stuttgart, gestaltet.
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104
Archäologischer Stadtkataster Offenburg
Abb. 3 Offenburg, Am Marktplatz 1. Römischer Spitzgraben als über 3,5 m tiefe und ca. 5 m breite Verfärbung in der Baugrubenwand.
male zu charakterisieren. Insbesondere dann, wenn sich
in der Lage von Kellern eine frühere Stadtstruktur ermitteln lässt – im Fall von Offenburg der Strassenverlauf
vor der Zerstörung 1689. Der erste masshaltige Plan der
Stadt Offenburg des Geometers Nussbaum aus der Mitte
des 19. Jh. dokumentiert demnach den Zustand des Wiederaufbaus nach 1689 und lässt sich nur bedingt in eine
frühstädtische Zeit zurückprojizieren.
Der Stadtkataster Offenburg stellt mittlerweile die
viel genutzte planerische Grundlage für denkmalrelevante
Verfahren im Stadtgebiet dar.
Ergebnisse zur Siedlungsgeschichte Offenburgs
Im Offenburger Stadtgebiet wird seit langem eine römische
Siedlung vermutet, obwohl bis vor wenigen Jahren nur
relativ wenige aussagekräftige Belege vorlagen. Bereits
1615 wurden römischen Funde aus Offenburg geborgen.
1778 gelang die spektakuläre Bergung eines Soldatengrabsteins, 1840 wurde ein römischer Meilenstein entdeckt,
der als Beleg für den Bau einer Kinzigtalstrasse im Jahr
73/74 n. Chr. gilt, die von Strassburg (Argentorate) nach
Rottweil (Ara Flaviae) führte. Bis 1840 suchte man die
römische Siedlung im Westen der Stadt, im Bereich nördlich der Okenstrasse, wo man 1759/60 auf Fundamente
stiess, die sich jedoch mittlerweile als Reste der Stadtbefestigung erwiesen.
Die Lage und der Charakter der römischen Siedlung in Offenburg waren lange umstritten. Die Deutungen
reichten von der Einordnung als Kastell mit Lagerdorf
Buch SKAM 36.indd 104
(canabae) über die Vermutung einer dörflichen Siedlung
(vicus) bis zur Annahme von mehreren Gutshöfen (villae
rusticae) in Streulage.
Ein wichtiger Schritt war die systematische Erfassung der 31 bis dahin bekannten römischen Fundstellen
im Stadtgebiet durch Manuel Yupanqui.16 Jüngste Untersuchungen schufen mit spektakulären Entdeckungen
Klarheit in der bisherigen Diskussion. Die Freilegung
eines Spitzgrabens an der Kornstrasse brachte erstmals
einen sicheren Beleg für eine römische Wehranlage im
Stadtgebiet (Abb. 3). Das Kastell lag demnach unmittelbar
am Westrand des Stadthügels an der ebenfalls archäologisch erfassten römischen Strasse bei einer Furt durch bzw.
einer Brücke über die stark mäandrierende Kinzig (Abb.
4A). Die Wehranlage des 1. Jh. wurde im 2. Jh. durch eine
zivile Siedlung abgelöst, die sich am Kreuzungspunkt dieser Verkehrswege entwickelte. Das römische Strassendorf
(vicus) war geprägt durch regelmässige Streifenparzellen,
in denen mit der Schmalseite zur Strasse hin orientierte
Fachwerkbauten errichtet wurden.
Zu einer frühmittelalterlichen Besiedlung Offenburgs liegen bislang nur sehr wenige Erkenntnisse vor. Im Zuge
dieser Erfassung konnten nun immerhin einige Fundstellen katalogisiert werden, die sich an der offenbar weiterhin
genutzten Römerstrasse aufreihen (Abb. 4B). Bereits 1846
hat man im Südosten der Stadt das merowingerzeitliche
16
Yupanqui 2000.
14.11.2009 14:54:17 Uhr
Archäologischer Stadtkataster Offenburg
105
Gräberfeld «Im Krummer» entdeckt.17 Es lieferte Funde des
6. und 7. Jh. n. Chr. und ist ein eindeutiger Beleg für die
Besiedlung der Offenburger Gemarkung im Frühmittelalter. Auf oder in unmittelbarer Nähe der alamannischen
Siedlung entstand später, möglicherweise im Zuge des
fränkischen Herrschaftsausbaus in der Ortenau, ein neuer
Verwaltungs- und Wirtschaftsstandort: Das nördlich der
heutigen Altstadt liegende Kinzigdorf. Bei verschiedenen
Ausgrabungen ergaben sich Hinweise auf diese ab dem
10./11. Jh. in den Schriftquellen nachgewiesene Siedlung.
An der Okenstrasse 15 fand sich frühmittelalterliche Keramik und an der Wasserstrasse 10a wurde ein Grubenhaus
dieser Zeit erfasst. Die wenigen archäologischen Spuren
der Siedlung Kinzigdorf zeigten sich alle nördlich des ehemaligen römischen vicus (Abb. 4B).
Im 10. Jh. scheint Kinzigdorf nach den Schriftquellen eine befestigte Siedlung (oppidum) gewesen zu sein
und als Mahlstatt (publicus mallus), d.h. Versammlungsort
oder Gerichtsstätte, gedient zu haben. Die Siedlung blieb
bis 1504 rechtlich und räumlich von Offenburg getrennt,
ehe sie durch ein Privileg König Maximilians I. an die
Reichsstadt Offenburg überging. Zu diesem Zeitpunkt
bestand Kinzigdorf nur noch aus wenigen Gebäuden.18
Losgelöst von der oben dargestellten Diskussion um die
Person des Gründers, kann als gesichert gelten, dass sich
die frühmittelalterliche Siedlung im 12. Jh. zu einem
Marktort mit lokaler Bedeutung entwickelt hatte, dessen
Ausbau bis zur Stadtwerdung sich allerdings noch längere
Zeit hinziehen sollte. Die Ersterwähnung Offenburgs
erfolgte in einer Schenkungsnotiz um 1101 (in loco Offinburc).19 Aus dem Jahr 1148 hören wir dann von der Beilegung eines Rechtsstreits zwischen dem Kloster St. Peter
im Schwarzwald und seinen zähringischen Schenkern
apud castrum Offinburc.20 Der singuläre Beleg einer Burg
Offenburg wurde in der Forschung bislang unterschiedlich gedeutet, ein archäologischer Nachweis einer Burganlage in Offenburg ist bislang nicht zu erbringen. Insofern muss die Frage nach dem castrum Offinburc unbeantwortet bleiben.21 Die Wahl des Ortes für die Verhandlung
einer zähringischen Streitsache, unter Vermittlung eines
zähringischen Ministerialen und mit Beteiligung weiterer
Adliger aus dem zähringischen Umfeld, darf immerhin
als Indiz für eine hervorgehobene Stellung der Zähringer
in Offenburg bereits Mitte des 12. Jh. gesehen werden.
Innerhalb des Stadtgebietes lassen sich die Siedlungsspuren des 12. Jh. nachweisen und räumlich
begrenzen (Abb. 4B, 3). Auf den charakteristischen Hof-
Buch SKAM 36.indd 105
Abb. 4 Entwicklung des Siedlungs- und Strassengefüges von Offenburg auf der Grundlage archäologischer und kartographischer Befunde.
A Römische Zeit 1 Spitzgraben Kastell, 2 Vicus. B Frühmittelalter/
Hochmittelalter 1 Gräberfeld «Im Krummer», 2 Kinzigdorf, 3 Marktgründung an der Langen Strasse. C Frühe Stadt im 12./13. Jh. D Stadterweiterung im 13. Jh.
stätten der frühen Stadt stand ein an der Strasse orientiertes, in Holzbauweise errichtetes Haus, das meist (teil-)
unterkellert war. Im Hofbereich dieser Anwesen liegen
teilweise Brunnen und Wirtschaftsgebäude. Das erste
dieser Gebäude wurde an der Vitus-Burg-Strasse erkannt.
Mittlerweile fanden sich diese Fachwerkbauten jedoch
auch an anderen Stellen in der Stadt. Bei der Grabung an
der Lange Strasse wurden gleich mehrere benachbart liegende Holzbauten nachgewiesen, deren Hofstätten durch
17
18
19
20
21
Kähni 1976, 30f.; Wagner 1908, 249.
Urkunde aus dem Generallandesarchiv, D 1093 (1504 Aug 21); Kähni 1953,
219.
WUB 1, Nr. 260.
Der entsprechende Bericht mit der Erwähnung ist im sogenannten «Rotulus
Sanpetrinus», einem Schenkungsverzeichnis des 12./13. Jh. aus St. Peter im
Schwarzwald, enthalten, vgl. Fleig 1908, 118, Nr. 142.
Vgl. auch Hillenbrand 1990, 27f.
14.11.2009 14:54:18 Uhr
106
Archäologischer Stadtkataster Offenburg
Abb. 5 Offenburg. Grabungsfläche Kesselstrasse 13 von Nord. Im Hofbereich des ehemaligen Amtsgerichts wurde auf einer Fläche von 450m2 die
mittelalterliche und neuzeitliche Bebauung Offenburgs untersucht.
Zäune getrennt und im rückwärtigen Bereich durch eine
Wirtschaftsgasse erschlossen waren. Vier benachbarte,
teilunterkellerte Gebäude lagen auch an der Strohgasse/
Glaserstrasse. Bisher fanden sich Baustrukturen des 12. Jh.
nur westlich der Hauptstrasse. Die vermutlich in römische
Zeit zurückreichende Trasse der Lange Strasse scheint die
wichtigste Strasse des frühen Ortes gewesen zu sein. Von
ihr bogen in regelmässigen Abständen Nebengassen ab.
Die Abzweigung Kloster-/Spitalstrasse führte von der Lange Strasse zur Kinzig (Abb. 4C). Die Gestalt der frühen
Stadt scheint von diesen sich verzweigenden Strassen mit
dazwischen gespannten Gassen geprägt zu sein.
In die erste Hälfte des 13. Jh. fällt wohl auch der
innere Ausbau des frühen Marktortes (Abb. 4D). Als
neue Hauptverkehrsachse wurde die Hauptstrasse trassiert, an der sich dann alle neu errichteten, markanten
öffentlichen Bauten orientieren sollten. Vermutlich wurde dabei auch der nördliche Zugang zur Stadt verlegt,
denn den nördlichen Abschluss der Hauptstrasse bildete
seither das gänzlich neu angelegte Neue Tor, während
sich ein aufgegebenes älteres Tor vermutlich noch auf die
in römische Zeit zurückreichende Strasse bezogen hat.
Buch SKAM 36.indd 106
Zu beiden Seiten der Hauptstrasse wurden rechteckige
bis nahezu quadratische Baublöcke ausgewiesen, deren
Grundrissstruktur sich klar von den sich verzweigenden
Strassen mit den dazwischen liegenden langgestreckten
Baublöcken des älteren Marktorts abhebt. Bezeichnenderweise finden sich im Bereich des «Neubaugebietes»
um die neue Marktstrasse alle bedeutenden Bauten der
sich emanzipierenden Stadt. Der Kreuzungsbereich von
Hauptstrasse, Kornstrasse und Fischmarkt erhielt durch
die Konzentration mehrerer für die Verwaltung und das
Wirtschaftsleben wichtiger Einrichtungen einen klaren
Zentrumscharakter an dieser Stelle, auch wenn sich die
Mehrzahl davon erst im 15. und 16. Jh. schriftlich fassen
lässt. Dazu gehören das Rathaus mit der Kanzlei, dessen
Vorgänger, die 1265 erwähnte Dinglaube (Gerichtshaus)
sich möglicherweise an gleicher Stelle befand, das Salzhaus und das dahinter liegende, um 1300 gegründete St.
Andreasspital, das Stadtwirtshaus (Pfalz) mitten auf der
Strasse und, nördlich davon auf der gegenüberliegenden
Seite, wahrscheinlich das städtische Kaufhaus. An dieser
Kreuzung dürfte sich in der Frühzeit der Stadt ein grosser
Teil des Marktgeschehens abgespielt haben.
14.11.2009 14:54:18 Uhr
Archäologischer Stadtkataster Offenburg
107
Abb. 6 Offenburg, Kesselstrasse 13. Frühneuzeitliches Pulverhorn aus
Hirschgeweih mit der Darstellung eines bärtigen Mannes.
Abb. 7 Befestigungsplan von Strasser, um 1678. Der Grundriss und die
Wehranlagen von Offenburg sind schematisiert dargestellt.
Eine der ersten Grabungen nach Übergabe des
ersten Stadtkatasters fand an der Kesselstrasse 13 statt,
die hier exemplarisch vorgestellt werden soll (Abb. 5).
Während frühere Untersuchungen baubegleitend durchgeführt wurden, legte man bei dieser Untersuchung
grossflächig städtische Siedlungsspuren (Keller, Gruben,
Latrinen) frei, die sich im Stadtgebiet ab dem 13. Jh. ausgebildet haben.
Im Hofbereich des ehemaligen Amtsgerichts
wurde insgesamt eine Fläche von 450 m2 archäologisch
untersucht. Die gefundenen Siedlungsspuren und Kulturschichten reichen bis ins 13./14. Jh. zurück. Wenige
Gruben (etwa zur Lehmentnahme, für Vorräte oder Latrinen) des 13./l4. Jh. bezeugen die Ausbauphase der hochmittelalterlichen Stadt. Zwei Erdkeller oder Gruben, drei
Keller sowie zwei Latrinen sind jedoch ein reicher Beleg
für die enge spätmittelalterliche und frühneuzeitliche
Bebauung. Sie wurden mit Bauschutt und Abfall des
16./17. Jh.. verfüllt. Zwei dieser Keller waren noch über
die ursprünglichen Backsteintreppen zugänglich. Die
Kellerwände waren zum grössten Teil mit Holz verkleidet. Nur entlang der Zugänge vermauerte man Back- und
Hausteine.
Die zahlreichen Funde in den Verfüllschichten,
hier am südlichen Altstadtrand, deuten auf eine Hafnerwerkstatt hin. Renaissancezeitliche Ofenkacheln
mit Graphitüberzug lassen eine komfortable städtische
Wohnnutzung erkennen. Einschneidendes für die bauliche Entwicklung des Areals muss sich bereits vor dem
grossen Stadtbrand ereignet haben. Da bislang keine
Spuren des grossen Feuers gefunden wurden, befand sich
hier bei Ausbruch des Brands wahrscheinlich eine Brachfläche inmitten der Stadt. Vom 17. bis ins 19. Jh. änderte
sich dieser Zustand kaum. Das Hofareal blieb frei von
grösseren Bauten. Noch zu Beginn unseres Jahrhunderts
sind dort, wo im späten Mittelalter Fachwerkhäuser über
Kellern standen, in den historischen Plänen Gärten verzeichnet.
Buch SKAM 36.indd 107
14.11.2009 14:54:19 Uhr
108
Aus der Grabung liegen grosse, stratigraphisch
geborgene Fundmengen an spätmittelalterlicher und
frühneuzeitlicher Keramik vor. Darunter ein umfangreicher Komplex früher Malhornkeramik, Steinzeug und
Ofenkacheln, Model für Kachel und Figuren sowie Nuppengläser. Als besonderes Stück ist ein frühneuzeitliches
Pulverhorn aus Hirschgeweih mit Darstellung eines bärtigen Mannes (Abb. 6) zu erwähnen.
An der Anlage der Marktstrasse richteten sich der in den
späten 1240er Jahren vollendete Bau der Stadtbefestigung und die Standorte der Stadttore und Türme aus.
Die Standorte der südlichen Stadttore, Kinzigtor und
Schwabhauser Tor, sind wohl Neuanlagen im Bereich
älterer Tore. Bei dem um 1430 erstmals erwähnten Neutor
am nördlichen Ende der neu angelegten Marktstrasse ist
zu vermuten, dass es als Folge einer Verlegung des Nordzugangs in die Stadt nach Osten neu errichtet wurde.
Dies beruht auf der oben erklärten Annahme, die präurbane Marktsiedlung habe sich zumindest teilweise an der
alten Römerstrasse befunden, die in der Nordwestecke
der Stadt im Bereich der Kreuzung von Wasserstrasse
und Prädikaturstrasse in die Stadt eintrat. An dieser Stelle wäre demzufolge der ursprüngliche Nordzugang in
das Siedlungsareal der Marktsiedlung zu erwarten (Abb.
4C). Die Anlage der breiten Marktstrasse im städtischen
Gefüge im 13. Jh. machte jedoch eine Verlegung des Tores
nach Osten nötig.
Über den Ausbau der spätmittelalterlichen Wehranlage im
17. Jh. sind wir durch verschiedene Chronisten und zeitgenössische Pläne vergleichsweise gut unterrichtet. 1639
kam es zu intensiven Schanzarbeiten um die Stadt, um die
bestehende Wehranlage der neuen Wehrtechnik anzupassen. Auch nach dem Dreissigjährigen Krieg versuchte man
die Stadt mit Bastionen schützend zu umschliessen. Der so
genannte Strasser-Plan hält den bis 1678 erreichten Bauzustand fest (Abb. 7). Ein Entwurf desselben Planverfassers
zeigt die weitere Planung des Festungsausbaus, die allerdings nur in geringen Teilen realisiert wurde. Dies zeigt,
dass historische Pläne nicht immer Realität abbilden, sondern auch Planungen darstellen können, die nicht, oder
nur teilweise ausgeführt worden sind.
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Archäologischer Stadtkataster Offenburg
Schlussbemerkungen
Die historischen Forschungen zur Siedlungsgeschichte
von Offenburg stützen sich auf archäologische Quellen, Schriftzeugnisse und historische Karten. Demnach
erfolgte die Siedlungsentwicklung in mehreren Phasen.
Eine römische Ansiedlung, die aus einem Kastell des 1.
Jahrunderts hervorging und sich später zu einem vicus
entwickelte, wurde Ende des 3. Jahrhunderts verlassen.
Die hochmittelalterliche Siedlung Kinzigdorf entwickelte sich nördlich der Ruinenstätte entlang der alten
Überlandstrasse. Die eigentliche Entstehung der Stadt
erfolgte ebenfalls nicht in einem Zug. Zunächst entstand
ein Strassenmarkt entlang der Langen Strasse, von dem
eine weitere Strasse zur Kinzigfurt abzweigte. Der dreiecksförmige Zwischenraum wurde durch hangparallele
Strassen erschlossen. Erst im 13. Jahrhundert wurde der
Siedlungsraum westlich der Hauptstrasse in das Stadtgebiet eingeschlossen und gesamthaft befestigt.
Die Zusammenarbeit von zwei Geschichtswissenschaftlern, die mit Schriftquellen bzw. archäologischen
Quellen an diesem Projekt arbeiten, hat sich zunächst
nicht unproblematisch gestaltet. Zunächst mussten die
Beteiligten die Sprache des Partners verstehen lernen,
nicht immer waren die Schlussfolgerungen durch den
Kollegen voll umfänglich nachvollziehbar. Strittig war
nicht zuletzt die Frage, wo die Grenzen der Interpretation liegen. Für den mit Schriftquellen arbeitenden Historiker war es neu, siedlungsgeschichtliche Erkenntnisse
eindeutig auf einer Karte zu verorten, was aus archäologischer Sicht selbstverständlich scheint. Noch weitreichender war der Versuch, die gemeinsam entwickelten
Siedlungsphasen im Plan darzustellen, besteht doch die
Gefahr, dass sich ein Modell in den Köpfen der Betrachter als Realität festsetzt. Wir haben uns letztlich doch
dafür entschieden, weil in der denkmalpflegerischen
Praxis solche Bilder notwendig sind, um vor Ort Überzeugungsarbeit für die Erhaltung der archäologischen
Substanz zu leisten. Aus der Diskussion ergaben sich
erweiterte quellenkritische Überlegungen und neue Fragestellungen, die jede der Teildisziplinen weitergebracht
haben. Trotz aller Diskussionen hat sich im Endeffekt
gezeigt, dass das Zusammenwirken beider Disziplinen
mehr ist als die Summe der Einzelergebnisse.
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Archäologischer Stadtkataster Offenburg
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Bibliografie
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Abbildungsnachweis
1–6 Jenisch/Gutmann 2007
7 Österreichisches Staatsarchiv, Kriegsarchiv II b 42-900
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Interferenzen bei der Erforschung städtischer Handwerks- und Sozialtopographien
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Gerson H. Jeute
Interferenzen bei der Erforschung städtischer Handwerks- und Sozialtopographien
am Beispiel der Doppelstadt Brandenburg an der Havel
Vorbemerkung
Die Erforschung der mittelalterlichen Geschichte Ostdeutschlands ist naturgemäss bestimmt durch den sich
im 12. und 13. Jahrhundert vollziehenden ethnischen
Wandel der Bevölkerung in der Region. Auf die einheimischen slawischen Stämme trafen westliche Zuwanderer, und im Zuge der folgenden Assimilierung verschwand das slawische Element fast gänzlich. Die Forschung hat hier in der letzten Zeit enorme Fortschritte
gemacht, die das traditionelle Bild von Unterdrückung
und Ausrottung der «Slawen» durch die «Deutschen»
zwar nicht umkehren, jedoch erheblich korrigieren.
Demnach gab es während der hochmittelalterlichen Ostsiedlung oder Transformation eine starke Beteiligung der
Slawen am Landesausbau, und ethnische Differenzen
auf Grund nationaler Herkunft spielten, im Gegensatz
zu den sozialen und rechtlichen, kaum eine Rolle.1 Erst
im Laufe des späten Mittelalters wurde unter wirtschaftlichem Druck die ethnische Herkunft in den Zunftstatuten thematisiert.2 Auf der archäologischen Seite hat
sich in den letzten Jahren die Erkenntnis bekräftigt,
dass eine ethnische Zugehörigkeit allein anhand der
materiellen Kultur, insbesondere in Übergangszeiten,
nicht erkennbar ist. So müssen für den ländlichen Raum
neben archäologischen Funden auch Ortsname, Ortsform und Ortsgrösse betrachtet werden, um Aussagen
darüber zu treffen, ob der einzelne Ort eher slawisch
oder deutsch geprägt war.3 Die Stadt, als ein Motor der
hochmittelalterlichen Ostsiedlung und des Landesausbaus spielt eine besondere Rolle, nicht zuletzt, da sie als
kommunale Rechtsstadt ein vollkommen neues Element
in die Region brachte.
Nachdem ostdeutsche Städte von der sich in den
1970er und 80er Jahren europaweit etablierenden Mittelalterarchäologie zunächst nur gestreift wurden, setzte ein
kaum vergleichbarer Boom archäologischer Tätigkeiten in
Stadtkernen seit der deutschen Wiedervereinigung 1990
ein. Der Bedarf an Sanierungen und Neubauten führte
zu zahllosen bauvorbereitenden, baubegleitenden und
Notbergungsgrabungen und brachte bzw. erbringt stetig
eine Fülle an archäologischen Erkenntnissen, deren voll-
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ständige Auswertung wohl noch Jahrzehnte in Anspruch
nehmen wird.4 Besonders wertvoll sind archäologische
Befunde und Funde bekanntlich dort, wo schriftliche
Quellen fehlen, so bei Fragen von Vorgängersiedlungen
und frühstädtischer Entwicklung sowie insbesondere bei
topographischen Fragen, wie Erweiterungsphasen oder
der Lokalisierung von Handwerk und Gewerbe.
Als ein nicht unwichtiges methodisches Problem
zeichnet sich ab, dass bei einer ständigen Vergrösserung
der archäologischen Datenbasis, die Bedingungen für
Forschung und Lehre kontinuierlich schlechter werden. Nach der Schliessung der ur- und frühgeschichtlichen Lehrstühle an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität
Greifswald und der Humboldt-Universität zu Berlin im
Jahr 2009 wird es voraussichtlich keine Mittelalterarchäologie in Nordostdeutschland mehr geben. Ebenso wird
die Landesgeschichte zurückgedrängt. Gab es zum Ende
der 1990er Jahre noch gemeinsame Lehrveranstaltungen
durch Eike Gringmuth-Dallmer (Lehrstuhl für Ur- und
Frühgeschichte) und Winfried Schich (Lehrstuhl für
Landesgeschichte) an der Humboldt-Universität zu Berlin, so steht seit der Schliessung der Landesgeschichte
2003 nur noch ein Colloquium zum interdisziplinären
Austausch zu Verfügung, das nun seit 2008 immerhin
als Landesgeschichtliches Forschungscolloquium an der
Landesgeschichtlichen Vereinigung für die Mark Brandenburg e.V. fortgeführt werden kann. Die Schwerpunkte
liegen weiterhin auf den Fachrichtungen Geschichte,
Archäologie und Kunstgeschichte im Zeitraum des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Brandenburgs und
seiner Nachbarn.
1
2
3
4
In diesem Sinn mit unterschiedlicher Betonung: Brather 1993; Brather 1996;
Brather 2005; Brather/Kratzke 2005; Jeute 2005; Jeute 2006a; Jeute 2007a;
Jeute 2007d; Schich 1977; Schich 1980; Schich 1987a und viele andere.
Vgl. dazu Schich 1994; Bulach 2006.
Schich 1977; Schich 1987a; Brather 1993. Gleiches gilt auch für das ländliche
Handwerk, vgl. Jeute 2007a.
Dalitz/Müller 1997; Müller 2008. Für die Stadt Brandenburg sind erfreulicherweise bereits einige Grabungen vorgelegt worden: Biermann/Frey 2000;
Biermann/Riederer/Kloss 2002; Borchert/Müller 1997; Jeute 2007e; Jungklaus 1997; Jungklaus/Dalitz 2006; Müller 1997; Müller/Specht 2002; Niemeyer 2006; Rathert 1997; Schaake 2008.
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Interferenzen bei der Erforschung städtischer Handwerks- und Sozialtopographien
Interferenztraditionen in der Germania
Slavica-Forschung
Interdisziplinäres Arbeiten hat in der Region durchaus
Tradition. So gründete sich 1977 am Friedrich-MeineckeInstitut der Freien Universität Berlin die «Interdisziplinäre
Arbeitsgruppe Germania Slavica» (IAG), deren Ziel es
war, den Prozess des ethnischen Wandels im Rahmen der
hochmittelalterlichen Ostsiedlung im slawisch-deutschen
Kontaktgebiet zu untersuchen.5 Die Fragestellungen an
die anderen Disziplinen, wie Mittelalterarchäologie,6 Ortsnamenforschung, Siedlungsgeographie, Rechtsgeschichte
und Kunstgeschichte, gingen dabei, in Orientierung an
ältere landeskundliche Arbeiten (vor allem Rudolf Kötzschkes und Walter Schlesingers), von der Geschichte aus. Die
wichtigsten Personen der IAG waren neben Wolfgang H.
Fritze und Winfried Schich noch Eberhard Bohm, Felix
Escher, Wolfgang Ribbe und Adriaan von Müller sowie
aus dem Umfeld Anneliese Krenzlin, Heinz Quirin und
Walter Schlesinger. Ebenfalls bestand Kontakt zu Wissenschaftlern aus Polen und der DDR.
Der Begriff «Germania Slavica» war durch Walter
Schlesinger, und mehr noch durch Wolfgang H. Fritze,
als Parallele zur Germania Romana von Theodor Frings
geprägt worden. Räumlich bezeichnete er demnach die im
historischen Sinn ostmitteldeutschen Länder, d. h. Mecklenburg, Pommern, Westpreussen, Brandenburg, SachsenAnhalt, Sachsen und Schlesien. Es handelt sich um jenes
Gebiet, in dem die slawische Bevölkerung sprachlich allmählich germanisiert wurde.7 Im Vordergrund stehen die
räumlichen Neustrukturierungen auf sozialer, wirtschaftlicher, territorialer, religiöser und siedlungstechnischer
Ebene, die letztlich zur sprachlichen Assimilierung geführt
haben. Vorreiter solcher ganzheitlichen Forschungen waren
u. a. der Archivar Franz Engel und der Namenkundler Max
Bathe. Als methodisch wegweisend ist die konsequente
Erstellung und Nutzung von Karten, insbesondere von
Synthesekarten anzusehen.8
Für ihre Forschungen haben die Mitglieder der
IAG, insbesondere aber Winfried Schich bei seinen Untersuchungen zum Havelland und zur Zauche sowie zur Entwicklung des Städtewesens ganz selbstverständlich neben
den historischen Quellen auch onomastische und archäologische herangezogen.9 Eine Eingrenzung erfolgte lediglich durch die damals geringe archäologische Datenbasis.
Die Zahl der archäologischen Baubegleitungen war in den
1970er und 80er Jahren um ein vielfaches geringer als heute,
die personelle und materielle Ausstattung nur schwach und
auch die rechtlichen Möglichkeiten waren sehr begrenzt.
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Man blieb in hohem Masse auf ehrenamtliche Mitarbeit
angewiesen. Die meisten der wenigen publizierten Grabungsergebnisse wurden nur als Vorberichte und zudem
oftmals in abgelegenen Heimatkalendern veröffentlicht. In
den letzten 15 Jahren ist die Datenmenge, insbesondere im
städtischen Bereich, enorm angestiegen (s.o.). Vieles landet
jedoch unbearbeitet in den Magazinen und bleibt somit
vorerst unbekannt.10 Während Befunde noch am ehesten
ihren Weg in die Vorberichte finden, werden einzelne
Funde oder Fundensembles nur selten genannt. Die zahlreichen kleinteiligen Erdaufschlüsse bieten zudem weitere
Probleme. Sie führen oft zu Schlussfolgerungen, die sich
später an anderer Stelle nicht verifizieren lassen. Dies bietet
dem Historiker, der darauf weiterführende Untersuchungen
aufbauen möchte, keine sichere Datenbasis. Weiterhin treten Probleme bei Fragen nach dem Alter der Objekte auf.
Während der Historiker seinen Quellen jahrgenaue Datierungen entnehmen kann, ist dies für den Archäologen nur
selten möglich. Die Möglichkeit der jahrgenauen Datierung mittels Dendrochronologie besteht erst seit wenigen Jahrzehnten und ist zudem abhängig von einer guten
Funderhaltung. Hölzer mit ausreichendem Durchmesser
müssen die Zeit in feuchtem Milieu überdauert haben, was
insbesondere im trockenen märkischen Sand selten vorkommt. Die weit verbreitete Datierungsmöglichkeit – über
keramische Beifunde – schafft eine Genauigkeit von ca. 25
Jahren. Die herkömmliche Betrachtung der Keramik nach
formenkundlichen Aspekten ist mittlerweile einer Analyse
der Warenarten und ihres prozentualen Anteils in unterschiedlichen Phasen gewichen. Damit werden Phasenübergänge automatisch grösser. Sie nähern sich somit zwar
der historischen Realität, lassen sich jedoch schlechter mit
einem konkreten Datum verbinden. Zudem benötigt man
eine grosse Datenmenge und feinstratifiziertes Material,
dass vor allem von kleinen Erdaufschlüssen nicht erbracht
werden kann.
5
6
7
8
9
10
Zu den Zielen und Ergebnissen der IAG vgl. Fritze 1980 (Vorwort) sowie
Schich 2003; allgemein zur Geschichte der Germania Slavica-Forschung und
zur aktuellen Sichtweise Brather/Katzke 2005.
So Schich 2003, 281. Es bleibt allerdings noch zu fragen, ob es eine Mittelalterarchäologie im heutigen Verständnis in den 1970er Jahren in West-Berlin
und der DDR überhaupt gab, ohne dass damit die Leistungen der Archäologen, insbesondere sei hier Adriaan von Müller genannt, in irgendeiner Form
geschmälert würden.
Nach Schich 2003, 273–274, im folgenden auch 277.
Schich 1977; Schich 1987a; ebenso Brather 1993.
So zitiert Schich 1977; Schich 1987a; Schich 1987b; Schich 1987c auch Publikationen der Archäologen Otto Felsberg, Klaus Grebe, Eike GringmuthDallmer, Joachim Herrmann, Günter Mangelsdorf oder Adriaan von Müller.
Beispiele zur Problematik: Dalitz/Müller 1997; Jeute 2006b, 47 Abb. 5; Jeute
2007a, 15–22; Müller 2008.
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Interferenzen bei der Erforschung städtischer Handwerks- und Sozialtopographien
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Abb. 1 Alt- und Neustadt Brandenburg in der Aufnahme von Hedemann 1722/24, Karte gewestet.
Überleitung
Ein Grund für die Beschäftigung mit der Handwerks- und
Sozialtopographie liegt unter anderem darin, dass für die
Untersuchung der ländlichen nichtagrarischen Produktion im Land Brandenburg ein städtischer Vergleich benötigt wurde.11 Da es diesen bislang noch nicht gibt, lag es
nach jahrelanger Beschäftigung mit der Stadtgeschichte
nahe, den Hauptort des westlichen Brandenburgs, die
Stadt Brandenburg an der Havel zu wählen (Abb. 1), wo
zudem seit über 15 Jahren eine exzellente Stadtarchäologie tätig ist. Die Fragestellungen gelten zunächst einmal der Nachweisbarkeit der verschiedenen Handwerke
und Gewerbe sowie ihrer topographischen Verteilung im
Stadtgebiet, denn diese Angaben bieten die schriftlichen
Quellen leider nicht bzw. nur in begrenztem Masse. Weiterhin soll die zeitliche Entwicklung sowie die Beziehung
zu sozialen Aspekten betrachtet werden.
der Havel als slawisches Stammeszentrum der Heveller.13
Das ansässige Fürstengeschlecht dehnte seine Macht bis zur
Oder aus. Die Eroberung der Burg durch König Heinrich I.
im Winter 928/929 und die Einrichtung eines Missionsbistums 948 hatten nicht dauerhaft Bestand, da der Lutizenaufstand 983 die deutsche Herrschaft und das Christentum wieder beseitigte. Erst 1157 kam die Burg durch ein
Erbe erneut und endgültig in deutsche Hände. Der letzte
slawische Herrscher, Pribislaw-Heinrich, war – wie vielleicht
auch schon sein Vorgänger – zum Christentum übergetreten und berief eine Prämonstratensergemeinschaft an die
St. Gotthardkirche im suburbium auf dem der Brandenburg
gegenüberliegenden Ufer. Diese siedelten sich in unmit-
11
12
Abriss der Stadtentwicklung
Zunächst ein kurzer geschichtlicher Überblick zur Entwicklung der Stadt Brandenburg an der Havel.12 Im 9./10. Jahrhundert etablierte sich die Brandenburg auf einer Insel in
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13
Jeute 2005, 160; Jeute 2007a, 95–98, 139–146; Jeute 2007c.
Siehe auch DSB II, 2000; Schich 1993a; Schich 1993b; Tschirch 1928; zur
Entwicklung aus bau- bzw. kunstgeschichtlicher Sicht Bodenschatz/Seifert
1992; Cante 1994.
Zu den ersten Ergebnissen der Grabungen seit den 1960er Jahren siehe Grebe
1991 (mit geschichtlicher Zusammenfassung); eine Aufarbeitung erfolgt jetzt
durch Kerstin Kirsch. Die folgende Darstellung orientiert sich im Wesentlichen an Schich 1993a; Schich 1993b.
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Interferenzen bei der Erforschung städtischer Handwerks- und Sozialtopographien
Abb. 2 Ansicht der Altstadt Brandenburg mit Marienkirche auf dem Berg von 1582.
telbarer Nachbarschaft zu einer Siedlung von Kaufleuten
mit dem Namen Parduín an. Beide Ansiedlungen wurden
später zum Kern der Altstadt Brandenburg. Pribislaw hatte
bereits 1127/30 dem späteren Markgrafen Albrecht dem
Bär die Zauche, einen Landstrich, der unmittelbar südlich
an die Brandenburg anschloss, zum Patengeschenk für dessen Sohn Otto gemacht.
Der Askanier Albrecht wurde 1150 Nachfolger von
Pribislaw und nannte sich ab 1157 marchio Brandenburgensis sowie die Brandenburg das «Haupt der Mark» (1197
caput Marchie). Die Burg wurde jedoch zwischen einem
Burggrafen als Vertreter des Königs, dem Markgrafen und
dem Bischof aufgeteilt. Spätestens 1165 entstand an der
Stelle der Burg auf der Insel (Dominsel) die Domkirche
St. Peter, zu der die Prämonstratenser, seit 1161 zum
Domkapitel erhoben, umzogen. Die vor Ort ansässigen
Slawen wurden teilweise in den Kietzen angesiedelt. Das
Triglawheiligtum auf dem Harlunger Berg (Marienberg)
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war wohl schon unter Pribislaw niedergelegt und vor 1166
durch eine Marienkirche (Abb. 2) ersetzt worden.
Neben den beiden Vorgängersiedlungen der Altstadt entwickelte sich in den 1170er Jahren auf der Neustadtseite das Stutzdorf, eine bäuerliche, deutsche Siedlung, welche, als die Neustadt 1196 erstmals genannt
wurde, wohl bereits durch die grosszügige Stadtplanung
umstrukturiert worden war.
Ab der Mitte des 13. Jahrhunderts waren beide
Städte bereits komplett und mit allen Elementen einer
mittelalterlichen Stadt ausgebildet, d.h. es gab je eine Pfarrkirche, eine Bettelordensniederlassung, ein Spital, eine
Stadtbefestigung, den Markt mit einem Rathaus sowie ab
dem 14. Jahrhundert auch Schulen. Während jedoch die
Altstadt bis in die Neuzeit hinein ein agrarisches Element
behielt, musste die Neustadt nach und nach umliegende
Ackerflächen aufkaufen. Die Stadtgründungen führten
auch zu Veränderungen der Verkehrswege. Ein Damm
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Interferenzen bei der Erforschung städtischer Handwerks- und Sozialtopographien
und eine Brücke wurden errichtet und damit ältere Furten aufgegeben. Durch den Damm konnte einerseits die
gestaute und umgeleitete Wasserkraft für den Betrieb
von Mühlen (1323–24 erstmals erwähnt) genutzt werden, andererseits musste die Havelschiffahrt über einen
Schleusengraben, 1315 als «Flutrinne» erwähnt, um die
Neustadt herum geleitet werden.
Die Markgrafen richteten sich nach ihrem Rückzug
aus der Burg am Rande der Neustadt einen eigenen Hof
(bis 1286) ein, und auch die markgräfliche Münze wurde
verlegt, wovon die platea monetariorum (Münzenstrasse,
1305) zeugt. Mit der geistlichen Dominanz der Dominsel
und dem Verkauf der Kietze an die Städte erhielt Brandenburg seine typische und dauerhafte dreigliedrige Gestalt.
Die Neustadt, doppelt so gross wie die Altstadt, hatte ihre
Konkurrentin im 14. Jahrhundert bereits wirtschaftlich
überflügelt. Für gemeinsame rechtliche Belange wurde
vor 1348 auf der Langen Brücke zwischen beiden Städten das gemeinschaftliche Schöffengremium (Schöppenstuhl bzw. rathus beyder stede) eingerichtet, welches später
gerichtlicher Oberhof für die märkischen Städte und für
alle Gerichte in der Mark Brandenburg wurde.
An der Spitze des städtischen Handwerks und
Gewerbes standen die Viergewerke mit den Bäckern,
Knochenhauern, Schuhmachern und Wollwebern. Ihnen
folgten Schneider, Kürschner, Schuhflicker, Leineweber,
Schmiede, Böttcher und Weissgerber sowie die Weingärtner in der Altstadt.
Neben den Slawen, die in den Kietzen der Fischerei nachgingen, wurden ab 1322 Juden in beiden Städten
genannt, die man nach dem Berliner Hostienschändungsprozess von 1510 für längere Zeit aus der Mark vertrieb.
An ihrem Wohnsitz in der Altstadt errichtete man eine
Fronleichnamskapelle.
Während die Doppelstadt bis zum 19. Jahrhundert
nicht über die Stadtmauern hinaus wuchs, dehnte sich
ihr Weichbild durch die Niederlegung von umliegenden
ländlichen Siedlungen und den Aufkauf von Ackerflächen beträchtlich aus. Die wirtschaftliche Blüte wird auch
durch die Errichtung von Ziegeleien und den Neubau
der Kirchen im 14. Jahrhundert deutlich. Die Diversifizierung der Mühlen führte im 15. Jahrhundert zu Walk-,
Säge und Lohmühlen unmittelbar vor den Toren.
Durch die Nähe zu Wittenberg drang die Reformation sehr früh nach Brandenburg, 1536 in die Neustadt,
1538 in die Altstadt, jedoch erst 1555 in das Domkapitel.
Die Klöster wurden in Armenhäuser und Spitäler umgewandelt, der Weinberg zum städtischen Friedhof. Einzig
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die Wallfahrtskirche auf dem Marienberg blieb, zwar sehr
stark verfallen, den Brandenburgern noch lange und tief
in Erinnerung. So erschien sie stets auf zeitgenössischen
Gemälden, gelegentlich auch in einem besseren Zustand
dargestellt. Erst 1722/23 wurde sie auf königlichem Befehl
hin abgebrochen.
Seit dem 16. Jahrhundert setzte ein wirtschaftlicher
Niedergang ein, der durch den Dreissigjährigen Krieg verstärkt wurde. Hinzu kamen militärische Eingriffe in das
bürgerliche Selbstverständnis, wie die Einrichtung der
kurfürstlichen Garnison, bis hin zur Anordnung der Vereinigung beider Städte durch König Friedrich Wilhelm I.
So tagte ab 1715 der Magistrat der «Kur- und Hauptstadt»
Brandenburg im Rathaus der Neustadt, das Rathaus der
Altstadt wurde in eine Brachentmanufaktur umgewandelt. Der Dombezirk auf der Insel sollte erst 1929 zur
Stadt kommen.
Teile der Stadtbefestigung fielen erst in der ersten
Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ab der Mitte des Jahrhunderts setzte dann eine verstärkte Industrialisierung der
Stadt ein, die bis heute verkehrsgünstig zwischen Berlin
und Magdeburg gelegen ist.
Methodisches Vorgehen
Da die Datenbasis für die Fragestellung zum städtischen
Handwerk und Gewerbe sehr gering ist, muss alles herangezogen werden, was Hinweise auf nichtagrarische Produktion und den sozialen Status der Bewohner bietet.
Somit geraten die Forschungsergebnisse der einzelnen
Disziplinen, wie Geschichte, Archäologie, Bauforschung
und Kunstgeschichte, automatisch in das Blickfeld. Eine
umfangreiche und detaillierte Überlieferung an mittelalterlichen Katastern und Steuerbüchern, wie aus den
Hansestädten und den oberdeutschen Zentren gibt es
für die Stadt Brandenburg a. d. Havel nicht. Somit bleibt
alles ein sehr kleinteiliges Puzzle, das jedoch schon erste
Ergebnisse liefern kann.14
Zunächst wurden historische Arbeiten und schriftliche Quellen herangezogen. Hier gibt es eine sehr gute
Aufarbeitung, vor allem durch den einstigen Stadtarchivar
Otto Tschirch, der zum Jubiläum der Stadt 1928/29 eine
noch heute wichtige Chronik in zwei Bänden vorlegte.
Ergänzt wird dies nun durch Werke von Winfried Schich
14
Der aktuelle Stand der Aufnahme ist das Jahr 2003, später gewonnene Ergebnisse werden zwar gelegentlich berücksichtig, jedoch erst in einer späteren
Runde detailliert aufgenommen.
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116
Interferenzen bei der Erforschung städtischer Handwerks- und Sozialtopographien
sowie die Neubearbeitung des Deutschen Städtebuches.
Neue archäologische Grabungsergebnisse führen zu neuen Interpretationen der historischen Quellen, die wiederum neue archäologische Fragestellungen erbringen.15
Ein interessantes, zeitgenössisches Werk ist ein
Lehrbuch für die Lateinschule aus dem Jahre 1679.16 Hier
wird zwar literarisch, aber durchaus mit wahrem Kern die
Stadt beschrieben und Handwerke im Gebiet zwischen
beiden Städten aufgezählt: «als da sind Weissgerber, Lohgerber, Hartkarter, Fuller, Schwerdtfeger, Kleinschmiede,
Nagelschmied, Circkelschmied, Kupferschmied, KammMacher, Töpfer. Überdem ... ein Bortenwickler und
Koch, welcher zugleich Torten- und Pasteten-Bäcker ist.»
Archäologische Hinweise aus diesem Stadtteil fehlen bislang leider noch, jedoch sollte der Band einmal systematisch ausgewertet werden. Der Autor, Joachim Fromme
(1640–1690), war Rektor der Neustädtischen Schule und
wandte sich mit seiner Publikation gleichermassen der
Heimatkunde der eigenen Stadt wie auch der Vermittlung der lateinischen Sprache zu. In seinem Buch zeigt
ein Schüler einem Ortsfremden Sehenswürdigkeiten und
Bauwerke der Stadt und spricht über Mode, Sitten und
Gebräuche. Die Neuherausgabe des Werkes über 50 Jahre später durch Caspar Gottschling wurde zudem mit
Anmerkungen zur barocken Stadterneuerung versehen.
Für die Untersuchung ebenso herangezogen
werden müssen die Regesten des Domkapitels bzw. des
Domstiftes,17 das ja auch Beziehungen zu beiden Städten
pflegte, die jedoch nur sehr verstreut in den Urkunden
vorhanden sind. So werden Warenlieferungen von Handwerken aus der Doppelstadt, aber auch von ausserhalb
erwähnt. Es finden sich Abrechnungen mit Gerüstmachern, Zinngiessern und Ziegelbrennern. In allen Fällen
fehlen leider die – aus archäologischer Sicht wichtigen –
topographischen Angaben. Beispielsweise werden für die
Jahre 1347, 1358 und 1372 Salzeinfuhren über den Zoll
der Neustadt erwähnt, und das, obwohl dieser bereits
seit dem 12. Jahrhundert über Parduín bzw. die Altstadt
erfolgte, wo sich auch ein Salzhaus (heute Strasse Am
Salzhof) befand.18 Weiterhin wird ein Tabernakelschreiner erwähnt, der im Auftrag des Domkapitels arbeitete,
jedoch bleibt fraglich, ob dieser aus Brandenburg kam
oder von ausserhalb. Nicht nur die Quellen selbst, sondern auch ihre Unterzeichner geben interessante Aufschlüsse. Als das älteste steinerne Gebäude in der Stadt
wurde bislang die Überlieferung eines «Ghiso ut dem
Steenhuse» aus dem Jahre 1342 angesehen. Es handelte sich dabei wohl um das sogenannte Ordonnanzhaus
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neben dem Altstädtischen Rathaus (Abb. 5/10). Die Sichtung der Regesten zeigen nun für das Jahr 1316 einen
«Nikolaus und dessen Sohn aus dem Steinhaus». Vier
Jahre später wird die Unterschrift präzisiert durch den
Eintrag «Bürger aus der Neustadt Brandenburg». Welches
Gebäude damit gemeint ist, vielleicht ein frühgotisches
Haus (Abb. 5/11) im Zentrum der Stadt am Katharinenkirchplatz, bleibt fraglich. Auch wenn sich damit die früheste Existenz von privaten steinernen Gebäuden in der
Stadt um eine Generation zurück verschiebt, so bleiben
diese doch Ausnahmen bis in die Frühe Neuzeit.
Eine deutlichere Interferenz gibt es bei einem
anderen Beispiel. Eine glasierte Marienkachel wurde
durch Klaus Grebe am Rande der Neustadt aus einem
Töpfereiabfall geborgen. Ein identisches, jedoch unglasiertes Stück stammt aus Wiesenburg am Flämingrand.
Diese über ca. 30 km laufenden Beziehungen werden in
umgekehrter Weise durch schriftliche Quellen gestützt.
So erhielt am 19. Juli 1529 der Küchenmeister Joachim
Rone vom Domstift 1 1/2 Gulden für den Kauf von Töpfen in Wiesenburg. Bereits 1488 erscheinen in den Rechnungsbüchern wöchentliche Ausgaben für Töpfe.19
Wichtige Grundlagen für topographische Fragen
sind stets Altkarten, Kataster und Register. Als ältester
detaillierter Stadtplan ist die sehr genaue Karte von Christoph Gottlieb Hedemann aus dem Jahre 1722 zu nennen (Abb. 1).20 Zur Berechnung der steuerlichen Abgaben erstellt verzeichnet sie öffentliche Gebäude sowie
private Grundstücke, einschliesslich der an ihnen haftenden Brauereigerechtigkeit. Der zugehörige Katasterband listet zwar verschiedene Angaben, wie den Namen
des Besitzers oder die Steuerhöhe auf, leider jedoch keine Berufe.
15
16
17
18
19
20
Tschirch 1928; eine Darstellung der Stadtgeschichte u. a. auch in der Einleitung zu Eichholz 1912. Die jüngeren Darstellungen insbesondere bei Schich
1993a; Schich 1993b; DSB II, 2000. Zu den Diskussionen wischen Archäologen und Landeshistorikern beispielsweise Dalitz/Müller 1997; Schich 1997.
Ebenso intensiv am Dialog beteiligt ist Helmut Assing.
Nach Bodenschatz/Seifert 1992, 84–87, hier 86.
Regesten I, 1998; der zweite Teil ist derzeit im Druck.
Regesten I, 1998, 7, 133, 149, 207; Jeute 2007a, 62 mit Lit.
Zu den Steinhäusern: Eichholz 1912, 179; Regesten I, 1998, 94-101; zur Marienkachel: Jeute 2007a, 78 Anm. 5 sowie 77 Abb. 26.
Hedemannplan 1722/24. Die Karte hat erfreulicherweise 1995 einen massstäblich vergrösserten Nachdruck erfahren und liegt seit 1998 auch in digitaler
Form vor (vgl. Petsch 1998). Mittlerweile ist eine ältere Karte bekannt geworden, die im Zuge des Dreissigjährigen Krieges 1631 in Schweden entstand.
Sie wird demnächst durch Joachim Müller u. a. ausgewertet. Dargestellt ist
vor allem der Befestigungsring, dagegen fehlen Strassen und Parzellen weitgehend. Verschiedene dargestellte Festungswerke, die im Stadtbild bislang nicht
erkannt werden konnten, deuten darauf hin, dass hier weniger der Ist-Zustand, als vielmehr ein Planungsstadium für eine Festung dargestellt wurde.
14.11.2009 14:54:21 Uhr
Interferenzen bei der Erforschung städtischer Handwerks- und Sozialtopographien
117
Abb. 3 Ausschnitte aus dem Bürgerverzeichnis der Altstadt Brandenburg von 1656.
Im Wesentlichen nur Namen bietet ein Verzeichnis
aus dem Jahre 1656 (Abb. 3). Einige interessante Spalten
nennen aber auch Personen, die aufgrund ihres hohen
Alters nicht mehr aus der Stadt fort können oder krank und
gebrechlich sind. Vielfältige Möglichkeiten der Auswertung bietet das Adressbuch von 1806, in dem nun erstmals
Handwerker und Berufe verzeichnet sind. Für eine Rückschreibung ins Mittelalter ist allerdings Vorsicht geboten. Zu
schnell änderten sich in der Vergangenheit die Wohnsitze
der Handwerker. Auch die Fortführung eines Geschäftes
durch die Familie war nicht immer gegeben. Es wird für die
Kartierung der Angaben aus dem Adressbuch auch vorausgesetzt, dass die Nummerierung der Grundstücke der des
erwähnten Hedemannplanes entspricht. Tatsächlich wurde
eine strassenweise Nummerierung in Brandenburg erst am
Ende des 19. Jahrhunderts vorgenommen.21
Sehr gut erkennbar wird durch das Adressbuch der
hohe Anteil von 15 % an Ackerbürgern in der Altstadt
Buch SKAM 36.indd 117
(Abb. 4). Das entspricht den Werten mittlerer und kleinerer
märkischer Städte, obwohl Brandenburg a. d. Havel insgesamt zu diesem Zeitpunkt noch als Grossstadt gerechnet
werden kann. Als ein weiteres Beispiel sei hier auf die Textilberufe verwiesen. Sie waren vor allem in der Neustadt
eher randständig angesiedelt. Besonders interessant ist die
Kartierung, der als «Schutzjuden» bezeichneten jüdischen
Einwohner. Sie sind im gesamten Stadtgebiet, vorrangig im
Zentrum bzw. an den Hauptstrasse zu finden (Abb. 4). Eine
Ghetto-Bildung ist nicht zu erkennen. In der als Judengasse
bezeichneten Strasse im Norden der Neustadt sind sie nicht
oder nicht mehr ansässig. Erst 50 Jahre später wird hier eine
Mikwe erwähnt.
Bislang wenig ausgewertet, da oft ungenau sind
zeitgenössische Gemälde und Zeichnungen. Ausgerech-
21
Bürger Rolla 1656; Adress-Buch 1806.
14.11.2009 14:54:22 Uhr
118
Interferenzen bei der Erforschung städtischer Handwerks- und Sozialtopographien
Abb. 4 Sozialtopographie von Alt- und Neustadt Brandenburg.
net die älteste Stadtansicht aus dem Jahr 1582, ist nach
neuen baukundlichen und archäologischen Erkenntnissen besonders detailgetreu (Abb. 2).22 Die Ansicht wurde
von der Pfarrkirche der Altstadt (St. Gotthardt) aus aufgenommen, zeigt Teile der Altstadt mit Pfarrhaus und
Pfarrgarten sowie den Marienberg mit der St. Marienkirche. Bislang nahm man an, dass es sich beim dargestellten Turm auf der linken Seite um den Plauer Torturm am
Ortsausgang nach Magdeburg handelte. Die Darstellung
wäre somit stark verzerrt gewesen und der Turm hätte
einen Aufbau, der sich baukundlich nicht bestätigen lässt.
Bei Baubegleitungen entlang der Kommunikationsstrasse
Buch SKAM 36.indd 118
der ehemaligen Stadtmauer stiess man jedoch auf Fundamentreste, die diesem – bislang unbekannten – Turm
zuzuweisen sind. Bestätigung findet die Zeichnung auch
in dem grossen Gebäude zwischen den beiden Türmen.23
Der Dachstuhl wurde bei der Sanierung ebenfalls baukundlich untersucht und auch hier liess sich der seltsame,
22
23
Tschirch 1928, Frontispiz; Die Abbildung stammt aus einer Chronik von Zacharias Garcaeus, dem damaligen Stadtschreiber der Altstadt Brandenburg.
Müller 2006, 103–105. Es handelt sich um ein grosses Giebelhaus als Kernbau mit flankierenden, strassenseitigen Flügelbauten sowie einem rückwärtigen Zwischenbau. Die linke Dachhälfte stammt aus dem Jahre 1512, die
rechte aus der Zeit nach 1379/d.
14.11.2009 14:54:23 Uhr
Interferenzen bei der Erforschung städtischer Handwerks- und Sozialtopographien
119
Abb. 5 Markante Gebäude der Stadt Brandenburg, 1–4: Kirchen, 5–6: Rathäuser, 7–8: Schulen, 9–12: Bürgerhäuser, alle im selben Massstab.
Buch SKAM 36.indd 119
14.11.2009 14:54:25 Uhr
120
Interferenzen bei der Erforschung städtischer Handwerks- und Sozialtopographien
Archäologische Ausgrabungen
Abb. 6 Ausgrabung Brandenburg-Altstadt, Ritterstraße 100, Arbeitsstelle eines urkundlich belegten Nagelschmiedes, Mitte 19. Jahrhundert.
zur Strasse giebelständige Mittelteil bestätigen.Einige der
Fachwerkhäuser im Vordergrund, wie zum Beispiel das
Schulhaus der Altstadt (Abb. 2, linker Rand, vgl. auch
Abb. 5/8) stehen noch heute.
Bauforschung
Eine Reihe von Gebäuden konnte bislang baukundlich
untersucht werden. Die ältere kunst- und bauhistorische
Forschung hat sich auf die Kirchenbauten (Abb. 5/1–4)
konzentriert, was bei der Vielzahl an Kirchen in der mittelalterlichen Stadt Bandenburg verständlich ist. Von
den einst acht Kirchen stehen heute noch sieben, welche
damit «die grösste und geschlossenste Kirchenlandschaft
aller märkischen Städte» bilden.24 Zudem stellen sie wichtige Zeugnisse für die frühe Siedlungsentwicklung dar,
da sie fast nie an andere Ort verlegt wurden und in den
historischen Quellen immer greifbar sind. Ein weiterer
Aufschwung in der Bauforschung setzte aber vor allem in
den letzten Jahren durch den verstärkten Sanierungsbedarf sowie den Einsatz der Dendrochronologie ein.25
Mittlerweile sind durch entsprechende Baumassnahmen zahlreiche baukundliche Untersuchungen auch
an Bürgerhäusern (Abb. 5/5–12) vorgenommen worden.
Diese lassen sich korrelieren und ergänzen mit den wenigen schriftlichen Nachrichten, wie über den erwähnten
Gido oder Nikolaus und dessen Sohn aus dem neustädtischen Steinhaus. Das Altstädtische Rathaus (Abb. 5/5)
und das benachbarte Ordonnanzhaus (Abb. 5/10) sind
inzwischen aufwendig saniert worden, andere Gebäude,
wie das Neustädtische Rathaus (Abb. 5/6) oder private
Häuser im Zentrum (Abb. 5/9 und 11) stehen nicht
mehr und lassen sich heute nur noch über Ausgrabungen
wiederentdecken. Für das aufgehende Mauerwerk sind
dann die älteren kunstgeschichtlichen Beschreibungen
besonders wertvoll.
Buch SKAM 36.indd 120
Andere Gebäude und ihre Bauweisen sind durch archäologische Grabungen bekannt geworden. Aus der Phase
der ersten Stadterweiterung der Altstadt stammt ein bäuerliches Hallenhaus in der Plauer Strasse. In der Altstädtischen Fischerstrasse wurden erstmals parzellenübergreifende Untersuchungen möglich. Während dort in der
Anfangsphase der Besiedlung im 13. Jahrhundert noch
zwei gleichrangige Gebäude standen, rückten beide Parzellen in der Folgezeit stärker zusammen, und zu einem
Haupthaus gesellte sich ein deutlich kleineres Nebenhaus.26 Für die meisten Gebäude in der Stadt ist bis weit
in die Frühe Neuzeit ein Lehmfachwerk anzunehmen.
Angeziegelter Lehmbewurf weist archäologisch ebenfalls
darauf hin.27
Die Zahl der archäologischen Untersuchungen
im Stadtkern ist wie erwähnt bereits stark angestiegen.
Im Wesentlichen ist jeder Stadtteil erfasst. Jedoch handelt es sich bekanntlich vorrangig um Baubegleitungen
oder Bauvorbereitungen, bei denen Umfang und wissenschaftliche Fragestellungen durch die Baumassnahmen
vorgegeben werden. Sehr viele Untersuchungen fanden
lediglich im Strassen- und Vorderhausbereich statt. Es
fehlen jedoch die Höfe und weitere grundstücksübergreifende Massnahmen.
Als bislang grössten Flächen sind vor einigen Jahren der Markt der Neustadt sowie jüngst mehrere daran
anschliessende Parzellen komplett ausgegraben worden. Derzeit erfolgt eine Auswertung der Grabung vom
Neustädtischen Markt.28 Es zeigt sich bereits, dass das
Fundspektrum eher einfach und ohne übermässig viele
herausragende ratsherrliche Objekte ist.
Erstmals wurden nun auch von universitärer Seite
Grabungen im Stadtkern vorgenommen. In einer Forschungs- und Lehrgrabung der Humboldt-Universität zu
Berlin sind in der Ritterstrasse 100 in den Jahren 2006
und 2008 sowohl Vorderhaus-, als auch Hofbereich gegraben worden. Für das Mittelalter zeigt sich eine einfache
Bebauung der Parzelle, welche nach dem Hedemannplan
24
25
26
27
28
Müller 2007, 62; ebenso Schich 1994/1995, 65, demnach Brandenburg im
Mittelalter rein äusserlich das Bild einer Bischofsstadt bot.
Grundlegend zur Baugeschichte: Eichholz 1912; moderne Untersuchungen:
Bodenschatz/Seifert 1992; Cante 1994; Kurze 1993; Müller 1999/2000; Müller 2003; Müller 2006; Müller 2007; Nolte 1993.
Müller 1999/2000; Müller/Specht 2002.
Müller 1999/2000; Jeute 2007b; Jeute 2007e.
Die Aufarbeitung der Befunde erfolgt durch den Ausgräber Wolfgang Niemeyer, die Bearbeitung der mittelalterlichen Keramik und Kleinfunde durch
Katrin Frey und Felix Biermann, der neuzeitlichen Funde durch Gerson H.
Jeute sowie der Tierknochen durch Peggy Morgenstern.
14.11.2009 14:54:25 Uhr
Interferenzen bei der Erforschung städtischer Handwerks- und Sozialtopographien
121
von einem grossen Eckgrundstück abgetrennt wurde und
dabei ihre Brauereigerechtigkeit verlor. Das Fehlen jeglicher frühneuzeitlicher Befunde deutet auf ein mehrfach beobachtetes Abplanieren von Siedlungsschichten
in jüngerer Zeit. Vermutlich wurde das Material für den
Bau von Dämmen u. ä. verwendet. Im Hofbereich der
Parzelle Ritterstrasse 100 fanden sich erst wieder Handwerksspuren des 19. Jahrhunderts (Abb. 6).
Handwerks- und sozialtopographische
Nachweise
Das mittelalterliche Handwerk in der Stadt verteilt sich
folgendermassen (Abb. 9): Im Hochmittelalter finden wir
einige technische Gruben und Buntmetallverarbeitung
im Bereich der Siedlung Parduín, der erwähnten Vorgängersiedlung der Altstadt. Aus dem Bereich der Neustadt
liegen bislang keine Nachweise vor. Für das Spätmittelalter haben wir eine gleichmässige Verteilung sowohl in der
Altstadt als auch in der Neustadt. In der Frühen Neuzeit
ändert sich das Bild. Während in der Altstadt auch weiterhin das Handwerk in allen Teilen verbreitet ist, sich sogar
Eisen- und Buntmetallverarbeitung an zentralen Plätzen
findet, ist das Handwerk in der Neustadt stärker im Randbereich zu finden. Der Kern der Neustadt muss demnach
eher von den finanzkräftigen Kaufleuten bewohnt gewesen sein.
Archäologisch schwer nachzuweisen sind Gastwirtschaften und Brauereien. Die schriftliche Überlieferung dazu setzte erst spät ein. 1325 erhielten die Bürger
der Neustadt das Braumonopol im Umkreis von drei
Meilen. In der Altstadt entstand vermutlich aus der Tradition des Reihebrauens heraus im Jahre 1473 eine Brauergilde. Die Braugerechtigkeit ist wie erwähnt auf dem
Hedemannplan von 1722 verzeichnet. An einigen Stellen
in der Stadt deuten spezielle Feuerstellen auf Standorte
von Braupfannen (Altstädtischer Markt), ebenso wie Darren (Wallstrasse) mit grossen Mengen an Getreide (Abb.
7/1 und 2). Ob die Nutzung jedoch für den Eigenbedarf
oder für ein Gewerbe erfolgte, lässt sich gerade vor dem
Hintergrund der Tradition des Reihebrauens nicht mehr
nachweisen.
Archäologische Hinweise auf Gastwirtschaften
können auch charakteristische Fundzusammensetzungen
geben. Aus der Lindenstrasse in der Neustadt stammen
zahlreiche Wasserflaschen des 18. Jahrhunderts sowie
Pfannen, Deckel und das Fragment einer Wärmeschale.29 Leider sind bislang kaum frühneuzeitliche Inventare
bekannt, so dass ein Vergleich noch schwerfällt. Andere
Buch SKAM 36.indd 121
Abb. 7 Handwerks- und Gewerbenachweise aus der Stadt Brandenburg, 1–2: Brauereigewerbe, 3: Eisengewinnung/-verarbeitung, 4–6:
Buntmetallverarbeitung, 7–8: technische Anlagen, 9: Horngewinnung,
10: Knochenverarbeitung, ohne Maßstab.
Hinweise kann die Bauforschung durch spezielle Kellergewölbe und rampenartige Kellerzugänge erbringen, wie
sie aus zentralen Bereichen beider Städte bekannt sind,
beispielsweise aus der Plauer Strasse 11–12 (Abb. 8).
Dort wurden unmittelbar an der Strasse liegende, flach
gedeckte Kellerräume freigelegt, die mit zahlreichen
Wandnischen sowie Fenstern und einer Treppe zur Strasse ausgestattet waren. Eine weitere Tür führte ins Innere des Hauses. Die gesamte Anlage wird als Kauf- oder
Schenkkeller des 16. Jahrhunderts gedeutet.30
Die Metallverarbeitung lässt sich archäologisch am
häufigsten durch Schlackenfunde nachweisen (Abb. 9).
Die früheste schriftliche Erwähnung von Schmieden kennen wir aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Drei
29
30
Jeute im Druck.
Müller 2006, 101–102; Niemeyer 2006, 195–200.
14.11.2009 14:54:26 Uhr
122
Interferenzen bei der Erforschung städtischer Handwerks- und Sozialtopographien
Abb. 8 Ausgrabung Brandenburg-Altstadt, Plauer Straße 11/12, Rekonstruktion einer Kelleranlage.
Schmiedemeister pfändeten ihre Werkstätten, wobei auch
Arbeitsgeräte genannt wurden, wie ein grosser Amboss,
grosse Speerhaken und Nageleisen, zwei Blasebälge,
Hämmer und Zangen.31
In der Plauer Strasse, d. h. an zentraler Stelle in der
Altstadt, wurden über 25 kg Schlacke gefunden, darunter Schmiedeschlacken, aber auch Verhüttungsschlacken
(Abb. 7/3). Dies scheint für die Innenstadt ungewöhnlich, jedoch war für den Schmied der Verdienst an einer
Ausfallstrasse sicherlich besser als in einer Sackgasse.
Schmiedeessen lassen sich bekanntlich archäologisch nur schwer nachweisen, da sie als Hochessen nach
ihrer Auflassung schnell wieder abgebaut wurden. Mittelalterliche Hinweise gibt es jetzt aus der Ritterstrasse 96
in der Altstadt. Aus der Neustadt ist eine gasbetriebene
Schmiede des 19. Jahrhunderts bekannt. Ihr Fundort an
einer Ausfallstrasse korrespondiert mit dem Standort
eines Postgebäudes in dieser Zeit32 Es ist also denkbar,
dass hier die Postpferde neu behuft und Postwagen für
ihren weiteren Weg repariert wurden.
Die Verteilung der Schlackenfunde in beiden Städten zeigt eine Vielzahl an Fundplätzen (Abb. 9), so dass
nicht anzunehmen ist, dass es sich stets um den Standort
einer Schmiede gehandelt hat. Wahrscheinlicher sind hier
Bau- und Reparaturarbeiten an Häusern und anderen
Einrichtungen, bei denen Schlacken anfielen. Ethnogra-
Buch SKAM 36.indd 122
phische Parallelen zeigen, wie schwierig der Nachweis solcher, meist sehr einfachen Eisenverarbeitungsplätze sein
kann. Die flachen Arbeitsgruben erhalten sich vor allem
im Strassenbereich nicht lange. Zudem sind vor allem
in der Neuzeit durch umfangreiche Erdbewegungen für
Aufschüttungen und Strassenbefestigungen zahlreiche
Schlacken verlagert worden.
Zu den wichtigen Nachweisen der Buntmetallverarbeitung gehört ein Fundkomplex aus der Münzenstrasse in der Neustadt. Möglicherweise ist er sogar mit
der markgräfliche Münze von 1305 in Verbindung zu
bringen. Neben graphittongemagerten Fragmenten von
Schmelztiegeln gibt es wenige Schlacken, vor allem aber
Buntmetallschrott unter den Funden.
Am Beispiel der Pauliner Strasse zeigt sich auch,
wie kleinräumig oftmals die Erdaufschlüsse bei archäologischen Baubegleitungen sind und wie stark der Nachweis
von Handwerk dem Zufall überlassen ist. Neben einem
Tiegelfragment deuten Feuerstellen auf die Buntmetallverarbeitung (Abb. 7/4 und 7). An vielen Stellen wurden
lediglich Feuerstellen und technische Öfen gefunden, die
multifunktional waren (Abb. 7/7 und 8). Ohne aussagekräftige Beifunde, wie Gussformen oder Produktionsabfall bleibt eine konkrete Ansprache meist fraglich. Auf
dem Markt der Altstadt wurde eine Buntmetallschmelze
ergraben, die in das 16./17. Jahrhundert datiert.33 Zu dieser Einrichtung, die durch Rauch und Lärm die Lebensqualität in der Stadt sicherlich eingeschränkt hat, gibt es
Parallelen aus anderen mittleren und kleineren brandenburgischen Städten. Baukundlich in das Jahr 1380 datiert
ist eine Gussform mit anhaftenden grünlichen Partikeln
(Abb. 7/6). Sie stammt aus einem Gerüstloch des Rathenower Torturmes und diente nach Deutung der Finder
vermutlich dem Guss von Kanonenkugeln.34
Nur wenige Hinweise gibt es zur Knochen- und
Geweihverarbeitung. Ein Fund aus dem Brückenbereich
über die Havel lässt vermuten, dass sich die Werkstatt
oberhalb des Überganges auf der Altstadtseite befand.
Andere Nachweise sind oftmals einzelne Funde, so auch
Knochenfragmente, aus denen Knöpfe oder Paternosterperlen gearbeitet wurden (Abb. 7/10). Von einer Massenproduktion kann also nicht die Rede sein. An einem Fragment
aus der Neustadt lässt sich sehr gut die Herstellungsweise
31
32
33
34
Schulz 1993, 179.
Freundl. Mitt. J. Müller/Brandenburg (zur Ritterstrasse) und R. Bräunig/Berlin (zur St. Annenstrasse).
Jeute 2007a, 144 mit Lit.
Holst/Holst 1997/98.
14.11.2009 14:54:26 Uhr
Interferenzen bei der Erforschung städtischer Handwerks- und Sozialtopographien
123
Abb. 9 Handwerkstopographie von Alt- und Neustadt Brandenburg.
erkennen. So wurde der Knopf offenbar von beiden Seiten
herausgebohrt bis ein Steg in der Mitte stehen blieb.
Eine Besonderheit ist der Fund zahlreicher Hornzapfen, darunter solche von Schaf und Ziege sowie von
jungen Rindern. Man würde dabei vermutlich zunächst
an eine Gerberei denken. Schnittspuren an den Hornzapfen (Abb. 7/9) lassen jedoch erkennen, dass hier das Horn
gewonnen wurde, welches wohl sehr leicht mit einem Messer vom Zapfen getrennt werden kann. Der Fundplatz in
der Strasse Am Temnitz liegt in unmittelbarer Nähe zum
markgräflichen Hof des 13. Jahrhunderts, der später zu
einem Dominikanerkloster umgewandelt wurde.
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Während Glasproduktionsnachweise völlig fehlen, gibt es wenige Hinweise auf Töpfereien. Die bislang
einzige im Stadtgebiet erkannte Ofenanlage befand sich
unmittelbar an der Stadtmauer und wurde auf den überplanierten Resten der alten Stadtbefestigung errichtet. Sonstige
Nachweise liefern Töpfereiabfälle. Aus der Frühen Neuzeit
stammt die heimische Produktion von helltoniger, bleiglasierter Irdenware, für die man bislang einen Import angenommen hat, und aus dem 19. Jahrhundert liegen Funde
einer unglasierten Graukeramikproduktion vor, wie sie bislang aus Polen und Ungarn bekannt ist. Alle Befunde liegen im Randbereich der Neustadt, jedoch sind an den ent-
14.11.2009 14:54:27 Uhr
124
Interferenzen bei der Erforschung städtischer Handwerks- und Sozialtopographien
Abb. 10 Städtisches Handwerk und Gewerbe in Brandenburg.
sprechenden Stellen in der Stadtmauer keine (ehemaligen)
Öffnungen zu erkennen. Somit scheidet die Wassernähe als
Grund für eine Anlage am entsprechenden Ort eher aus.
Der Handel mit Produkten lässt sich ebenfalls
archäologisch belegen, wie am Beispiel der identischen
Marienkacheln aus der Neustadt und aus Wiesenburg
gezeigt wurde. Seltener sind herausragende Objekte, wie
eine Limoger Schnalle aus der Mühlentorstrasse, die über
verschiedene Wege in die Stadt gekommen sein kann.35
Ausblick
Als vorläufiges Fazit lässt sich sagen, dass jetzt eine Reihe
Handwerke und sozialer Gliederungsmöglichkeiten aus
der Stadt Brandenburg vorliegen, die differenzierte Aussagen zulassen, wenngleich es für eine im Mittelalter grosse
Stadt noch zuwenig Nachweise sind. Die Viergewerke und
wichtigen Innungen, wie Bäcker, Fleischer, Schuster und
Schneider lassen sich bislang archäologisch nicht belegen.
Wichtig ist nun auch ein Vergleich mit anderen Städten
in der Region, wie beispielsweise Prenzlau oder Cottbus
sowie darüber hinaus (Abb. 10).
35
Buch SKAM 36.indd 124
Grebe/Mangelsdorf 1983.
14.11.2009 14:54:28 Uhr
Interferenzen bei der Erforschung städtischer Handwerks- und Sozialtopographien
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14.11.2009 14:54:28 Uhr
126
Interferenzen bei der Erforschung städtischer Handwerks- und Sozialtopographien
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Tschirch 1928 – Otto Tschirch, Geschichte der Chur- und Hauptstadt Brandenburg an der Havel. Festschrift zur Tausendjahrfeier der Stadt 1928/29, Brandenburg a. d. Havel 1928.
Abbildungsnachweis
1 Hedemann 1722/24
2 Tschirch 1928 (Frontispiz)
3 Bürger Rolla 1656 (GStA)
4, 9, 10 Karte: G. H. Jeute
5 Eichholz 1912
6 Foto: G. H. Jeute
7 Fotos: G. H. Jeute, J. Müller; Zeichnungen: G. H. Jeute, S. Dalitz
8 Niemeyer 2006, 197, Abb. 27
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Form und Funktion
127
Clemens Joos und Frank Löbbecke
Form und Funktion
Historische und bauarchäologische Untersuchungen zum Münsterchor
in Freiburg im Breisgau
Das Münster «Unserer Lieben Frau» in Freiburg im Breisgau ist ein gutes Beispiel dafür, dass das Zusammenspiel
verschiedener historischer Disziplinen befruchtend, ja
sogar unerlässlich sein kann. Denn die Bau- und Nutzungsgeschichte des Münsters wäre ohne Zusammenschau der archivalischen und baulichen Überlieferung
nicht nachvollziehbar, da einerseits für zahlreiche Fragen
Schriftquellen gar nicht zur Verfügung stehen und andererseits die funktionale Bedeutung baulicher Gegebenheiten oft nicht auf den ersten Blick erkennbar ist. Am
Beispiel der Funktion und Form des Münsterchors soll
dies im Folgenden aus historischer und baugeschichtlicher
Perspektive erläutert werden.
I.
Das Freiburger Münster1 war im Mittelalter Pfarrkirche,
herrschaftliche Eigenkirche, «Bürgerkirche» und schliesslich, seit 1456/1464 auch Universitätskirche – aber keine
Kathedrale. Der Chor war Bestattungsort, Ort für Gericht
und Rechtsgeschäfte und selbstverständlich Ort der Liturgie. Seit dem letzten Drittel des 13. Jahrhunderts nahm
sich die Bürgerschaft zunehmend des Unterhalts und
der Ausgestaltung des Münsters durch die Stiftung von
Ausstattungsstücken und Kaplaneien an. Dies führte im
Verlauf des Spätmittelalters zu einer langsamen «Kommunalisierung»2 der Kirche als Gebäude und Institution.
Ein Betrachter, der um 1450 vom Langhaus nach Osten
geblickt hätte, hätte ein Meer von Altären, Ewig LichtAmpeln,3 Zunftkerzen und Grabplatten überblickt.
Infolge dieser Entwicklung besteht über das Freiburger Münster seit dem Spätmittelalter eine gute archivalische Überlieferung. Sie umfasst Gedenkbücher (Jahrzeitbuch/Anniversarien), pragmatische Schriftlichkeit
(Urbarien, Rechnungen) sowie Urkunden und Akten, die
bis jetzt allerdings nur unzureichend erschlossen sind.4
Im Lauf der Zeit nimmt die Quellendichte beständig zu.
Anderseits schweigen die Quellen auch zu wesentlichen
Fragen, die den Zeitgenossen nicht überlieferungswürdig
erschienen oder keiner schriftlichen Regelung bedurften.
Vor allem über die Anfänge des Münsters sind Schrift-
Buch SKAM 36.indd 127
quellen rar. Gerade einmal zwei Erwähnungen charakterisieren den ersten Bau, das «konradinische» Münster, als
aecclesia (1146)5 und oratorium (1186).6 Am Anfang des
«bertoldinischen» Münsters, dem spätromanischen Neubau der Pfarrkirche zu Beginn des 13. Jahrhunderts (Bau
II), steht die Nachricht, der letzte Herzog von Zähringen
Bertold V. sei 1218 hier beigesetzt worden. Sie ist erst
verhältnismässig spät, aber aus gut informierter Quelle
bezeugt.7 Die Wahl des Begräbnisorts ist dem Historiker
ein wertvoller Hinweis auf das herrschaftliche Selbstverständnis und die Nähe eines Herrschers zu einer Institution, ganz besonders, wenn sich damit der Bruch mit
einer Tradition verbindet. Denn das Erbbegräbnis der
Zähringer hatte sich bis dahin im Kloster St. Peter auf
dem Schwarzwald befunden. Die Entfremdung des Herzogs von dem Kloster zeichnete sich indes schon länger
ab: Keine Schenkung und kein einziges Privileg von ihm
sind für St. Peter überliefert, während er Stadt und Burg
Freiburg zunehmend als Herrschaftszentrum ausbaute.8
Der Übergang vom Kloster zur Kirche als Begräbnisort
ist ein frühes Beispiel für einen Verlagerungsprozess, der
beim Adel in späteren Jahrhunderten häufig zu beobachten ist.9 Die Markgrafen von Baden verlegten beispielsweise seit 1391 ihre Grablege vom Zisterzienserinnenkloster Lichtenthal in die Stadtkirche Baden-Baden, die 1453
zur Stiftskirche aufgewertet wurde.10 Was für das Kloster
eine Krise bedeutete,11 dürfte den Neubau des Freibur-
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
Becksmann/Kobler/Kurmann 1996; Schadek 1990; Müller 1970; Stutz 1901.
Zum Begriff: Blickle 1985, bes. 97; Lorenz 2008, 200f.
Albert 1908.
Im Stadtarchiv Freiburg und Erzbischöflichen Archiv Freiburg, Depositum
Münsterarchiv. Die wichtigsten Dokumente bis zum Jahr 1500 sind erschlossen in den URM, Auszüge aus den Münsterrechnungen sind (allerdings nicht
frei von Lesefehlern) gedruckt bei Flum 2001, 132–158, das Jahrzeitbuch ist
ediert von Butz 1983, Teil B.
URM Nr. 2 (1146 Dez 3–4, o.O.).
Blattmann 1991, Bd. 2, 536 Art. 2, vgl. Bd. 1, 193f., 326; Weber u.a. 1969, 164.
Weber u.a. 1969, 169, vgl. zum Verfasser XLI–XLVI; Nachweis der seither
erschienenen Literatur bei Krimm 2007.
Zotz 2001, 77f.
Spieß 2000, 100–107.
Schwarzmaier 1995; Schwarzmaier 2005, 115f.
Zettler 2001, 125–128; Butz 2002, 45f.
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128
ger Münsters um 1200 erst eigentlich veranlasst haben.
An den Vorbildern von Strassburg und Basel, dem alten
territorialpolitischen Konkurrenten im Breisgau,12 orientiert, dokumentierte der Herzog mit dem Kirchenbau
seine herrschaftlichen Ambitionen am Oberrhein. Über
Baubeginn und -fortschritt schweigen die Schriftquellen allerdings; und so ist auf dieser Grundlage auch die
Frage kaum zu beantworten, wie weit der Bau vorangekommen war, als der Herzog 1218 kinderlos verstarb. 13
Erst aus dem Jahr 1503 stammt eine zuverlässige Lokalisierung des Herzogsgrabs zu Freiburg im Breisgey im
chor durch Ladislaus Sunthaym, Historiograph König
Maximilians. 14 Nur indirekt bezeugt ist eine Jahrzeit
für den Herzog durch eine Urkunde von 1438, aus der
hervorgeht, dass bei dieser Gelegenheit die Priesterschaft
singend und betend über das Grab schritt.15 Daraus ist
abzuleiten, dass es sich bei dem Herzogsgrab um ein
Bodengrab handelte.
Die herrschaftliche Prägung, die der Chor durch
das Grab erhielt, zeigt sich auch in seiner Nutzung als
Gerichtsort, auf die möglicherweise auch die Ikonographie des Raums abgestimmt wurde. 16 In einer Eventualverfügung sicherte die Pfalzgräfin Klara von Tübingen
1356 der Freiburger Bürgerschaft gewisse Vergünstigungen zu, unter anderem wenn sie von des gerihtes wegen
als ein herre oder eine frou zu Friburg in dem münster zuo
Friburg uf dem kor rihtet umb eigen und umbe erbe. 17 Zwar
wurde die Gräfin kurze Zeit später von ihrem Onkel
aus der Herrschaft gedrängt.18 Doch spricht aus der Formulierung die Selbstverständlichkeit, mit der im Chor
Gericht gehalten wurde. Entscheidungen über «Eigen
und Erbe», zu denen vermutlich noch das Blutgericht
und Fälle des «Huldverlusts» des Stadtherrn hinzutraten, waren Gegenstände des einmal jährlich stattfindenden Grafengerichts, das bis zum Ende der Herrschaft
der Grafen über die Stadt Bestand hatte. Daneben gab
es ein Schultheissengericht, das auf dem Kirchhof des
Münsters zusammentrat und später die Funktion des
Grafengerichts übernahm, bis es seinerseits infolge der
Verpfändung des Schultheissenamtes an die Stadt mit
dem Gericht des Rates amalgamierte. 19 Das Grafengericht tagte öffentlich im Beisein der gesamten Gerichtsgemeinde; für das Nichterscheinen bei diesem Gericht
sah der Stadtrechtsentwurf von 1275 Sanktionen vor.20
Das Münster war eine Versammlungsstätte, die solche
Öffentlichkeit zuliess. Ausserdem sass Graf Egen IV.
auch in seiner Funktion als Landgraf in Únser Frowen
múnster ze Friburg [...] offenlich ze geriht, so bezeugt zum
Buch SKAM 36.indd 128
Form und Funktion
Jahr 1362.21 In dieser herrschaftlichen Funktion haben
sich die Grafen auch in vier Steinskulpturen am Westturm des Münsters darstellen lassen. Eine dieser Figuren
hat den Gestus des Richters eingenommen, die Beine
übereinandergeschlagen und das Schwert in der Scheide darüber gelegt. Mit der anderen Hand weist sie auf
eine Adlerspange an der Brust, die als Anspielung auf die
Herzöge von Zähringen gedeutet wird. Offenbar wollte
der Graf mit dieser Darstellung zur Legitimation seiner
Herrschaftskonzeption (Anspruch auf den ganzen Breisgau) und Herrschaftspraxis (im Gericht) auf das Vorbild
der Zähringer verweisen.22 Die Rechtsprechung am Grab
des letzten Zähringers könnte eine ganz ähnliche rechtssymbolische und herrschaftspolitische Funktion besessen haben.
Auch für andere Rechtshandlungen wurde das
Münster genutzt: 1298 tagte ein geistliches Gericht unter
Vorsitz des Konstanzer Dompropstes Konrad wegen
eines Streits um die Kirche St. Walburg in Waldkirch in
choro ecclesie parrochialis Friburg. 23 Ebenso wurden Vertragsabschlüsse im Münster beurkundet. 1437 bestätigte
der päpstliche Notar Johannes von Surse die Besetzung
einer Pfründe in novo choro prope sacristiam.24 1434 vollzog sich die Wahl eines anderen Kaplans vor dem Notar
Johannes Ysenli in choro ecclesie parochialis maioris.25 Allerdings war der Chor nicht der einzige Ort dafür, sondern
konkurrierte mit anderen Örtlichkeiten innerhalb26 und
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
Zotz 1995.
Vgl. aber aus kunsthistorischer Sicht Becksmann 1991.
Parlow 1999, 418f., Nr. 645.
URM Nr. 530 (1438 Sep 27, Freiburg).
Becksmann 2005, 18–22, vgl. 25f.
URM Nr. 163 (1356 Dez 24, Freiburg).
Butz 2003.
Schwineköper 1965, 17.
Blattmann 1991, Bd. 2, 668, Art. 69: [...] Swenne der herre heizet gebieten den
burgern gemeinlich fûr sich ze ge riht, swer daz hoerit, unde nût en kumit, der ist dem
herrin sehzig schillinge schuldig (1275 Jul, Freiburg).
Dambacher 1864, 108–110 (1362 Sep 14, Freiburg).
Butz 2002, Bd. 1, 143–148, 283.
Hefele 1940–1958, Bd. 2, 298f., Nr. 245 ([1298 nach Mai 27] Freiburg); ungenau: URM Nr. 57.
URM Nr. 528 (1437 Okt 13, Freiburg).
URM Nr. 513 (14 34 Aug 4, Freiburg).
URM Nr. 604 (1450 Apr 22, Freiburg): in medio sacristie ecclesie parochialis maioris.
Hefele 1940–1958, Bd. 1, 203f., Nr. 229, URM Nr. 36 (1269 Nov 14, Freiburg): in cimiterio ante fores parrochialis ecclesie Vriburg[ensis]; Nr. 39 (1273 Jun
9, Freiburg): in curia viceplebanorum ecclesie parochialis in Friburg; 361 (1403 Apr
5, Freiburg): an dem kilchof; Nr. 377 (1407 Feb 22, Freiburg): im Pfarrhof; Nr.
497 (1432 Aug 3, Freiburg): in vico ante domum seu stubam consorcii vulgariter
«Zuo dem Riter» nuncupatam ex opposito monasterii Beate Virginis Marie sitam;
Nr. 505 (1433 Dez 22, Freiburg): in domo fabrice ecclesie parochialis Beate Marie
Virginis, Nr. 693 (1459 Apr 26, Freiburg): in cimiterio parochialis ecclesie Beate et
semper gloriose Virginis Marie prope ianuam curiam parochialem respicientem, etc.
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Form und Funktion
ausserhalb27 der Kirche. Manche Beurkundungen im Münster lassen überhaupt keine nähere Lokalisierung zu.28
Seit etwa 1300 traten neben den Münsterpfarrherrn
und seine vier Vikare, die sogenannten «Vierherren»,
Kapläne auf privat gestifteten Benefizien. Die wachsende Zahl von Klerikern an der Kirche gab dem Münster
auch seinen Namen: Wenn man recht sieht, ist erstmals
1314 von Stiftungsgeld an Unsere Frouwen bu ze Friburg an
das münster die Rede, womit die Pfarrkirche als Ort einer
Klerikergemeinschaft charakterisiert wird. 29 Spätestens
seit 1352 zeichnen sich Versuche seitens des städtischen
Rats ab, Einfluss auf diese Kleriker zu gewinnen,30 die
zum Erlass der Präsenzstatuten von 1364 führten.31 Sie
regelten wesentliche Bereiche der Lebens- und Amtsführung sowie des Zusammenwirkens der Kapläne und
verliehen ihnen den Rechtsstatus einer geistlichen Körperschaft, sodass von nun ab von einem «Münster»
im eigentlichen Sinn, von einer Grosskirche mit einer
Gemeinschaft korporativ zusammengeschlossener Kleriker, gesprochen werden kann. Weitere Statuten folgten
1400 und 1464. 32 Sicherlich nicht zufällig in engem
zeitlichen Zusammenhang mit diesen Vorgängen fallen
die ersten Anstrengungen zum Bau des spätgotischen
Langchors, der den Klerikern Raum geboten hätte. Am
24. März 1354 wurde mit dem Chorbau begonnen; so
hält es eine Bauinschrift am Chornordportal fest.33 Aufgrund der politischen und wirtschaftlichen Ungunst der
Zeit gerieten diese Baumassnahmen jedoch ins Stocken
und blieben zunächst unausgeführt liegen. Das Münster
behielt seinen alten, spätromanischen Chorschluss noch
weitere 100 Jahre bei.
Über das Aussehen des Chor- und Vierungsbereichs häufen sich nun die Nachrichten. Der Hochaltar,
als Fron-, das heisst: Herrenaltar bezeichnet, war vermutlich frei umgehbar. Neben dem Fronaltar, zur Nikolauskapelle im südlichen Hahnenturm hin, befand sich seit
1311 ein Ewiges Licht, zwei weitere kamen später hinzu.34
Auch neben dem Sakramentshaus brannte ein Ewiges
Licht.35 Ausser dem hier zu lokalisierenden Herzogsgrab
befanden sich noch weitere Gräber vor dem Hochaltar.36
Das erste meßsingen eines Priesters, die Primiz,
fand uff dem choer statt.37 Zu besonderen Anlässen wie
dem Jubeljahr 1500, zu dem ein grosser Andrang im
Münster herrschte, wurde im Chor Beichte gehört.
Der Freiburger Stadtschreiber schildert dieses Ereignis: Item oben im chor sassen doctores von der universitet
und dem muenster, unnd was ydem vatter einem och ein stat
da oben geben unnd darnach geteilt allenthalb in die kilhen.38
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129
Von besonderem Interesse sind bei diesen Nachrichten
die Präpositionen: «auf» beziehungsweise «oben»: Sie
deuten auf einen hochgelegenen Chor hin.
An gewöhnlichen Tagen nahm auf dem Chor
die Geistlichkeit Platz. 1454 ist von dem kilcherren und
gemeiner caplan uf irem chor des vorgenanten münsters die
Rede.39 Spätestens seit dem Jahr 1400 waren die Kapläne
dazu gehalten, zusammen mit dem Pfarrrektor die horas
canonicas zu beten.40 1465 wurde diese Vorschrift dahingehend gelockert, dass, aufgeteilt nach einem Wochenturnus, nur noch 16 oder 17 Kapläne gleichzeitig Dienst
tun sollten.41 Lässt die Gerichtsnutzung in der Grafenzeit
schon relativ früh eine Sitzanlage im Chor erschliessen,
so ist im 15. Jahrhundert auch ein Chorgestühl bezeugt,
das dem Chorgebet der Münstergeistlichkeit diente.
Dazu besass es angehängte Kettenbücher: Item 3 groß
psalter im kor, an dem gestul angehenkt, und andre bucher mer,
die im kor ligen und alle angehenkt sein.42 Von diesen Chorbüchern ist noch mehrfach zu hören, weil sie 1492,43
149544 und 150545 «renoviert» und 1497 mit «Zeichen»46
(Exlibris?) versehen wurden. Ausser den Psaltern gab es
hier auch ein Antiphonar und ein Graduale. 1496 kam
noch ein Vigilienbuch hinzu.47
28
29
30
31
32
33
34
35
36
37
38
39
40
41
42
43
44
45
46
47
Hefele 1940–1958, Bd. 1, 46, Nr. 60 (1237 Jul): in ecclesia de Friburc; 55f., Nr.
67 (1239 Apr 8, Freiburg): in maiori ecclesia Friburc, 56f., Nr. 68 (1239 Apr 8,
Freiburg): in maiori ecclesia Friburch; 1346 (Urkunde 1346 Mrz 6, Freiburg)
fand eine Befragung von Zeugen statt, die ze Friburg in dem münster offenliche
verjahren [= aussagten], und swuoren ovch des mit uferhepten handen gelerte eide ze
den heiligen in dem selben münster ze Friburg.
Poinsignon 1890, 37, Nr. 90, URM Nr. 78 (1314 Mrz 30, Freiburg).
URM Nr. 147 (1352 Jun 4, Konstanz).
Flamm 1905/1909, 68–74, Nachtrag 72f.; URM Nr. 193 (1364 Jun 23, Gottlieben).
Flamm 1905/1909, 74–83, Nachtrag 73 (1400 Aug 4, Freiburg); URM Nr. 755
(1464 Jun 15, Freiburg); zum Fortgang Müller 1970, 159.
Flum 2001, 162, Nr. 7 (1354 Mrz 24, Freiburg).
Poinsignon 1890, 33, Nr. 77 (1311 Apr 21, Freiburg); Albert 1908, S. 39.
URM Nr. 879 (1469 Feb 6, o.O.); Albert 1908, S. 39.
Butz 1983, Teil B, 266f., 345.
Münsteranniversar, fol. 39r; Druck bei Albert 1905, 90 (15. Jahrhundert).
Ratserkanntnusbuch 1494–1502, fol. 6r–8v, hier 6v (1500, Freiburg); Abdruck
bei Mone 1848–1867, Bd. 3, 588f.
URM Nr. 648 (1454 Aug 9 [Freiburg]).
Flamm 1905/1909, 75.
URM Nr. 755 (1464 Jun 15, Freiburg); Müller 1970, 158.
Flamm 1906, 77.
Münsterrechnungen 1491/II–1492/I–II [fol. 9r]: Item i lb dem Gessler, psalter uf
dem chor zu renoviern.
Münsterrechnungen 1495/I [fol. 18r]: Item v ß d dem Lutzen buoch binder, von
einem psalter im chor von nuwen in zebinden und beschlahen.
Münsterrechnungen 1505/II [fol. 11r]: Item x ß Hainrich Gesler uff rechnung, die
psalter uff die zwen chor zuo boessern und den anthiphonarium und das gradumal [!]
uff Appolonaris.
Münsterrechnungen 1497/I [fol. 14r]: Item i ß, umb zeichen in die buecher im chor
und sust.
Münsterrechnungen 1496/I [fol. 16v]: Item ii ß, umb ein vigily inzebinden, in den
chor geschenkt von den vier herren.
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130
Auch die Professoren der Universität besetzten zu
bestimmten Gottesdiensten das Chorgestühl, sonst nahmen sie vor dem Chor Platz.48 Als sie 1513 inmitten der
Altäre vor der Kanzel neue Sitze errichten lassen wollten,
gerieten sie mit dem Rat in Konflikt, weil dort auch «ehrwürdige Damen» ihren Platz hatten, die sie nicht vertreiben sollten.49 Aber auch deren Gebetsstühle waren dort
in den vorausgegangenen Jahren nicht gerne gesehen
gewesen. Nachdem 1505 eine Dame aus der vornehmen
Familie der Lupp einen eigenen Stuhl in der Kirche hatte
errichten lassen, liessen ihn die Münsterpfleger umgehend
wieder abbrechen. Neben dem Argument, dass man dies
in der Vergangenheit auch anderen untersagt habe, rechtfertigte der Rat dieses Vorgehen bezeichnenderweise mit
der räumlichen Enge, die im Münster herrschte: uß ursach,
das kirh eng und deß gemeinen volckhs vil ist und grosse unwil
druß ensten wuord.50 Eigene Betstühle vor und neben dem
Chor besassen auch die Beginen. Für die Schwestern vom
Regelhaus «Zum Lämmlein» ist ein solcher Betstuhl um
1505 beim Hl. Kreuz-Altar, der im Nordquerhaus zu vermuten ist, bezeugt.51
Die Benefizien der Münsterkapläne waren auf die
zahlreichen Privataltäre im Münster fundiert, an denen sie
die ihnen aufgetragenen Messen zelebrierten. Das Präsenzstatut von 1365 nennt 14 Altäre an der Zahl und regelte
die Abfolge der täglichen Messopfer: Liturgisch begann
der Tag mit der Tagmesse, dann folgten sieben Messen der
Kapläne, dann die Frühmesse, dann zwölf und darauf weitere elf Privatmessen, dann das Hochamt und zeitgleich
zehn Privatmessen, am Mittag schloss sich eine Vesper mit
dem gemeinsamen Chorgebet an. An bis zu neun Altären
wurde gleichzeitig Messe gelesen.52 12 Altäre sind sicher
in der Vierung und in den Querhäusern zu lokalisieren.
Bei zwei von ihnen befanden sich Ewig Licht-Ampeln.53
Mittig vor dem Chor, an der Stelle, die gewöhnlich der
Kreuzaltar einnahm, stand der Johann Baptist-Altar, an
dem täglich die erste Messe zelebriert wurde.
Mit dem Einzug der Universität in das Münster
wurde auch der Weiterbau des Langchors neu forciert.
Noch 1464 erteilte der Bischof von Konstanz eine Kollekte und einen Ablassbrief zum Ausbau des neuen Chors.54
1471 wurde der Chor angevangkt ze buw[en].55 So halten es
die Rechnungen des Münsterschaffners fest, die mit dem
Chorneubau einsetzen und über zahlreiche, wenngleich
keineswegs über alle Baumassnahmen informieren. Neuere bauhistorische Untersuchungen haben ergeben, dass
der Chor von West nach Ost gebaut wurde und der spätromanische Chor bald nach 1471 abgebrochen worden sein
Buch SKAM 36.indd 130
Form und Funktion
muss.56 Bezeichnenderweise begannen die Bauarbeiten
mit dem Aufziehen von Steinen uf den chor.57 1482 wurde
der Dachstuhl errichtet, 1494 die nordwestlichen Hochchorfenster verglast, 1510 die Gewölbe geschlossen.58
Auch über die neue Ausstattung von Chor und
Vierung ist man gut informiert. 1505 wurde ein Sakramentshaus in Auftrag gegeben. 59 In den Gruben von
Wöplinsberg und Tennenbach wurden Altarsteine gebrochen und auf Schlitten nach Freiburg geschafft.60 Bischöfliche Indulte wurden beschafft, um auf den neuen Altären
zelebrieren und die Wandlung vollziehen zu dürfen und
die alten Altäre abbrechen zu können.61 Am 4./5. Dezember 1513 wurden der Fron- und Johannesaltar durch den
Weihbischof von Konstanz geweiht.62 1515 folgten vier
weitere Altäre: der Annenaltar in der Annenkapelle sowie
der Kreuz-, Bartholomäus- und ein weiterer Annenaltar.63
Der Rat der Stadt drängte auf eine baldige Neuweihe, weil
man mit der Abhaltung eines Reichstags in der Stadt rechnete und inn zukunfft unsers allergnedigisten herrn dess romschen kaysers, ouch andrer herschafft die notturfft erfordern wyll,
solch althar zu gepruchen.64 Abermals wurden bischöfliche
Indulte beschafft. Die Weihe nahm schliesslich der Basler Weihbischof Tilmann Limperger vor, der sich wegen
der Einweihung des neuen Friedhofs in Freiburg aufhielt.
Eine 14köpfige Festgesellschaft speiste anschliessend für
17 ½ Schillinge im Gasthaus «Zum Sponhart», wofür die
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Braun 2007, S. 96.
Quoniam intellexerit universitas eos velle nova sedilia in ecclesia parrochiali extruere
intra altaria ante ambonem; quia vero eo loco matrone honeste solitas quasdam mansiones habent, quibus consueverunt insistere diutius, possent per hanc innovationem
ab ecclesia parrochiali in monasteria expelli [...], Senatsprotokoll (1513 Dez 16,
Freiburg), zitiert bei Rest 1960, 119, der den Eintrag fälschlich auf die Universitätskapelle bezieht, vgl. auch ebd. 120.
Ratsprotokoll 1504–1506, fol. 62v (1505 Mai 2, Freiburg).
Münsteranniversar, fol. 137v (um 1505): [...] ob irrem grab nebent dem heiligen
creütz, als die beginnen zuo dem Lemlin in irren stuol gandt.
Flamm 1905/1909, 66f., 70–73.
URM Nr. 134 (1348 Apr 22, Freiburg): vor dem Johannesaltar; Nr. 63 (1301
Okt 5, Freiburg), Nr. 159 (1356 Aug 9, Freiburg) und Nr. 593 (1447 Nov 28,
Freiburg): vor dem Fronleichnamsaltar.
URM Nr. 739 (1464 Jan 18, Konstanz).
Münsterrechnungen 1471/II [fol. 2r].
Flum 2001, bes. 45f., 84f.
Münsterrechnungen 1471/II [fol. 2r].
Flum 2001, 18–20, 40–70.
Ratsprotokoll 1504–1506, fol. 53v (1505 Mrz 12, Freiburg).
Münsterrechnungen 1506/I [fol. 12v], Dublette [fol. 14r]; 1506/II [fol. 28r],
Dublette [fol. 20].
Münsterrechnungen 1513/I [fol. 15v]: Item xiii ß umb das indult, das man dar[f]
celebrierren uff den iii althar und von sacrament zuo verwandlen an ein ander ort;
[fol. 16r]: Item vi ß umb das indult von den altharien abzuobrechen.
Die im Original verlorene Urkunde bei Flum 2001, 167, Nr. 51.
Urkunde (1515 Mrz 20, Freiburg).
Missiven 1512–16, fol. 208 (1515 Mrz 8, Freiburg); zu den Freiburger Reichstagsprojekten dieser Jahre künftig Joos Diss.
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Form und Funktion
Münsterpflege aufkam.65 Auch das Grab Herzog Bertolds
V. wurde in diesem Zusammenhang verlegt: 1514 bezeugt
die Chronik des Freiburger Münsterkaplans Johannes
Sattler die Grablege zu der rechten seittenn ob der mittel kilch
thüer, also im südlichen Seitenschiff.66 Und noch etwas
fügt Sattler hinzu: Bei der Neuweihe des Hauptaltars
1513 sei uß desselbigenn grabstein der Fronn alltar gemacht;
eine Angabe, die anderweitig zwar nicht zu stützen ist,
aber dennoch Glauben verdient.67
Schwieriger ist es, aus den unterschiedlichen Quellen Angaben über die exakte räumliche Situation abzuleiten, die den Beteiligten natürlich vor Augen stand.
Da das Jahrzeitbuch die Lage der Gräber im Münster in
Relation zu den Altären beschreibt, ergibt sich hier ein
Ansatzpunkt, um wie in einem Puzzlespiel die ursprünglichen Altarstellungen zu rekonstruieren. Für zahlreiche
Altäre hat dies die Forschung in den vergangenen 40 Jahren mit Erfolg gelöst.68 Andere Altäre wurden hypothetisch im Raum verschoben, ohne dass eine befriedigende
Lösung gefunden worden wäre. So soll sich der Oswaldaltar zugleich beim Johannes Baptist-Altar in der Nähe
des Aufgangs zum Chor (Grabstein inter altaria Johannis
et Oswaldi contiguus ingressui chori) wie auch beim Margarethenaltar (inter altaria Margarethe et Oswaldi) befunden
haben,69 der im nördlichen Seitenschiff, auf der Höhe der
westlichen Vierungspfeiler gestanden hat. Solange man
den Eingang zum Chor und den Johannesaltar an den
östlichen Vierungspfeilern vermutete, liessen sich diese
Aussagen nicht miteinander in Einklang bringen. Waren
die Quellen widersprüchlich oder ging die Forschung
von falschen Voraussetzungen aus? Über die Enge der
Ostapside hatte man sich zwar gewundert,70 aber keine
Folgerungen daraus abgeleitet. Bereits an diesem Punkt
der Forschungsdiskussion wäre zu überprüfen gewesen,
ob die Grundannahmen über das Aussehen des Chorbereichs überhaupt zutreffend waren. Da die Schriftquellen für diese Frage ausgereizt schienen, mussten hierfür
andere Quellengattungen einspringen. Aufgrund der
baugeschichtlichen Beobachtungen Karl Beckers und der
jüngsten baubegleitenden Untersuchungen im Münster
war die Gelegenheit dafür gegeben.
131
Turm über der Vierung, zwei flankierende Türme («Hahnentürme»), einen polygonalen Ostabschluss mit grossem Fenster und reichen Bauschmuck. Grosse Teile
davon haben sich bis heute erhalten. Die mittelalterliche Binnengliederung war dagegen bisher weitgehend
unbekannt. Auffällig waren die heute nur noch mit Leitern zu erreichenden Türen zu den Hahnentürmen. Auf
gleichem Niveau liegen die zur Vierung gerichteten Sockel
der östlichen Vierungspfeiler, während sie zu den Querhausarmen 2,20–2,30 m tiefer liegen und vom heutigen
Fussboden verdeckt werden. Daraus schloss man, dass der
östliche Bereich, meist als «Chor» bezeichnet, wesentlich
höher lag als heute. Dass auch an den Pfeilern im Westen
Veränderungen vorgenommen worden waren, fiel zuerst
Karl Becker, ehemals Landesdenkmalamt Baden-Württemberg, auf. Er schloss daraus auf eine hoch liegende Vierung, ohne diese These letztendlich beweisen zu können.
Die Neugestaltung des Altarbereichs im Freiburger
Münster führte im Jahr 2006 zu baulichen Veränderungen
in der Vierung. So mussten die beiden Altäre seitlich des
Chorbogens (Abb. 1) einer neuen Treppenanlage weichen.
Die Baumassnahmen mussten bauarchäologisch begleitet
werden, um den Verlust an Originalsubstanz möglichst
gering zu halten.71 Gleichzeitig ergab sich dadurch die
Chance, weitere Aufschlüsse über das Innere der romanischen Vierung zu erhalten. Daher beschränkten sich die
Forschungen nicht nur auf die abzubrechenden Altäre
und die von dem Eingriff betroffenen Bodenbereiche,
sondern es wurden auch die angrenzenden Pfeiler und
Wände des romanischen Baukörpers miteinbezogen.
65
66
67
II.
Die östlichen Teile der Freiburger Pfarrkirche wurden nach
stilistischer Datierung zu Anfang des 13. Jahrhunderts
neu errichtet (Bau II). Der spätromanische Baukörper war
wesentlich aufwendiger gestaltet als der Vorgängerbau: Er
besass ein hohes Querhaus mit Kuppel und (geplantem)
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68
69
70
71
Münsterrechnungen 1515/I [fol. 11v].
Sattler, fol. 34r. Sattlers Chronik ist oft fehlinterpretiert worden, weil nicht
auf die handschriftliche Überlieferung zurückgegangen wurde. Edition der
Chronik und Untersuchungen zur Textgeschichte künftig bei Joos Diss., dort
auch ausführlich zum Grab des Herzogs.
Eine Besichtigung des Altars gemeinsam mit Frau Astrid Hirsch (Geologin),
Herrn Christian Leuschner (Werkmeister der Münsterbauhütte), Herrn Stefan
King (Bauforscher) und Herrn Prof. Dr. Wolfgang Werner (Landesamt für Geologie, Rohstoffe und Bergbau Baden-Württemberg) am 6. März 2008 ergab, dass
die Altarplatte mit dem Scharriereisen abgearbeitet und von unten überstrichen
ist. Die mineralogische Beschaffenheit ist monoton, ungeklüftet, kieselig gebunden; ihre Herkunft dürfte in der Emmendinger Gegend zu suchen sein. Dies ist
jedoch kein Kriterium gegen eine Datierung ins 13. Jh., da die Steinbrüche am
Loretto- und Schlierberg wegen ihrer Lage in der Schwarzwaldrandverwerfung
Steine von dieser Blockgrösse nicht hergaben, die Emmendinger Steinbrüche
zu diesem Zeitpunkt zweifellos in Betrieb standen und eine Platte von dieser
Bedeutung durchaus auch von weiter her geholt worden sein kann.
Asal 1969, 26–36; Müller 1970, 160–165; Butz 1983, 169–181.
Butz 1983, Teil B, 166, vgl. 98, 130, 327; 65, 147, 219.
Wischermann 1980, 20.
Auf Anregung von Peter Schmidt-Thomé, Regierungspräsidium Freiburg,
wurde die Untersuchung durch das Erzbischöfliche Bauamt Freiburg beauftragt. Voruntersuchung durch Karl Becker und Stefan King, Freiburg.
14.11.2009 14:54:29 Uhr
132
Form und Funktion
(Altarunterbau) fand sich in einer vermauerten Nische ein
ehemals versiegeltes Reliquar mit Knochenfragmenten
und Authentiken, die die Reliquien dem Heiligen Bartholomäus (Nordaltar) und der Heiligen Anna (Südaltar)
zuweisen. Als Weihedatum wird das Jahr 1515 genannt.
Mensa und Stipes zeigen Abarbeitungen und Ausflickungen mit Backsteinen, vor allem auf der Rückseite – offensichtlich waren die Altäre nachträglich an den
Standort vor den Vierungspfeilern angepasst worden.
Vermutlich wurden sie im Zuge des Lettnerabrisses 1789
hierhin versetzt.
Abb. 1 Vierung und spätgotischer Chor in der historistischen Gestaltung um 1900, vor den Vierungspfeilern die Seitenaltäre mit dem Dreikönigs- und dem Annenretabel (Nord- und Südaltar).
Beim Abbau der Altäre musste zunächst die historistische
Holzverkleidung von 1822/23 entfernt werden. Darunter
kam ein Kastenaltar zum Vorschein. Das spätgotische Profil und die Steinbearbeitung sprachen für eine Entstehung
im frühen 16. Jahrhundert. Auf der Vorderseite des Stipes
Abb. 2 Der südliche Untersuchungsbereich nach Abbruch des Altars:
Sockel des südöstlichen Vierungspfeilers, 1954 umgestaltet, davor die
Ost-West ziehende Mauer mit den Stufen. Links das Bauniveau der
Vorgängerkirche (Bauphase I) und rechts der Ansatz der vorgelagerten
Rundtreppe (Bauphase III).
Im Boden unter den abgebrochenen Altären hat sich
jeweils ein 1,20 m breiter Mauerzug erhalten, der zwischen den östlichen und westlichen Vierungspfeilern verläuft (Abb. 2). Integriert in den Altarunterbau haben sich
die Mauern an den östlichen Vierungspfeilern noch drei
Dezimeter hoch über dem heutigen Boden erhalten. Hier
sind Stufenansätze erkennbar, die zur Vierung ansteigen.
Der zugehörige Fussboden in den Querhausarmen lag
damals etwa 25 Zentimeter tiefer als heute. Am südöstlichen Vierungspfeiler fand sich oberhalb der Stufen ein
senkrechter Falz.
Die Mauern sind zweischalig ausgeführt mit Füllmauerwerk in der Mitte. Die Schalen sind sehr unterschiedlich gestaltet: Während zur Vierung grob zugehauene Bruchsteine zu erkennen sind, weist die andere Seite
sorgfältig gearbeitete Sandsteinquader und Verputz auf.
Zwischen den Westpfeilern scheint ebenfalls eine Mauer gelegen zu haben – bei Bauarbeiten 1932 wurde im
Anschluss an das Fundament des nordwestlichen Vierungspfeilers ein Mauerstreifen freigelegt, der in Richtung
des Südwest-Pfeilers zog.72
An den östlichen Vierungspfeilern fällt nicht nur
ihre unterschiedliche Sockelhöhe auf, sondern auch Spuren von Umarbeitungen. Die heutige Form erhielten die
Sockel erst im 20. Jahrhundert. Zuvor waren hier massive
Mauerblöcke vorhanden, die ihrerseits auch schon wieder Folge von Umbaumassnahmen waren. Spuren solcher Umarbeitungen fanden sich auch an den westlichen
Vierungspfeilern: Die mittleren, am weitesten in das
Querhaus vorspringenden Dienste weisen bis zu einer
Höhe von knapp drei Metern signifikante Unterschiede
72
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Zeichnerische Dokumentation des Fundamentbereichs des nordwestlichen
Vierungspfeilers durch Friedrich Kempf, 1932, im Archiv des Münsterbauvereins Freiburg. Teilabdruck bei Osteneck 1972, Abb. 4.
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Form und Funktion
zum übrigen Pfeiler auf. Sie unterscheiden sich deutlich
in Steinmaterial, Fugenhöhe und Oberflächenbehandlung. Ähnliches kann auch bei den zur Vierung gerichteten drei Nebendiensten beobachtet werden, allerdings
lag hier die Oberkante der Störung knapp anderthalb
Meter tiefer.
Die beobachteten Baubefunde ermöglichen eine
Rekonstruktion des spätromanischen Innenraums (Abb. 3).
Die Mauerzüge zwischen den Vierungspfeilern trennten
die Vierung von den Querhausarmen und vom Langhaus
ab. Die hohe Störung an den Westpfeilern dürfte der ehemalige Ansatz dieser Mauern gewesen sein, die demnach
zusammen mit den Pfeilern errichtet worden waren und
über drei Meter hoch gewesen sind. Sie umschlossen die
Vierung, deren Boden nach den Spuren an den Nebendiensten ca. 1,70 m höher lag als in den Querhausarmen.
Der Bereich östlich der Vierung lag noch einmal 0,70 m
höher – auf einer Höhe mit den hohen Pfeilersockeln und
den Zugängen zu den Hahnentürmen.
Zur hochgelegenen Vierung führten Treppen
an den Ostpfeilern hinauf, deren unterste Stufen 2006
freigelegt wurden. Zumindest der südliche Aufgang war
verschliessbar, der senkrechte Falz kann als Türanschlag
gedeutet werden. Unter der hohen Vierung lag offensichtlich kein Raum, sonst wären die Trennmauern zu
dieser Seite sorgfältiger gemauert und verputzt gewesen.
Ausserdem wäre dann der heute noch flächig vorhandene
Bauhorizont der Vorgängerkirche (Bau I, s. u.) durch den
Krypteneinbau zerstört worden.
Vor der südlichen Treppe wurde später eine halbrunde Treppenanlage mit einem Durchmesser von drei
Metern angefügt (Abb. 4). Die Sandsteine sind mit der
Fläche bearbeitet worden und weisen noch keine Spuren
des im 15. Jahrhundert aufkommenden Scharriereisens
auf. Erhalten blieben von dieser Treppe die erste Stufe
und der Abdruck der zweiten. Zwei Bodenerhöhungen
ziehen gegen die Stufe.
133
Abb. 3 Rekonstruktion des spätromanischen Ostbaus im 13./14. Jh.
Rest der nördlichen Chormauer der ersten Kirche (Bau I)
handeln (Abb. 5). Das Chorquadrat dieses Sakralbaus war
in Grösse und Lage identisch mit der heutigen spätromanischen Vierung. Bei den Bauarbeiten 1932 wurde die Aussenseite der nördlichen Chormauer mit einer Sockelschräge
aus Sandsteinquadern freigelegt. In der aktuellen Ausgrabung kam nun die verputzte Innenseite der gleichen Mauer
zum Vorschein. Ausserdem fand sich der zugehörige Bauhorizont – das Niveau, auf dem der Sakralbau in der ersten
Hälfte des 12. Jahrhunderts errichtet wurde und worüber
nach Fertigstellung des Rohbaus der aus Sandsteinplatten
Abb. 4 Südmauer mit Treppe und später vorgelagerter Rundtreppe.
Unter dem 2006 abgebrochenen nördlichen Altar konnte
eine weitere, tiefer liegende Mauer freigelegt werden, die
in gleicher Ost-West-Richtung verlief wie die Trennmauer
zwischen den Vierungspfeilern. Ihre Südseite war verputzt
und ein festgestampfter Erdboden mit Mörtelflecken zog
dagegen. Dieser Mauerzug stand nicht im Verband mit den
Pfeilern. Er war vielmehr beim Bau der spätromanischen
Fundamente teilweise ausgebrochen worden. Demnach ist
diese Mauer älter als der bestehende romanische Bau. Tatsächlich dürfte es sich bei der 1,10 m dicken Mauer um einen
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bestehende Chorboden verlegt wurde. Solche Platten fanden sich 1969 im nördlichen Seitenschiff, allerdings einen
halben Meter tiefer. Der Chor lag demnach wohl drei Stufen höher als das Langhaus. Der Hochaltar war vermutlich
noch weiter herausgehoben.
III.
Die östlichen Teile der Freiburger Pfarrkirche zeichneten
sich seit dem spätromanischen Neubau zu Anfang des 13.
Jahrhunderts durch eine vielteilige Raumdisposition aus,
die in den Querhausarmen praktisch autonome Sakralräume schuf, abgetrennt durch die hochgelegene Vierung (Abb.
3). Das östlich anschliessende Joch und der Ostabschluss des
spätromanischen Baus lagen noch einmal etwa fünf Stufen
höher. Hier kann das Sanktuarium mit dem Maria geweihten Hochaltar vermutet werden.73 Die hohe Vierung muss
dementsprechend als Chor und die umgebenden Mauern
als Chorschranken angesprochen werden.74 Eine Krypta in
der Vierung war nicht vorhanden – das konnten die aktuellen Grabungsergebnisse eindeutig belegen.
Die Raumsituation macht die Vielzahl der ausweislich der Quellen simultan gefeierten Haupt- und Nebenmessen verständlich. Auch die konstatierten Widersprüche
bei den Altarstellungen lösen sich damit auf. Vor dem Chor
bei den westlichen Vierungspfeilern standen der Oswald-,
Johannes Baptist- und Fronleichnam-Altar, zwischen ihnen
führten zwei Treppen zum Chor hinauf (Abb. 3).
Baulich erinnert die Anlage stark an die Strassburger
Bischofskirche: Hier wie dort finden sich eine hochgelegene, als Chor genutzte Vierung, ein kleines Sanktuarium,
seitlich Chorzugänge an den östlichen Vierungspfeilern
und zwei Zugänge vom Mittelschiff. In Strassburg erklärt
sich die Situation durch die unterhalb liegende Krypta des
11. und 12. Jahrhunderts und durch die Chornutzung der
Domherren. Auch das zweite grosse Vorbild für den spätromanischen Neubau, die Basler Kathedrale, hatte ehemals
eine höher gelegene Vierung über einer Krypta.75
Fragen wirft auch die erhöhte Bauform des Chors in
der Vierung auf. Sie könnte zur Aufnahme einer Klerikergemeinschaft wie in Strassburg oder Basel gedient haben,
bevor sie unter den Grafen von Freiburg zum Gerichtsort
umgenutzt wurde. Beabsichtigte Bertold V. also die Gründung eines Stifts? Tatsächlich vermochte der Chor ja bis
ins 15. Jahrhundert hinein den Bedürfnissen eines vielköpfigen Priesterkollegiums gerecht zu werden. Auch nach
dem Bruch des Herzogs mit der Begräbnistradition des
Hausklosters St. Peter musste eine Klerikergemeinschaft für
seine Memoria eintreten, zumal das Grab in der hochgele-
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Form und Funktion
genen Vierung für Laien nicht zugänglich war. Ein Vorbild
könnte abermals in Strassburg gelegen haben, wo es seit
etwa 1200 neben dem adligen Domkapitel den «Hohen
Chor», eine Gemeinschaft von nichtadligen Klerikern gab,
in deren Hand der tägliche Gottesdienst lag.76 Allerdings
musste eine solche Klerikergemeinschaft nicht zwangsläufig ein institutionalisiertes Stift sein, und es gibt in Südwestdeutschland und darüber hinaus zahlreiche Beispiele
für nicht-stiftische Kirchen, deren Chorbereiche stiftsartige
Bauformen aufweisen.77 Die Frage nach der Funktion dieser Chöre ist in grösserem Kontext zu diskutieren.
Indessen wurde das Grab des letzten Zähringers
durch die hochgelegene Vierung in einzigartiger Weise
akzentuiert. Herzog Bertold V. ruhte im Chor und vor dem
Sanktuarium. Damit wurde in Freiburg von Anfang an ein
Zustand geschaffen, der bei Bertolds berühmtem, königlichen Vorfahren Rudolf von Rheinfelden im Merseburger
Dom erst nachträglich im 12. Jahrhundert hergestellt worden war, indem der Chor hier in die Vierung hinein verlängert wurde, das Grab in den Chor einbezogen und gewissermassen durch das Domkapitel vereinnahmt wurde.78
Das Kircheninnere des Freiburger Münsters erhielt durch
den erhöhten Chor ein architektonisch deutlich hervorgehobenes Zentrum. Mehr noch als die bisherige Forschung
dies gesehen hat,79 tritt dadurch die von Herzog Bertold
V. beabsichtigte und von den Grafen von Freiburg in legitimatorischer Absicht fortgeführte Bestimmung des Münsters als herzogliche Sepultur und Memorialbau hervor.
Anderseits fordern die neu aufgefundenen Bauformen auch nach neuen Erklärungen ihrer ursprünglichen Funktion. Der nachträgliche Ausbau der südlichen
Chortreppe zu einem repräsentativen Halbrund hängt
sicherlich damit zusammen, dass sie die direkte Verbindung zwischen der spätgotischen Sakristei und dem Chor
darstellte.80 Ihre besondere Gestaltung könnte eine Folge
der gesteigerten Bedürfnisse der Liturgie gewesen sein.
Mehr noch als der nachtridentinische und nachkonzilia-
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80
Butz 1983, Teil A, 171 Anm. 7. Zur Unterscheidung zwischen Chor und Sanktuarium vgl. Ernst Gall, Chor, in: Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte
3, 1954, 488–513.
Haas 1982, 160–162.
Freundlicher Hinweis Christoph Matt, Basel.
Lorenz 2008, 177.
Untermann 2007, bes. 230–234 mit ausdrücklichem Bezug zu Freiburg; Untermann 1996.
Handle/Kosch 2006, bes. 532f., 537f.
Übertrieben skeptisch urteilt Schwineköper 1988; im Anschluss daran Schadek 1990, 97.
Zur Baugeschichte der Sakristei: Flum 2001, 30–38 und 79–83.
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Form und Funktion
135
Abb. 5 Grundriss mit Eintrag der Grabungsbefunde von 1932, 1969 und 2006.
re kannte der mittelalterliche Gottesdienst Prozessionen
der Geistlichkeit zu bestimmten Orten innerhalb des
Gotteshauses. Die ursprüngliche Chordisposition mit
ihrer Abtrennung von unterschiedlichen Einzelräumen
kam diesem Bedürfnis entgegen. In den Quellen werden
beispielsweise der «Umgang», der feierliche Einzug der
Geistlichkeit in die Messe und die «Visitatio», der Gräberbesuch zu den Seelenmessen, genannt.81 In besonderer Weise ist hier aber an die bildhafte Liturgie während
der Karwoche und der Osterfeier zu denken, die vielfältige Ansätze zu performativer Gestaltung bot.82 Nach der
Einrichtung des Hl. Grabes im südlichen Seitenschiff im
14. Jahrhundert war es üblich, zusätzlich zur Depositio
Crucis am Karfreitag auch das Allerheiligste in einer
Pyxis in der Brust der Liegefigur Christi «beizusetzen».
Am Ostersonntag wurde es dort feierlich erhoben. Dies
geschah unter Beteiligung der Kapläne, die ihre Chorkappen angelegt hatten und vor dem Sakrament mit
einem silbernen Rauchfass Weihrauch spendeten.83 Dieser Zug muss sich vom Chor herab über die Treppe in
das Langhaus bewegt haben.
Durch die neu aufgefundenen Authentiken, die
bei der Altarweihe 1515 in den Altären deponiert wor-
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den waren, werden die Angaben der Schriftquellen nicht
nur verbreitert, sondern gleichzeitig im Raum situiert.
Bartholomäus- und Annenaltar sind dadurch eindeutig als Altäre vor dem Chor ausgewiesen. Vor diesem
Hintergrund wird eine spätere Modifikation im Jahrzeitbuch des Münsters einsichtig, nach der Anna- und
Bartholomäusaltar in die Funktion von Oswald- und
Fonleichnamaltar eintraten. 84 Denn sie ersetzten jene
als Seitenaltäre vor dem Chor. Das bedeutet, dass sich
Oswald- und Fronleichnamaltar bis zum Neubau des
Langchors vor dem Chor lokalisieren lassen – bei den
westlichen Vierungspfeilern, auf der Höhe von Johannes
und Margarethenaltar. Für die ursprüngliche Stellung
81
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83
84
Zum «Umgang»: Schadek 1990, 118; zur «Visitatio» bei den Seelenmessen: Butz
1983, Teil A, 61, 110, 113, 125 (Sanktionen für abwesende Kleriker). Die Jahrzeitstiftung der Münsterbruderschaft schrieb ebenfalls fest, dass die Präsenz zur
Vesper und Frühmesse uff beide zyt mit der processe yn dem muenster umb gon solle,
um an der Scheinbahre der Bruderschaft ein Miserere zu beten, Münsteranniversar, fol. 34 (1484 Mrz 17 [Freiburg]), Abdruck bei Gerchow 1993, 61f.
Vavra 1986, S. 318–321.
Münsteranniversar, fol. 121r, vgl. fol. 102r: Ordnung der Zunftkertzen vor
dem Hl. Grab; Müller 1970, 171.
Butz 1983, Teil B, 27.
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des Bartholomäus- und Annenaltars ergibt sich bis zum
Jahr 1513 eine Lage am – nicht im – Chor und zwar in
den Querhausarmen, an der Aussenwand des in der Vierung gelegenen Chors (Abb. 3).
Aus dieser Raumsituation heraus werden die Notwendigkeit und Abfolge der Baumassnahmen zu Beginn des
16. Jahrhunderts nachvollziehbar. Nachdem der neue
Langchor zur Verfügung stand, wurde der Chor aus
der Vierung zurückgezogen und der bisherige Chorbereich abgetieft. Johannes- und Hochaltar mussten neu
errichtet werden und wurden zusammen mit dem Chor
1513 neu geweiht, Bartholomäus- und Annenaltar wurden zu beiden Seiten des Johannesaltars vor den neuen
Chorabschluss geschoben. Der Hl. Kreuz-Altar in nördlichen Querhausarm musste wohl weichen, weil er dem
Form und Funktion
Durchbruch zur neuen Annenkapelle im Weg stand. Die
Nebenaltäre wurden 1515 neu geweiht. In diesem Zusammenhang wird auch die Neuaufrichtung von Gebetsstühlen durch die Universitätsprofessoren 1513 erklärbar,
die den neu gewonnenen Raum einnahmen. Durch die
Bodenabtiefung löste sich das bis dahin in der erhöhten
Vierung gelegene Grab Herzog Bertolds V. buchstäblich
in Luft auf, die Grabplatte erfuhr eine neue Nutzung als
Altarmensa und die sterblichen Überreste wurden in das
südliche Seitenschiff überführt, wo sie 1667 auch tatsächlich angetroffen wurden.85 Die Chronisten Sunthaym
und Sattler geben eine zuverlässige Beschreibung des
jeweiligen Ist-Zustandes vor (Sunthaym 1503) und nach
(Sattler 1514) dieser Verlegung an. Schriftquellen und
Baubefunde vermögen sich gegenseitig zu einem konsistenten Bild zu ergänzen.
85
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Kopialbuch C, 270.
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Form und Funktion
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14.11.2009 14:54:32 Uhr
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zur frühen Neuzeit (Veröffentlichungen des Alemannischen Instituts Freiburg
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Form und Funktion
Abbildungsnachweis
1 Archiv des Münsterbauvereins Freiburg
2 und 4 Frank Löbbecke
3 Aktualisierte Zeichnung nach Schaufelberger 2000, 91
5 Plangrundlage Erdmann 1970, Abb. 13
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Unterschiedliche Geschichte?
139
Ulrich Klein
Unterschiedliche Geschichte?
Zur Forschungsgeschichte eines andauernden Phänomens
I. Vorbemerkung
Nachdem in den letzten 30 Jahren Interdisziplinarität
in Deutschland in den Geisteswissenschaften häufig
beschworen, aber selten erreicht wurde, scheint sich
inzwischen eine Art von Resignation auszubreiten. Eine
grundlegende Voraussetzung für eine interdisziplinäre
Zusammenarbeit wäre, dass beide Partner die gleiche
Sprache sprechen, aber bereits dies scheint zwischen
Archäologie und Geschichtswissenschaft gegenwärtig
weiter entfernt denn je und in absehbarer Zukunft kaum
mehr erreichbar zu sein.
Nach programmatischen Äusserungen von durchaus verschiedenen Seiten dürfte es allerdings eigentlich
kein Problem zwischen Archäologie und Geschichtswissenschaft geben. So schreibt der Prähistoriker Hans-Jürgen Eggert in seiner vielfach benutzten Einführung in das
Fach: «Nur bedingt dürfen wir die Geschichte als Nachbarwissenschaft ansehen: es gibt nur eine Geschichte,
und zu dieser gehört in vollem Umfang die Vorgeschichte. Unterschieden sind diese beiden Wissenschaften nur
durch die Andersartigkeit ihrer Quellen: hier Schriftquellen, dort Bodenfunde».1 Diesen Gedanken greift wiederum Günther P. Fehring in seiner wichtigen Einführung
zur Mittelalterarchäologie auf: «Die noch junge Archäologie des Mittelalters ist nach Fragestellungen und
Arbeitsziel eine historische Wissenschaft; aufgrund der
in Boden eingebetteten Sachquellen und ihrer Methoden
ist sie eine archäologische Disziplin. Sie versteht sich als
eine von zahlreichen mit dem Mittelalter befassten historischen Teil- oder Zweigdisziplinen. Als eine solche hat
sie sich die gemeinsamen Fragestellungen der Mittelalterforschung zu eigen gemacht.»2
Sind also wirklich Prähistorie, Mittelalterarchäologie und Geschichtswissenschaft identisch, nur durch
ihre Quellen und die Methoden ihrer Forschungen unterschieden? Praktisch wohl kaum, denn tatsächlich ist die
Vorgeschichte heute methodisch und in ihren Fragestellungen denkbar weit von jeder Geschichtswissenschaft
entfernt,3 während die Archäologie des Mittelalters und
der Neuzeit tatsächlich in der von Fehring beschriebenen
Weise begonnnen hatte, sich als primär historisches Fach
zu etablieren. Aus dem Blickwinkel eines Historikers, der
als Bauforscher und Mittelalterarchäologe tätig ist, soll in
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diesem Beitrag versucht werden, Ursachen für die zugrundeliegenden Probleme zwischen Vorgeschichte und
Geschichtswissenschaft in der jeweiligen Fachgeschichte
in Deutschland zu finden und aufzuzeigen.
II. Die deutsche Archäologie bis
zum 1. Weltkrieg
Begonnen werden soll dabei nicht zufällig in der ersten
Hälfte des 19. Jahrhunderts, als im deutschen Sprachraum im Geiste der Romantik die wissenschaftliche
Beschäftigung mit der «heimischen Geschichte» wenn
auch nicht begann, so doch nun eine vorher nie gekannte
Breite erreichte. Ausgangspunkt war dabei, dass nun auf
der Basis einer breiten bildungsbürgerlichen Bewegung
zahlreiche regional tätige Geschichts- und Altertumsvereine gegründet wurden, die sich die Erforschung der
nationalen Geschichte mit allen ihren Facetten auf ihre
Fahnen geschrieben hatten. Hier fanden sich Fachwissenschaftler genauso wie Laien auf einer breiten, im Humboldtschen Sinne universellen Basis zur Erforschung der
eigenen Geschichte zusammen, wobei der zugrundeliegende Geschichtsbegriff sehr weit war und viele heute
selbständige Fächer mitumfasste. Zugleich war diese
Tätigkeit von enormer politischer Relevanz, wurde hier
doch zugleich die deutsche Einheit vorbereitet. Nachdem
diese Bestrebungen 1848/49 vorerst gescheitert waren,
suchten die Vereine vorerst zumindest für ihren kulturellen Tätigkeitsbereich zu einer nationalen Vereinigung
zu kommen, indem überregionale Zusammenschlüsse
gegründet wurden.
In diesem Sinne kam es im Jahre 1852 in Mainz
und Dresden4 auf Initiative des Hans Freiherrn von und
zu Aufsess (1801–1872)5 zur Gründung des «Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine»
mit zuerst 28, dann bis 1860 bereits 54 Vereinen.6
1
2
3
4
5
6
Eggers 1974, 16.
Fehring 2000, 1.
Tatsächlich würde heute anders als noch Eggers 1974 wahrscheinlich auch
kaum noch ein Vertreter der Prähistorie behaupten, ein «eigentlich historisches» Fach zu vertreten.
Wendehorst 2002, 8.
Wendehorst 2002, 7.
Wendehorst 2002, 11f.
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Die Arbeit des Gesamtvereins wurde entsprechend
der vorwiegenden Ausrichtungen der verschiedenen regionalen Mitgliedsvereine in drei Sektionen eingeteilt:
– Geschichtsforschung und historische Hilfswissenschaften
– Mittelalterliche Kunst
– Archäologie der heidnischen Zeit7
Damit standen damals Schriftquellen noch gleichberechtigt neben den anderen materiellen Überlieferungen,
Sachkulturforschung war integraler Bestandteil der historischen Forschung. Gleichzeitig sollten diese Hauptrichtungen der Tätigkeit der Vereine auch in entsprechenden
Häusern eine museale Heimat finden. Dazu wurde nun
neben den bereits bestehenden, allerdings immer nur
für ihre regionalen Sprengel zuständigen Archiven für
die Schriftquellen zwei neue, heute noch bestehende
Museen mit nationalem Anspruch und Geltungsbereich
gegründet, nämlich in Nürnberg das Germanische Nationalmuseum für die Mittelalterliche Kunst8 und in Mainz
das Römisch-Germanische Centralmuseum für das «heidnische Altertum».9
Wiewohl alle drei aufgeführten Hauptrichtungen
der Geschichtsforschung in den meisten Vereinen anfangs
nebeneinander existierten, waren doch schon bald Vorbehalte untereinander entstanden, die sich in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts noch deutlich verschärfen
sollten. Es war dabei vor allem die bereits im 18. Jahrhundert entstandene antiquarische, rein objektbezogene
Betrachtungsweise in der Altertumsforschung, die zunehmend die Kritik der Historiker hervorrufen sollte.10 Beispielhaft hierfür ist das in den 1830er Jahren von dem
Dänen Christian Thomsen fast gleichzeitig mit dem
Salzwedeler Gymnasialdirektor Johann Friedrich Danneil
und dem Schweriner Archivar Friedrich Lisch entwickelte
und im Prinzip bis heute angewendete «Dreiperiodensystem» mit seiner Abfolge von Steinzeit, Bronzezeit und
Eisenzeit nach den vorherrschenden Materialien für Werkzeuge.11 Unterschiedliche Kultur- und Gesellschaftsstrukturen wurden damit in ihrer Abfolge auf das Fundmaterial
reduziert, ohne dass damit weitergehende Fragestellungen
verbunden worden wären.
So schrieb bereits im Jahre 1844 der Tübinger
Bibliothekar Karl August Klüpfel (1810–1894) über die
damalige archäologische Altertumsforschung mit ihrer
antiquarischen Ausrichtung:
«Hier ist das Gebiet, auf dem sich der Dilettantismus und die Curiositätenkrämerei breit macht, und es ist
oft wirklich lächerlich, mit welcher Wichtigtuerei einige
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Unterschiedliche Geschichte?
alte Scherben, Ringe und Waffen, die aus einem Grabe
hervorgezogen worden sind, beschrieben werden, als hätte man die wichtigste Entdeckung gemacht (...) Genau
betrachtet haben diese Ausgrabungen nirgends zu grossen
Resultaten geführt, jedenfalls ist der Wert ihrer Entdeckung ein bloss secundärer, indem sie anderweitige Nachrichten bestätigen, aufgeworfene Vermutungen bestärken
und nur durch Combination mit physischen und geographischen Verhältnissen des Fundorts einige historische
Ausbeute gewähren».12
Wenn man dieses über 150 Jahre alte Zitat heute als
Gradmesser archäologischer Erkenntnis aus historischer
Sicht nutzt, wird man schnell feststellen müssen, dass es
vielfach immer noch Gültigkeit besitzt. Eine ohne weitergehende Fragestellungen arbeitende Archäologie ist oft
bestenfalls nur in der Lage, historische Vorgänge zu illustrieren, ohne selbst historischen vergleichbare Quellen zu
schaffen oder ihre Quellen entsprechend auszuwerten.13
Solche zeitgenössische Kritik hatte offenbar nicht
verhindern können, dass die antiquarische Betrachtungsweise lange Zeit die deutsche Altertumsforschung
beherrschte und durch ihren Mangel an historistisch
relevantem Gehalt eine zunehmende Entfremdung von
der Geschichtswissenschaft bewirkte. Das antiquarische
Beharren14 einerseits hatte dabei sein Gegenstück in der
fortschreitenden Entwicklung des Historismus im Rahmen
der Geschichtswissenschaft andererseits, was im Ergebnis
die Spaltung des früher einheitlichen Geschichtsbildes zur
Folge hatte.15
7
8
9
10
11
12
13
14
15
Wendehorst 2002, 9.
Deneke/Kahsnitz 1978.
Wendehorst 2002, 10.
Hier macht sich nun die Entstehung des Historismus bemerkbar, der sich
immer kritisch von der antiquarischen Betrachtung abzusetzen suchte; siehe
hierzu: Historismus 1996 und Rüsen 1993.
Eggers 1974, 32ff.
Klüppel 1844, 547.
Deutlich wird dies heute besonders in vielen historischen Ausstellungen, von
der Stauferausstellung 1977 bis zur Elisabethausstellung auf der Wartburg
2007, bei denen jeweils einige mittelalterliche Ausgrabungsfunde als nicht interpretiertes Beiwerk neben der üblicherweise vorherrschenden «Flachware»
präsentiert wurden. Dies als individuelles Versagen der Ausstellungsmacher
zu sehen, würde aber zu kurz greifen, denn hier wird das grundlegende strukturelle Problem einer Mittelalterarchäologie deutlich, die der Geschichtswissenschaft offensichtlich nichts zu sagen hat und entsprechend von dieser
auch nicht verstanden werden kann.
Eine solche Kritik der antiquarischen Methode beruht natürlich auf den
Grundsätzen der wissenschaftlichen Moderne; in der inzwischen aufgekommenen wissenschaftlichen Postmoderne – wenn man dies nicht als einen Widerspruch in sich ansehen will – kam es dagegen zu einer durchaus positiven
Einschätzung auch des Antiquarianismus als «Datenbank der Vormoderne»
und Mittel zur Auswertung unmittelbarer Überlieferung; siehe hierzu Ernst
1994, 140.
Historismus 1996; Rüsen 1976 und Rüsen 1993.
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Unterschiedliche Geschichte?
Dies führte dazu, dass sich, während die Zahl der
Vereine im Gesamtverein von 50 1884, 65 1887, 92 1889,
114 1891 und 142 im Jahre 1900 ständig wuchs,16 in den
deutschen Geschichts- und Altertumsvereinen dann in
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Altertumskunde zunehmend verselbständigte, was schliesslich zur
Spezialisierung bestehender und Gründung neuer spezialisierter Vereine führte. Eine solche Abgrenzung wurde im
Prinzip von beiden Seiten begrüsst: Die Altertumskunde
konnte nun ohne interne Kritik weiter ihre Gegenstände
antiquarisch betrachten, während sich die Geschichtswissenschaft in Deutschland, anders als in anderen Ländern,
vor allem unter dem Einfluss der bestimmenden «Göttinger Schule» nun mehr oder weniger ausschliesslich
den schriftlichen Überlieferungen zuwandte und andere
materielle Quellen ausser acht liess.17
Der ansonsten gegenüber der Fachgeschichte
durchaus kritische Alexander Gramsch sieht in dieser
Periode «...die Emanzipation der Urgeschichtsforschung,
die Loslösung von der Geschichte und Aufwertung gegenüber Klassischer Archäologie und Philologie».18 Der nun
entwickelte Begriff der «Vorgeschichte» grenzte das Fach,
das vor allem durch den Einfluss des Mediziners Rudolf
Virchows nun zeitweise eine deutlich stärkere naturwissenschaftlich-positivistische Ausrichtung bekam, auch
programmatisch von der Geschichtswissenschaft ab. Eine
zunehmend unabhängige, wenn auch akademisch noch
nicht verankerte eigenständige Vorgeschichtsforschung
ersetzte nun die einheitliche Geschichts- und Altertumsforschung älterer Prägung.
Diese Art von «Emanzipation» führte dann bald
nach der Jahrhundertwende folgerichtig zur Gründung
der heute noch bestehenden Altertumsvereine als neuer
Dachverbände der prähistorischen Forschung ausserhalb
des älteren Gesamtvereins. Unmittelbarer äusserer Anlass
war die bevorstehende Bildung der staatlichen RömischGermanischen Kommission 1902, der gegenüber ein
Ansprechpartner auf Vereinsebene geschaffen werden
sollte, die Gründe lagen aber, wie dargestellt, wesentlich
tiefer.
Die negative Auswirkung dieser Abspaltung wurde
auch von den Zeitgenossen durchaus wahrgenommen,
wie die rückblickende Ansprache des damaligen Vorsitzenden des Gesamtvereins Georg Wolfram 1928 bei der
Hauptversammlung in Danzig zeigte. So führte er aus,
dass, während in den ersten Jahrzehnten des Bestehens
des Gesamtvereins die Vor- und Frühgeschichte noch im
Vordergrund gestanden habe, diese in den letzten Jahren
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141
gegenüber der rein historischen Arbeit mehr und mehr
zurückgetreten sei. Das läge daran, dass sich die Kreise,
welche sich mit Archäologie und Denkmalpflege beschäftigten, zu selbständigen Vereinigungen zusammengeschlossen hätten und neben dem Gesamtverein nun auch
eigene Tagungen abhielten.19 Und weiter folgerte er:
«Ich fürchte, dass die Absonderungen nicht zum
Segen der gesamtdeutschen Wissenschaft gereichen. So
hervorragend auch die Männer sind, die in Museen und
archäologischen Vereinen die fachwissenschaftliche Führung haben, so bedenklich erscheint es jedoch, wenn
durch zunftmässige Absonderung der Gedankenaustausch mit den Kreisen der Fachhistoriker zurücktritt
und der Zusammenschluss mit den breiten Schichten der
gebildeten und heimatliebenden Bevölkerung verloren
geht.»20
Der zweite Teil dieser Ausführungen mit dem
Bezug auf die Fachwissenschaft macht noch einmal einen
Rückblick auf das 19. Jahrhundert, nun aber speziell den
akademischen Bereich, notwendig. Die Einheit zwischen
akademisch institutionalisierter Wissenschaft, ausseruniversitären Wissenschaftlern und dem breitem Kreis der
interessierten Laien, oft als Indiz für eine noch vorwissenschaftliche Phase des Faches insgesamt negativ bewertet,
war nämlich bereits seit der Jahrhundertmitte zunehmend
unter Druck geraten. Bereits 1851 hatte Jacob Grimm
geschrieben:
«Universitätsstädte taugen nicht als Sitz für historische Vereine, sie nehmen einen höheren Schwung.
Stösst einem Professor etwas Altertümliches auf, so hat
er Mittel und Wege, es anderwärts vorzubringen und
nach seiner Weise schon zu verarbeiten; er wartet damit
nicht auf ein Vereinsheft, das ihm nicht vornehm genug
ist. Kurz, der Gegensatz der höheren Universität stört die
stille ländliche Tätigkeit, ohne welche der Verein nicht
gedeiht.»21
Es machte sich also langsam ein Gegensatz zwischen bürgerschaftlicher und akademischer Forschung
bemerkbar, der sich insbesondere nach der Reichsgründung 1871 verschärfte: Aus Sicht der Regierungen hatten
die Vereine mit der Reichgründung «von oben» ihre Auf-
16
17
18
19
20
21
Wendehorst 2002, 21.
Historismus 1996.
Gramsch 2006, 6.
Wendehorst 2002, 41.
Korrespondenzblatt des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine 77 (1929), Sp. 3., nach Wendehorst 2002.
Wendehorst 2002, 14.
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gaben nun erfüllt, an ihre Stelle traten die im obrigkeitlichen Sinne viel besser lenkbaren Universitäten als Träger «nationaler Wissenschaft». Innerhalb der Geschichtswissenschaften sah man dies als notwendigen Schritt
einer Professionalisierung des Faches an, ja geradezu als
Vollzug des Übergangs zur Phase der Wissenschaftlichkeit. Mit dem Ausbau der Geisteswissenschaften setzte
parallel aber auch eine verstärkte Fachbildung ein. Hierzu gehörte in allen geisteswissenschaftlichen Fächern im
Deutschen Reich stets sich wiederholend die scharfe programmatische Abgrenzung eines Teilbereichs des bisherigen Faches und der Aufbau eines zugehörigen eigenen
Lehrgebäudes, der Paradigmen im Sinne von Thomas S.
Kuhn oder der «disziplinären Matrix» im Sinne Rüsens.22
Interessant ist in diesem Zusammenhang der zutreffende
Einwand von Iggers, dass Geschichte auch Wissenschaft
werden könne, ohne sich als Disziplin zu institutionalisieren, wie etliche andere europäische Länder zeigten.23 Vor
diesem Hintergrund ist es sicher richtig, die Entwicklung
in Deutschland als «deutschen Sonderweg» der Wissenschaftsgeschichte zu betrachten. Dies ernst genommen,
und auf die anderen hier betrachteten Fächer ausgedehnt,
würde dann die Perspektive zu einer vergleichenden Wissenschaftsgeschichte im gesamteuropäischen Rahmen
eröffnen, wie sie bislang zumindest aus deutscher Sicht
vielfach noch fehlt, wird hier doch die nationale Entwicklung oft noch implizit als einziger möglicher Weg gesehen und entsprechend überschätzt.24
Typisch für die deutsche Entwicklung ist dann
zusätzlich, dass sich innerhalb der entstandenen Fächer
schnell konkurrierende «Schulen» entwickelten, was die
Abgrenzung untereinander noch weiter förderte. Da sich
die verschiedenen Schulen der deutschen Geschichtswissenschaft bei allen Gegensätzen nun fast ausschliesslich
mit Personen- und Ereignisgeschichte beschäftigten, fehlten bald auch von dieser Seite die Anknüpfungspunkte
für eine Zusammenarbeit mit den zwar nicht programmatisch, aber dennoch faktisch weit eher auf Fragen der
Alltagsgeschichte bezogenen Altertumswissenschaften.
Akademische Professionalisierung bedeutete schliesslich zugleich auch die Abkehr von den auch Laien einschliessenden Vereinen und Forschungsinstitutionen, die
nun unter Abgrenzung des eigentlichen akademischen
Bereiches vor allem den aus Ordinariensicht niedrigeren
akademischen Rängen von Bibliothekaren und Archivaren überlassen wurden.
Der Universalismus Humboldts wurde also nun
tendenziell zunehmend durch abgegrenzte Einzelfächer
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Unterschiedliche Geschichte?
ersetzt, wobei in diesem teilweise jahrzehntelang andauernden und keineswegs gradlinigen Prozess allerdings
auch noch erhebliche Freiheiten blieben. Dies lässt sich
beispielhaft deutlich im Bereich der Antikenforschung
und klassischen Archäologie in Deutschland zeigen, wo
nach den aufklärerischen Wurzeln des 18. Jahrhunderts
nun im 19. Jahrhundert zunehmend auch die beabsichtigte aussenpolitische Wirkung bestimmend wurde,
wodurch das Fach eine ganz andere Relevanz bekam. So
hat man das auf durchaus vereinsähnliche Vorläufer in
der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückgehende
Deutsche Archäologische Institut (DAI) 1871 in eine
preussische Staatsanstalt und 1874 in eine Reichsinstitution im Geschäftsbereich des Aussenministeriums, wo das
DAI übrigens bis heute angesiedelt ist, umgebildet, mit
der Zentrale in Berlin und anfangs Zweigstellen in Rom
und Athen.25
Allerdings gab es damals in der Antikenforschung
zwar mit kunsthistorisch fundbezogenen Archäologen,
geografisch ausgebildeten Topographen und philologisch ausgerichteten Epigraphikern eine deutlich breitere
Ausrichtung als in der auch nach Montelius mehr oder
weniger nur antiquarisch interessierten «nordischen»
Altertumsforschung, aber eigentliche Archäologen im
modernen Sinne fehlten noch weitgehend. Dafür fanden
hier für die Aufnahme der ergrabenen Architekturreste
die Bauhistoriker der Architekturfakultäten ein wichtiges
Arbeitsfeld. Sie vor allem waren es, die den Blick der Ausgräber von den bislang im Vordergrund stehenden Funden mit ästhetischen Ansprüchen auf die Bedeutung der
(Architektur-)Befunde lenken sollten.
In diesem Zusammenhang war als Bauforscher26
von Seiten der Berliner Bauakademie seit 1874 der Berliner Ordinarius für Baugeschichte Friedrich Adler (1827–
1908) bei der deutschen Ausgrabung in Olympia tätig. Er
gewann den von ihm ausgebildeten Architekten Wilhelm
Dörpfeld, der inzwischen im Eisenbahnbau tätig gewesen war, 1877 für diese Grabung, deren Leitung der junge Dörpfeld bereits im darauffolgenden Jahr übernahm.
22
23
24
25
26
Rüsen 1976.
Siehe hierzu Iggers 1994.
Umgekehrt ist es so, dass im Rahmen einer Geschichte der Weltarchäologie die deutsche Archäologie nach 1914 offenbar kaum noch Leitungen und
Persönlichkeiten hervorgebracht hat, die in einem solchen Rahmen grösserer
Erwähnung Wert wären, siehe dazu z.B. das auch auf Deutsch vorliegende
Standardwerk Daniel 1982.
Siehe hierzu Michaelis 1879 und DAI 1979–1986.
Es handelt sich hierbei zweifellos bereits um Bauforscher, wenn auch dieser
Begriff damals noch nicht existierte und erst in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts entstand.
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Bis zum Abschluss der Arbeiten 1882 entwickelte er hier
mit minutiösen Bauaufnahmen und detaillierten Beobachtungen von baulichen Strukturen und zugehörigen
Schichten sowohl die Grundlagen der modernen Bauforschung als auch der stratigraphisch arbeitenden Archäologie, die hier also durchaus gemeinsame Wurzeln besitzen.
Dörpfelds Ruf hatte sich schnell verbreitet, so dass ihn
Heinrich Schliemann 1882 für seine privat finanzierten
Grossgrabungen gewann und 1885 als Grabungsleiter in
Troja und Tiryns im Rahmen seiner ausgedehnten Grabungsunternehmungen beschäftigte. Hier arbeiteten
nun, vergleichbar den glücklichsten Konstellation in den
frühen historischen Vereinen, ein fachlicher Aussenseiter,
der seine Unternehmungen gegen die herrschende Lehre
durchgesetzt hatte, und der damals methodisch führende
Archäologe eng zusammen. Dörpfeld war es damit gelungen, im Formierungsprozess des neuen Faches Archäologie in entscheidender Weise die Richtung vorzugeben,
ohne selbst dort bereits institutionell verankert zu sein.
Anschliessend trat Dörpfeld bis zu seiner Pensionierung 1912 in den Dienst des DAI, dessen Abteilung Athen er von jetzt an leitete. Dörpfeld, der nebenbei übrigens auch noch selbst Gebäude plante, wie das
Dienstgebäude des DAI in Athen, war damals nicht nur
der bedeutendste deutsche Archäologe mit sieben Ehrendoktorwürden und einer Honorarprofessur, sondern hatte mit Kaiser Wilhelm II. auch den prominentesten Grabungshelfer der damaligen Zeit. Bei seinem Eintritt in den
Ruhestand 1912 war die deutsche Klassische Archäologie
durch seine Kombination moderner Methoden mit einer
staatlich anerkannten Relevanz eine allseits anerkannte
Wissenschaft mit zudem «allerhöchster Protektion», die
auch im internationalen Vergleich bestehen konnte, ohne
dass diese Entwicklung primär aus dem akademischen
Bereich gekommen wäre.
Dass ein Aufstieg wie der Dörpfelds damals kein
Einzelfall war, zeigt als zweites Beispiel Albrecht Meydenbauer (1834–1921).27 Als untergeordneter preussischer
Baubeamter mit Bauaufnahmen am Wetzlarer Dom
beschäftigt, war er auf den Gedanken gekommen, die
damals neue Fotografie für Vermessungszwecke einzusetzen. Er entwickelte das Verfahren der Photogrammetrie,
das er gegen viele Widerstände aus dem akademischen
Bereich verteidigen musste. Dennoch gelang es ihm, zu
bewirken, dass im Jahre 1885 unter seiner Leitung in
Berlin die Königl. Preussische Messbildanstalt gegründet wurde, die nun systematisch mit der Erfassung von
Baudenkmälern, aber auch wichtiger Grabungen begann.
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Nach kurzer Zeit war hier eine weltweit vorbildliche neue
Institution entstanden, die für die exakte Vermessung von
Architektur und Ausgrabungen entscheidende Impulse
gab. Als Meydenbauer im Jahre 1905 in den Ruhestand
trat, gehörte er zu den angesehensten deutschen Akademikern im Baubereich.
Im Jahr vor Dörpfelds Ruhestand hatte 1911 ein
gewisser Gustav Kossinna seine für die zukünftige Entwicklung der Vorgeschichtsforschung in Deutschland
wegweisende Schrift «Die deutsche Vorgeschichte, eine
hervorragende nationale Wissenschaft» veröffentlicht.
Schon in dem selbstverliehenen Prädikat war zugleich
eine Kritik an dem bisherigen Aufstieg der Klassischen
Archäologie und ihrer Institutionalisierung durch die
Reichslimeskommission 1892 sowie die nachfolgenden
Römisch-Germanische Kommission enthalten, die im
Streit zwischen Germanenforschung und «Römlingen»
nun die nächsten Jahrzehnte bestimmen sollte.
Der ursprünglich philologisch ausgebildete Kossinna (1858–1931) war über verschiedene Zwischenstationen zur Altertumsforschung gekommen und bekleidete
seit 1902, dem Todesjahr Virchows und dem Jahr der
Gründung der Römisch-Germanischen Kommission,
den ausserordentlichen Lehrstuhl für Deutsche Archäologie in Berlin, die erste akademische Vertretung des
Faches, denn die Vorgeschichtsforschung hatte bis 1902
noch keine akademische Vertretung gehabt. Prähistorie
war bis dahin weiterhin die Domäne der Vereine und der
im Sinne Virchows anthropologisch, damit weitgehend
positivistisch ausgerichteten Forschungsgesellschaften
geblieben, bis nun Kossinna ein eigenes Theoriegebäude präsentierte und zugleich mit einer eindeutigen politischen Orientierung verband.
Er entwickelte nun, obwohl selbst kaum praktisch
tätig, mit der sog. «Siedlungsarchäologie», bei der mit
weitgehend antiquarischen und typologischen Methoden
gewonnene Erkenntnisse retrospektiv zur Grundlage von
«archäologischen Kulturen» mit ihren unmittelbar zugehörigen Völkern werden sollten, die sog. «Lex Kossinna»,
eines der typischen Lehrgebäude, das nun massgeblich
zur Theoriebildung der Vorgeschichte in der ersten Hälfte
des 20. Jahrhunderts beitragen sollte. Die Grundlage seiner Vorgehensweise fasste er zusammen:
«Diese Methode bedient sich des Analogieschlusses, insofern sie die Erhellung uralter, dunkler
Zeiten durch Rückschlüsse aus der klaren Gegenwart oder
27
Meyer 1985.
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aus zwar ebenfalls noch alten, jedoch durch reiche Überlieferung ausgezeichneten Epochen vornimmt. Sie erhellt
vorgeschichtliche Zeiten durch solche, die in geschichtlichem Lichte stehen, zunächst am besten die jüngsten,
dem Beginn der Geschichte unmittelbar vorausliegenden
vorgeschichtlichen Zeiten durch die benachbarte Frühgeschichte. Diesen so angesponnenen Faden der Erkenntnis vorgeschichtlicher Zeit ... lassen wir nun nicht wieder fallen, sondern spinnen ihn in immer ältere Zeiten
hinauf».28
Für die Geschichtsforschung gleich welcher Richtung musste angesichts der spekulativen Grundlagen der
«Lex Kossinna» ein solcher Ansatz unakzeptabel sein,
weshalb sich neben der formalen Abtrennung der akademischen Vorgeschichte auch im Theoriebereich der
bereits bestehende Graben zwischen den Fächern von
nun an weiter vergrösserte.
Aber auch innerhalb des Faches legte es Kossinna
auf Polarisierung an. Dies wird besonders deutlich an der
Auseinandersetzung mit seinem vielfach erfolgreicheren
Rivalen Carl Schuchardt. Auch dieser kam von der Philologie her, hatte dann aber durch das DAI die modernen
Methoden der Klassischen Archäologie kennengelernt
und als Direktor des Kestner-Museums in Hannover
auf nordeuropäische Aufgaben der Archäologie übertragen. In dieser Position war er massgeblich 1905 an der
Gründung des «Nordwestdeutschen Verbandes für Altertumsforschung» als regionalem Dachverband beteiligt
gewesen. 1908 übernahm Schuchardt dann die Leitung
der Vorgeschichtlichen Abteilung des Berliner Völkerkundemuseums und wurde im Jahr darauf zum Herausgeber
der «Prähistorischen Zeitschrift». Auch von Berlin aus
setzte er seine erfolgreiche archäologische Tätigkeit fort
und konnte ebenso wie Dörpfeld den Kaiser für seine Forschungen begeistern.29 Beide konnten damit neben ihren
unbestreitbaren Leistungen als Vertreter einer etablierten,
anerkannten Archäologie des Kaiserreichs gelten.
Kossinna, der Schuchardt wegen seines klassischarchäologischen Hintergrundes in der gegenseitigen Konkurrenzsituation bei jeder sich bietenden Gelegenheit
scharf zu kritisieren suchte, stand dagegen dem «Alldeutschen Verband» nahe, einer national-chauvinistischen
Organisation, die als «nationale Opposition» die damalige
Führung des Kaiserreichs von rechts attackierte;30 damit
öffnete er das Fach zusätzlich für Radikalisierungen in
einem völkischen Sinne.31 Um die entsprechenden Kräfte
zu bündeln, hatte Kossinna im Jahre 1909 für den eher
konservativen, oftmals bereits völkisch eingestellten Teil
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der Prähistoriker die «Gesellschaft für deutsche Vorgeschichte» mit der Zeitschrift «Mannus» gegründet, womit
nun auch der Vereinsbereich abgedeckt wurde. Allerdings
war ein solcher Verein nicht mehr bürgerlich-emanzipatorisch wie im 19. Jahrhundert angelegt, sondern diente nun
vor allem der Durchsetzung der Ziele seiner Leitung.
III. Die deutsche Archäologie in der
Zwischenkriegszeit und im Nationalsozialismus
Die zwanziger und frühen dreissiger Jahre des 20. Jahrhunderts sind dann durch das nebeneinander von antiquarisch-positivistischer Richtung32 und Kossinnas Theorien geprägt, die mit dem Aufstieg der NSDAP zunehmend Anhänger und politische Relevanz gewannen.
Die unmittelbare Übertragung der Theorien des
1931 verstorbenen Kossinnas in die Strukturen des Dritten Reiches lässt sich dann vor allem an der Person von
Karl Hans Reinerth festmachen. Der aus Siebenbürgen
stammende Reinerth hatte seit Juni 1918 in Tübingen
Theologie studiert, wobei er aber sein Studium durch
Einschluss verschiedener naturwissenschaftlicher Fächer
sehr breit angelegt hatte.33 Nachdem sein prähistorisches
Interesse vorherrschend geworden war,34 soll er in den
Semesterferien an Übungen von Gustaf Kossinna in Berlin teilgenommen haben.35 Schliesslich wurde er dann
bereits im März 1921 bei Richard Rudolf Schmidt in
Tübingen36 über die «Chronologie der jüngeren Steinzeit
in Süddeutschland» promoviert, womit er den chronologischen Ansatz Kossinnas auch für Südwestdeutschland
zu belegen versuchte.37 Reinerth konnte dann zwischen
1921 und 1923 als Assistent an dem damals neugegründeten und durch Drittmittel finanzierten Urgeschichtlichen Forschungsinstitut (UFI) Schmidts in Tübingen
arbeiten. Er habilitierte sich bereits 1925 mit einer Arbeit
über «Die jüngere Steinzeit der Schweiz» und lehrte bis
1934 als Privatdozent in Tübingen, während er weiter
für das UFI zahlreiche Ausgrabungen durchführte.38 Das
28
29
30
31
32
33
34
35
36
37
38
Eggers 1974, 211.
Grünert 1987; Menghin 2007.
Kruck 1954.
Zum Begriff des «Völkischen» im Kaiserreich siehe Puschner 2001.
Müller-Karpe 1975, 30f.
Schöbel 2002, 324.
Schöbel 2002, 324.
Grünert 1987; Ziehe 1996.
Wie damals an allen deutschen Universitäten war die Prähistorie in Tübingen
nur durch eine ausserordentliche Professur vertreten; erst 1928 sollte in Marburg die erste deutsche ordentliche Professur für Vorgeschichte entstehen.
Schöbel 2002, 324.
Schöbel 2002, 324f.
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nun von Reinerth mitgeprägte UFI war als ein «Aninstitut»39 methodisch durch den interdisziplinären Ansatz
unter Einschluss der Naturwissenschaften, aber auch grabungstechnisch für die damalige Zeit sehr fortschrittlich;
hinzu kam eine beispiellose Öffentlichkeitsarbeit durch
zahlreiche Führungen und Vorträge, aber auch museale
Umsetzungen.40
Der hier überaus erfolgreiche Reinerths geriet
erwartungsgemäss schnell in Streit mit Fachbehörden
und Kollegen, suchte aber auch selbst die Auseinandersetzung mit der damals universitär bereits ungleich besser verankerten (klassischen bzw. provinzialrömischen)
Archäologie.41 Wissenschaftsgeschichtlich suchte hier die
Vorgeschichtsforschung in Person von Reinerth ihren
bisherigen Rückstand gegenüber der klassischen Archäologie aufzuholen, wobei Reinerth anders als sein Vorbild
Kossinna durchaus modernste Feldarchäologie mit den
Theorien der Siedlungsarchäologie zu verbinden wusste.
Reinerths Karriere bekam allerdings einen jähen Knick,
als er 1929 – wie man heute weiss, zu Unrecht – verdächtigt wurde, für die – in der Sache berechtigten – Korruptionsvorwürfe gegen seinen Lehrer Schmidt verantwortlich zu sein, weshalb man ihm den Titel eines ausserordentlichen Professors aberkannte.42
Diese Vorgänge dürften sicherlich die in der bisherigen völkisch-konservativen politischen Einstellung
Reinerths bereits angelegte Hinwendung zur NSDAP
beschleunigt haben: Im Dezember 1931 wurde er kurz
nacheinander Mitglied des «Kampfbundes für deutsche
Kultur» unter Leitung des NS-Parteiideologen Alfred
Rosenberg und dann auch der Partei selbst.43 Mit der Leitung der neuen «Fachgruppe für deutsche Vorgeschichte» des Kampfbundes wurde Reinerth 1933 zum engsten
Mitarbeiters Rosenbergs auf diesem Gebiet, dann im Mai
1934 Leiter der Abteilung Ur- und Frühgeschichte im
«Amt Rosenberg», wobei er nun versuchte, im «Reichsbund für deutsche Vorgeschichte», hervorgegangen aus
Kossinnas «Gesellschaft für deutsche Vorgeschichte», alle
anderen bestehenden Vereinigungen auf diesem Gebiet
zusammenzufassen.44
Dieser rasanten Parteikarriere entsprach auch der
schnelle Aufstieg im universitären Bereich: Mit Hilfe
Rosenbergs wurde er zum 1. November 1934 in Berlin
als Nachfolger von Kossinna, nun aber als ordentlicher
Professor, auf den dortigen Lehrstuhl berufen.45 Reinerth
stand nun auf dem Höhepunkt seiner Macht, die er
anfangs durchaus erfolgreich bei der Gleichschaltung der
Altertumsvereine einsetzte.46 Hierbei machte er sich aber
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145
auch viele neue Feinde, die nun in den Jahren 1935/36
zusammen mit etlichen seiner bisherigen Gegner ausgerechnet den Schulterschluss mit der SS suchten. Deren
Reichsführer Heinrich Himmler hatte damals für seine
prähistorischen Ambitionen den Verein «Forschungsgemeinschaft für deutsches Ahnenerbe» gegründet, in dem
anfangs der sehr umstrittene völkische Gelehrte Herman
Wirth bestimmend war.47 Gleichzeitig mit dem wachsenden Wunsch Himmlers, sich von Wirth zu lösen, drängten
immer mehr als «seriös» geltende Prähistoriker in den
Verein. Schliesslich standen, sieht man von persönlichen
Vorlieben und Abneigungen ab, hinter Reinerth mehr
die offenen Propagandisten einer nationalsozialistischen
Archäologie, während im SS-Ahnenerbe die nach aussen
zurückhaltenderen Forscher mit letztlich den gleichen
Zielen arbeiteten.
Hieraus ergab sich schliesslich in der zweiten
Hälfte der 30er Jahre ein immer schwankendes, aber
letztlich doch austariertes Gleichgewicht der Kräfte zwischen dem Reichsführer SS einerseits und dem Reichsleiter Rosenberg als offiziellem Chefideologen der Partei
andererseits, während Hitler, der allen Germanenphantasien äusserst skeptisch gegenüberstand, eher das DAI
und die provinzialrömische Forschung unterstützte.48
Solche Dispositionen gehörten zu den typischen Machtprinzipien des Nationalsozialismus, die sich als durchaus
wirkungsvoll erwiesen.
So nahm die prähistorische Forschung unter diesen Voraussetzungen nun einen bislang unbekannten
Aufschwung, gehörte bald zu den angesehensten geisteswissenschaftlichen Fächern mit breiter Popularisierung
ihrer Themen und kam schliesslich bis 1942 auf bereits
17 Lehrstühle. Die inzwischen erfolgte Auswertung der
NSDAP-Zentralkartei hat allerdings auch ergeben, dass
mit einer Mitgliedschaftsquote von annähernd 90% das
39
40
41
42
43
44
45
46
47
48
Das Urgeschichtlichen Forschungsinstitut UFI war als ein ausschliesslich
drittmittelfinanziertes Institut für die damalige Zeit eine absolute Novität
und wäre nach heutigem Verständnis ein «Aninstitut». Der Begriff des «Aninstitutes» bezeichnet seit den 1990er Jahren an den deutschen Hochschulen
eine assoziierte privatwirtschaftlich arbeitende Forschungseinrichtung; durch
die Entwicklung der letzten Jahre ist dieses Modell heute bereits wieder weitgehend überholt.
Klein 2009.
Wiwjorra 2002.
Schöbel 2002, 333f.
Bollmus 2006, 154ff.
Schöbel 2002, 341ff.; Bollmus 2006, 173ff.
Schöbel 2002, 343; Meyer, 11f.
Schöbel 2002, 343.
Kater 2001, 11ff., 17 f. und 41ff.; Bollmus 2006, 178ff.
Kater 2001, 41ff.
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146
Fach eine im akademischen Bereich beispiellose Regimenähe aufwies.49 Dabei wurde in dieser Zeit wenig zur
Theoriebildung beigetragen, denn die seit Beginn des 20.
Jahrhunderts entwickelten Grundannahmen blieben nun
in radikalisierter Form auch weiterhin gültig.
Reinerth wurde als Ausdruck geänderter Machtverhältnisse kurz vor dem Ende des Dritten Reiches noch
am 27. Februar 1945 aus der NSDAP ausgeschlossen.50
Hauptvorwürfe in dem bereits länger laufenden Verfahren waren Angriffe gegen verdiente Parteigenossen und
enge Kontakte zu jüdischen Fachkollegen, ein Vorwurf,
den Herbert Jahnkuhn, Leiter des Grabungswesens des
«SS-Ahnenerbes» und immer ein Hauptkonkurrent von
Reinerth, bereits 1937 im Kollegenkreise erhoben hatte.51
Unter anderen Umständen und bei einer anderen Person wäre ein solcher Parteiausschluss ausreichend
gewesen, um nach 1945 ein Entnazifierungsverfahren
ohne Verurteilung zu überstehen. Aufgrund von Beschuldigungen von Fachkollegen wurde Reinerth aber im März
1946 festgenommen und interniert; im August 1949
erfolgte in einem Spruchkammerverfahren die Einordnung als «Schuldiger». Schliesslich galt für ihn in öffentlicher Forschung und Lehre ein letztlich lebenslängliches
Berufsverbot.52
IV. Die deutsche Archäologie nach 1945
und die Archäologie des Mittelalters
Die in Hinblick auf Reinerth auf den ersten Blick begrüssenswerte (Selbst-)Reinigung des Faches wird allerdings
bei näherem Hinsehen suspekt, betraf sie doch fast ausschliesslich Reinerth und seine wenigen zuletzt noch verbliebenen Anhänger als Sündenböcke, während die Mitarbeiter des «SS-Ahnenerbes» und andere Fachkollegen,
die «nur» Parteimitglieder gewesen waren, bereits wieder
an ihren Karrieren arbeiteten, die schliesslich in der Bundesrepublik bruchlos fortgesetzt werden konnten.53
Mindestens genauso gross wie der personelle war
der fachliche Schaden, der hieraus entstand, denn für lange Jahrzehnte wurde es nun zum Leitmotiv der deutschen
Prähistorie, Deutungsfragen im sicheren Elfenbeinturm
einer abgehobenen positivistischen Wissenschaft grundsätzlich aus dem Weg zu gehen,54 und dabei in der Fachgeschichte die letzten Jahrzehnte sorgsam auszusparen.55
Wo dagegen scheinbar neue Ansätze auftauchten, stellte
sich bei näherem Hinsehen schnell heraus, dass hier meist
nur altbekannte Vorstellungen unter Umgehung der belasteten Terminologie neu benannt worden waren. Typisch
hierfür ist einerseits z.B. Hans Jürgen Eggers, der zwar
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Kossinnas Grundannahme der ethnischen Deutung übernahm, dessen Methode aber scharf kritisierte und daher
eine neue Methodik zu entwickeln suchte, um vergleichbares zu beweisen,56 oder Herbert Jankuhn, der versuchte,
den Begriff der «Siedlungsarchäologie», der den Kern von
Kossinnas Theorie dargestellt hatte, zu einer allgemeinen
Methode der feldarchäologischen Siedlungsforschung
umzudeuten.57 Hiermit verbunden war seitens Jankuhns
auch der Versuch einer engeren Zusammenarbeit mit den
Geschichtswissenschaften, der aber abseits persönlicher
Beziehungen weitgehend folgenlos blieb, sobald deutlich
wurde, dass diese Kooperation zu den Bedingungen der
Archäologen erfolgen sollte. Zweifellos zielte die erst 1977
veröffentlichte «Einführung in die Siedlungsarchäologie»
Jankuhns aber auch darauf, die inzwischen zunehmend
an Bedeutung gewinnende Archäologie des Mittelalters
zu vereinnahmen.
Eine Archäologie des Mittelalters hatte es als
Unterströmung neben der vorherrschenden Prähistorie
seit dem 19. Jahrhundert mehr oder wenig kontinuierlich gegeben, ohne dass sie sich als Fach institutionalisiert hätte. Fehring hat völlig zu Recht die Archäologie
von Kirchen, Siedlungen und Burgen als die drei Wurzeln der modernen Mittelalterarchäologie mit entsprechend langen Traditionen dargestellt.58 Dabei waren hier
zwar auch, aber nicht überwiegend, Prähistoriker beteiligt, daneben aber auch Historiker, Kunsthistoriker und
Vertreter anderer kulturwissenschaftlicher Disziplinen,
wobei neben Fachwissenschaftlern auch Laien zu finden
waren. Damit wurden hier durchaus positive Traditionen
des 19. Jahrhunderts fortgeführt, und auch das Verständnis als historisches Fach war in diesem Zusammenhang
immer ausgeprägt. Nach dem 2. Weltkrieg kam es in den
zerstörten Städten wiederum unter diesem Vorzeichen
49
50
51
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Pape 2002.
Schöbel 2002, 350ff.
Schöbel 2002, 348.
Schöbel 2002, 359.
Schöbel 2002, 359f.
Immerhin muss zugestanden werden, dass die lang andauernde Theoriefeindlichkeit der deutschen Vorgeschichtsforschung ihr auch das Aufkommen
postmoderner Theorien und Anschauungen weitgehend erspart hat, wodurch
ihr viele Diskussionen, die sich im angelsächsischen Raum mittlerweile als
fruchtlos herausgestellt haben, erspart blieben.
So enthält z.B. die auf einer 1974 (!) gehaltenen Vorlesungsreihe beruhende
«Einführung in die Vorgeschichte» von Hermann Müller-Karpe (Müller-Karpe
1975) zwar einen ausführlichen Teil zur Fachgeschichte vor 1933 und nach
1945, bei dem aber die Zeit des Nationalsozialismus vollständig ausgespart ist.
Eggers 1974.
Jankuhn 1977.
Fehring 2000, 5ff.
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Unterschiedliche Geschichte?
zu einer intensiven Arbeit, argwöhnisch beobachtet von
der universitären Prähistorie. So versuchte Eggers, indem
er nicht das vorwiegende Untersuchungsthema, sondern
den Untersuchungsort in den Mittelpunkt zu rücken
suchte, unter dem Begriff der «Stadtkernforschung» entgegen der damaligen Realität diesen Bereich vollständig
für sein Fach zu reklamieren: «Nach der Zerstörung der
grösseren Städte durch Bombenangriffe und bei ihrem
Wiederaufbau entwickelte sich die Stadtkernforschung
als neuer Zweig der Archäologie. Ihre Träger waren indes
nicht die mittelalterlichen [sic!] Kunsthistoriker, sondern
Prähistoriker, die allein die dazu notwendigen archäologischen Ausgrabungsmethoden beherrschten. Mit Staunen sahen die Kunsthistoriker, was alles man etwa für die
Baugeschichte von Kirchen und anderen mittelalterlichen
Anlagen durch exakte Grabungen feststellen konnte ...»59
Nachdem in den späten 1950er und frühen 1960er
die vorherigen Aktivitäten weitgehend erlahmt waren, war
ein neuer Aufstieg der Mittelalterarchäologie im Rahmen
der seit etwa 1970 in Deutschland einsetzenden Stadtsanierungen festzustellen. Mit dem Aufkommen einer
bald auch erstmalig institutionalisierten Archäologie des
Mittelalters und – später – der Neuzeit seit den 1970er
Jahren änderten sich zwangsläufig auch die Ansprüche
an die Theoriebildung des neuen Faches. Auch jetzt
kamen die wichtigsten Vertreter des neuen Faches eher
aus der Geschichtswissenschaft, Kunstgeschichte oder
Denkmalpflege als der akademischen Vorgeschichtsforschung. Das Erfolgsrezept war damals, das neue Fach
als ein historisches zu verstehen, in dem an historischen
Fragestellungen in wirklicher interdisziplinärer Form zu
arbeiten wäre. Allerdings ist es dann nicht gelungen, auf
dieser Basis rechtzeitig zu einem Schulterschluss mit den
Historikern zu kommen, für die eine weitere Spezialisierung ihres grossen Faches prinzipiell problemlos gewesen
wäre. Das Ziel hätte eine Verbindung von historischer
Forschung mit Grabungskompetenz sein können an
Lehrstühlen für Archäologie des Mittelalters im Rahmen
Historischer Institute.
Stattdessen wurde die an und für sich sinnvolle,
aber, wie die bisherige Fachgeschichte gezeigt hatte, keineswegs zwingende akademische Institutionalisierung
des Faches vor allem im Rahmen der Vor- und Frühgeschichte versucht, die in der Folgezeit nur allzu gern die
zeitweise «Abtrünnigen» aufnahm und schliesslich einzelne Inhalte des Faches zunehmend integrierte. Dies
zeigt sich gegenwärtig vor allem auch darin, dass neben
den wenigen «reinen» Ausbildungsgängen der Archäolo-
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147
gie des Mittelalters und der Neuzeit diese zunehmend als
Teilbereich unter anderen auch in prähistorischen Studiengängen Aufnahme gefunden hat.
Im Ergebnis erscheint die akademische Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit heute rückblickend
bereits wieder viel zu stark prähistorisch geprägt, um für
die Geschichtswissenschaften noch als Partner infrage
kommen zu können. Allerdings ist dieser Sieg der Vorgeschichte angesichts des derzeitigen Abbaues der kleinen
Fächer an den deutschen Universitäten nur noch wenig
wert, denn es ist durchaus fraglich, was in einigen Jahren von einer doch nach wie vor ihre Relevanz nur sehr
eingeschränkt beweisenden Vorgeschichtsforschung übrig
sein wird.
Dies ist dann vielleicht die Chance, wieder, wohl
vor allem ausgehend von dem ausseruniversitären Raum,
eine historische Archäologie im Geiste des Universalismus des 19. Jahrhunderts aufzubauen, denn Geschichte
wiederholt sich zwar nicht, man kann aber versuchen, aus
ihr zu lernen.
V. Epilog
Im Rahmen der Tagung kam die Frage auf, warum die für
Deutschland geschilderte Entwicklung in anderen Nachbarländern, so vor allem in der Schweiz, in der dargestellten Weise nicht festzustellen ist. Tatsächlich zeigt ja das
Beispiel von Werner Meyer, dass ein führender Mittelalterarchäologe der Schweiz von 1989 bis 2004 als Ordinarius
an einem historischen Institut tätig sein konnte, wozu es
in Deutschland keine Parallele gibt. Neben dem akademischen Bereich wäre auch auf eine gerade im Verhältnis
zur Grösse des Landes ausserordentlich breite mittelalterarchäologische Forschung in Vereinen und bei der Denkmalpflege zu verweisen, wobei die Ergebnisse vielfach zeigen, dass die Zusammenarbeit von Mittelalterarchäologen
und Historikern offenbar kein grösseres Problem dargestellt. Auch diese zweifellos positiven Phänomene bedürfen einer Erklärung. Tatsächlich ist es so, dass die Schweiz
bis zum 1. Weltkrieg sowohl im akademischen Bereich wie
auch in allgemeiner kulturgeschichtlicher Hinsicht sehr
eng an Deutschland angelehnt war, um dann für lange Zeit
einen entschieden eigenen Weg einzuschlagen. Dies hatte
zur Folge, dass sich viele positive Entwicklungen des 19.
Jahrhunderts wie das bürgerschaftliche Engagement in der
59
Eggers 1974, 20.
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148
Forschung fortsetzen konnten, während die negativen Folgen der akademischen Institutionalisierung angesichts der
geringen Anzahl der Lehrstühle insgesamt weitaus weniger Auswirkungen hatten. Seit den 1920er Jahren blieb
dann der Schweiz ein Kossinna oder Reinerth mit allen
geschilderten Folgen erspart, wenngleich diese hier durchaus auch Anhänger gefunden hatten. Schliesslich muss
darauf verweisen werden, dass gerade die französische,
zum Teil auch die italienische historische Forschung als
Reaktion auf die Kritik des Historismus einen völlig anderen, z.B. mit dem Kreis der Forscher um die «Annales»
schon früh die Alltagsgeschichte mit einbeziehenden Weg
genommen hat.60 Während dies in Deutschland lange Zeit
kaum zur Kenntnis genommen wurde, hatte die Schweiz
natürlich einen ganz anderen und leichteren, nicht zuletzt
Unterschiedliche Geschichte?
sprachlichen Zugang zu dieser westeuropäischen Forschungsrichtung, die vielfältige Anknüpfungspunkte für
archäologische Resultate bietet.
Ingesamt also eine durchaus positive Bilanz für die
Schweiz, wenngleich natürlich bedenklich stimmt, dass
die Arbeit von Werner Meyer in Basel – und auch sonst
im akademischen Bereich der Schweiz – keine Fortsetzung
gefunden hat und die in vielen Kantonen lange Zeit vorbildlich ausgestattete Denkmalpflege in den letzten Jahren
unter schwer verständlichen Kürzungen zu leiden hatte.
Solche Erscheinungen liegen zwar durchaus im europäischen Trend, was ihre Folgen aber in keiner Weise besser erscheinen lässt. Es steht jedenfalls zu hoffen, dass im
Zuge einer solchen Globalisierung nicht noch mehr der
positiven Traditionen der Schweiz verloren gehen.
60
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Burke 1991.
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Unterschiedliche Geschichte?
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Welche Stadtmauer und wenn ja – wo?
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Christoph Philipp Matt
Welche Stadtmauer und wenn ja – wo?
Irrungen und Wirrungen im Basler Stadtmauerwesen
I. Vorbemerkungen
Die Voreinladung der Zürcher Tagung «Geschichte und
Archäologie: Disziplinäre Interferenzen» stellte die
interessante Frage nach unterschiedlichen Konstrukten,
Rekonstruktionen und Interpretationen in Geschichte
und Archäologie. Der Schreibende fühlte sich spontan
angesprochen, hat er sich doch im Zuge seiner Beschäftigung mit den Basler Stadtmauern – beileibe nicht als
einziger! – mit Befunden, Rekonstruktionen, Interpretationen und Hypothesen auseinandergesetzt – und ist
ihnen im einen oder andern Fall auch selbst erlegen.1 Im
Folgenden soll also weniger die Forschungsgeschichte «als
solche» im Vordergrund stehen, und auch nicht die Darstellung, «wie es wirklich war». Vielmehr sei versucht, den
Gründen nachzuspüren, weshalb denn eine Hypothese
aufkam, akzeptiert, ggf. mit Vehemenz vertreten oder
eben auch bestritten wurde.
II. Chronist Wurstisen und die Stadtmauern –
ein Thema?
Nicht wirklich – Stadtmauern hat man im 16. Jh. einfach.
Basel blieben bedeutende Bilderchroniken versagt, wie
sie manche eidgenössischen Orte vorzuweisen hatten.
Dafür meldete sich die Stadt 1580 mit der grossen «Basler Chronik» von Christian Wurstisen zu Wort. In dieser
annalistischen Darstellung wird eher nebenbei der Bau
der äusseren Stadtmauer erwähnt, der nach der Schlacht
bei Sempach (1386) begonnen habe und nach zwölf
Jahren vollendet worden sei. Zwar führt der Chronist
auch auf, dass die Basler hierin dem Beispiel der Strassburger gefolgt seien, die damals drei grosse Vorstädte
so geschützt haben, oder er gedenkt des Baus oder Einsturzes des einen oder andern Bollwerks oder Stadtmauerabschnittes, aber Überlegungen zur Stadtentwicklung
sucht man vergebens.2
III. Peter Ochs und die Stadtentwicklung –
mehr als Ereignisgeschichte
200 Jahre nach Wurstisen versteht man die Geschichte der
Befestigungen auch als Teil der Geschichte der städtischen
Entwicklung. So verweist der Basler Politiker, Ratschreiber und Historiker Peter Ochs 1786 als erster auf die in
der 1101/03 datierten Stiftungsurkunde des Klosters St.
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Alban nur beiläufig erwähnte Stadtmauer des Bischofs
Burkhard von Fenis:3 «Igitur in his bellicis tempestatibus
quam fideliter partem domini sui imperatoris defendit
et quam strenue hostium suorum perfidiam impugnavit epistolari brevitate non est facile comprehendere,
verum munitiones et castella que ipse partim construxit
partim iam constructas probitate et industria sua beate
Marie adquisivit et murorum compagines quibus a nocturnis incursionibus hanc civitaten munivit me tacente qualis in bellicis fuerit negotiis satis poterunt comprobare»
(Übersetzung nach Ochs: «Nun hat der Bischof Burkard
in jenen kriegerischen Zeiten, die Sache seines Herrn des
Kaisers verfochten; und wie tapfer er die Treulosigkeit seiner Feinde angegriffen, lässt sich ins kürze nicht zusammen fassen. Er hat Verschanzungen und Schlösser theils
selbst gebauet, theils durch seine Rechtschaffenheit und
seine Verwendung der heiligen Maria erworben. Er hat die
Mauern aufgeführt, durch welche diese Stadt vor nächtlichen feindlichen Einfällen gesichert ist.») (Abb. 1 A).4
Weil der Bau der Äusseren Mauer seit Wurstisen
hinlänglich gut bekannt, zur Inneren Stadtmauer hingegen kein Baudatum überliefert ist, äussert er verständlicherweise die «ziemlich erwiesene» Ansicht, dass die sog.
Innere Stadtmauer diejenige eben dieses Bischofs aus der
Zeit um 1080 sei (Abb. 2). Darüber hinaus war Ochs der
Überzeugung, dass Basel bereits einen älteren Befestigungsring besessen habe; genau wie Wurstisen konnte er
sich eine Stadt ohne Mauern offenbar nicht vorstellen:
«Denn sie hatte schon in der vorhergehenden Periode
Thore, und also auch Mauern. Ich vermuthe, dass die
eigentliche Stadt, vor seinem (= Bischof Burkhard) Episcopat, nichts weiter als bis an den Birsig gegangen, und
aus dem Münsterplatz bis an die Bärenhut (= Kunostor in
der Rittergasse), und der Freyenstrasse bestanden habe».
1
2
3
4
Ich danke meinen Kollegen von der Archäologischen Bodenforschung für
den umfangreichen Austausch, der im Laufe vieler Jahre stattgefunden hat, so
für die Erarbeitung, Diskussion und Dokumentation der Befunde sowie für
die Redaktion des Textes und die Erstellung der Abbildungsvorlagen. Nennen
möchte ich insbesondere Guido Helmig und Toni Rey.
Wurstisen 1580, xxcvi.
Ochs 1786, 232, 242–245, 265; BUB, 1890, 8ff., insbes. 9,26 (Stadtmauer),
34ff. insbes. 35, 35–38 (Wicborc).
BUB 1, 1890, 9 Z. 21–28.
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Welche Stadtmauer und wenn ja – wo?
Abb. 2 Basel von Norden: Vogelschauplan von M. Merian d. Ae. (1615/17). Die äusseren, innern und Kleinbasler Stadtmauern sind hervorgehoben. Die Turmsignaturen bezeichnen innerstädtische Wehrtürme.
Des Weiteren wies er am Fischmarkt einen Turm nach:
«Vielleicht war dieser Thurm eines der Statthore selbst,
und auch zugleich die Wohnung eines Vasallen»5 (Abb.
1 A). Im Birsigtal zwischen Schifflände und Gerbergasse
nahm er vor der Mauer Handwerkerquartiere an – Annahmen, die noch weit ins 20. Jh. hineinwirkten.
IV. Daniel A. Fechter – vorsichtig importierte
Spekulationen
Die Identifikation von Peter Ochs der Inneren Stadtmauer mit der Burkhardschen wurde durch Daniel Albert
Fechters illustrativen Stadtrundgang in der «Topographie
mit Berücksichtigung der Cultur- und Sittengeschichte»
von Basel im 14. Jahrhundert fast wörtlich übernommen
und gewissermassen zementiert (Abb. 1 A): «Um daher
die Bewohner der Stadt ... gegen äussere Gefahr zu schütAbb. 1 A Stadtmauern nach Ochs 1786 und Fechter 1856. 1 Burkhardsche Mauer nach Ochs und Fechter, 2 Ältere Stadtmauer nach
Ochs (10./11. Jh.?), 3 Ältere Stadtmauer nach Fechter (10./11. Jh.?), ■
Stadttor (Torturm), Kirchen: M Münster, P St. Peter, L St. Leonhard,
B Barfüsserkirche, Ma Martinskirche.
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5
Ochs 1786, 244 f. – Der Turm ist urkundlich überliefUB 1, 1890, 265 Z. 1; Matt
1998, 308 Nr. 8 (dort wie schon bei Ochs leider falsch lokalisiert: Richtig ist,
einen Standort in der heutigen Nordhälfte des Marktplatzes anzunehmen.).
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Welche Stadtmauer und wenn ja – wo?
153
Abb. 3 Basel im 14. Jh.: Übersichtsplan aus Fechter 1856 mit verschiedenen wichtigen Gebäuden. Fechters «fester Abschluss» entspricht der von
Türmen gesäumten, linksufrigen Linie zwischen dem Stadtflüsslein Birsig und der Stadtmauer.
zen, schloss Bischof Burchard ... die Theile der Stadt ...
durch eine mit Thürmen und Thoren versehene Mauer
und mit einem Graben ein, den unsre Väter noch gesehen
haben».6 Gemeint ist also die Innere Stadtmauer entlang
der Graben-Strassen (Peters-, Leonhards- bis St. AlbanGraben; Abb. 2). Auch die Behauptung, wonach «Thore
und Thürme von Dienstmannen des Bischofs und angesehenen Geschlechtern als Lehen bewohnt (waren)», geht
auf Ochs zurück. Diese Meinung wurde noch 200 Jahre
später vertreten, ohne dass sie durch Quellen belegt werden konnte.7
Daniel Fechter hat am Fuss des Peters- und des
Leonhardsbergs zusätzlich einen älteren «festen Abschluss» postuliert, dessen Angelpunkte durch eine
Anzahl von Türmen und Schwibbogen gebildet sei (Fechter führt über zwei Dutzend solcher Türme auf; Abb. 3).8
Diese Linie macht einen etwas hypothetischen Eindruck.
– Auch eine funktionale Schilderung dieser Türme oder
eine Zuweisung an historisch bekannte Familien liess er
sich nicht entlocken. Weshalb brauchte er so unverbind-
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liche Formulierungen wie «fester Abschluss» und «Türme»
und blieb in seinen sonst so lebendigen Schilderungen
merkwürdig blass? Dies blieb dem Schreibenden lange
verborgen, bis ihm im Jahre 2004 dank eines Besuchs der
Ausstellung «Stadtmauern – Ein neues Bild der Stadtbefestigungen Zürichs» im Haus zum Rech die Augen geöffnet wurden:9 Salomon Vögelin hat in seinem Buch «Das
alte Zürich» bereits 1829 aufgrund der markanten Zürcher
Geschlechtertürme eine Stadtmauer postuliert. Verständlich, dass sich Fechter 1856 dem eine Generation zuvor
formulierten starken Bild der «Ritterturm»-gestützten
Stadtmauer nicht entziehen konnte! Es ist ihm aber hoch
anzurechnen, dass er sich äusserster Zurückhaltung unterzog. So spricht er nie von einer Stadtmauer (oder wie
6
7
8
9
Fechter 1856, 99f.
Meyer 1981, 142–144. d’Aujourd’hui 1989, 159 und 1990, 176.
Fechter 1856, 98f. – Weiteres zu dieser heute völlig überholten Hypothese:
Matt 1998, 305.
Auch der Titel der gleichnamigen Publikation von Wild/Motschi/Hanser
2004.
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154
Welche Stadtmauer und wenn ja – wo?
V. August Bernoulli – der Not gehorchend
Abb. 1 B Stadtmauern nach Bernoulli 1917 und Müller 1955.
4 Burkhardsche Stadtmauer, 5 Innere Stadtmauer.
Vögelin von «Wehrinen»), sondern – wie erwähnt – bloss
von einem «festen Abschluss». Und auch Begriffe, wie Ritter-, Adels-, Geschlechtertürme oder Tore sucht man bei
Fechter, dem profunden Kenner der Basler Geschichtsquellen, in diesem Zusammenhang vergebens.
Abb. 1 C Stadtmauern nach Maurer 1961/66, Strübin 1957, Berger
1963 und Moosbrugger 1968. 5 Innere Stadtmauer, 6 Burkhardsche
Stadtmauer nach Maurer 1961/66, 7 Burkhardsche Stadtmauer nach
Strübin 1957, 8 Burkhardsche Stadtmauer nach Berger 1963, 9 Burkhardsche Stadtmauer nach Moosbrugger 1968, 10 Schloss Wildeck/
Tanneck nach Moosbrugger 1968.
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In der Zwischenzeit wurden die mittelalterlichen Quellen
etwas genauer interpretiert. Der sagenhafte, aus späterer
Zeit überlieferte Gründungsbericht der Leonhardskirche,
welche die Kirche im Jahre 1033 auf grüner Wiese ausserhalb der Stadt entstehen lässt, wurde angezweifelt. Das
Jahr passe nicht zu einem im Bericht genannten Bischof
Rudolf, und überhaupt sei die Jahrzahl unter Berücksichtigung einer Rasur vermutlich als 1118 zu lesen. Wenn
nun die Kirche somit erst im Jahre 1118 gegründet und
als ausserhalb der Stadt liegend bezeichnet worden sei,
dann könne es sich bei der auf Abb. 2 so deutlich sichtbaren «inneren» Mauer nicht um diejenige des Bischofs
Burkhard handeln.10 Dies schloss August Bernoulli richtig
aus den Vorarbeiten von Rudolf Wackernagel, in dessen
grosser Stadtgeschichte (der drittten nach Wurstisen und
Ochs) die Frage des Gründungsberichtes von St. Leonhard abgehandelt wurde.11
Nun stand Bernoulli vor dem Problem, der jetzt
gewissermassen heimatlos gewordenen Burkhardschen
Mauer ein neues Trassee zuweisen zu müssen. Da half
ihm die längst formulierte Hypothese von Fechter aus
der Klemme, der – wie oben dargestellt – seinen älteren
«festen Abschluss» innerhalb der angeblichen Burkhardschen Mauer postulierte. Bernoulli brauchte somit die
Burkhardsche Mauer nur gewissermassen etwas nach
innen zu rücken und hatte sie damit wieder lokalisiert
(Abb. 1 B 4). Zur Plausibilität dieser Linie äussert er sich
nicht – Fechter schien ihm Autorität genug! Und der
hypothetische feste Abschluss versteinerte zur quasi offiziellen Stadtmauer.
Das Stadtgebiet zu Burkhards Zeiten wird von Bernoulli im Vergleich zu Ochs und Fechter somit als markant kleiner angenommen. Die Stadtmauer folge einer
Linie, die vom Gerberberglein aus etwa rechtwinklig den
Birsig überquert und auf der andern Seite der nachmaligen Kirchgemeindegrenze zwischen St. Martin und St.
Alban entspricht.
Auf Bernoulli geht auch die heute so nicht mehr
haltbare Datierung der Inneren Mauer «um bzw. kurz vor
1200» zurück.12
10
11
12
Bernoulli 1917, 56–86 insbes. 56 und 60–67; Nachtrag 1918, 387.
Wackernagel, 1907, 8, 17, 134–140.
Bernoulli 1917, 70. BUB 1, 52 Nr. 73.
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Welche Stadtmauer und wenn ja – wo?
VI. Die goldenen 50er und 60er Jahre
Innerhalb der Innern Stadtmauer fanden 1937–39 und
1957 am Petersberg und im Storchenareal (beim Fischmarkt) umfangreiche Ausgrabungen statt. Diese förderten
die phantastisch erhaltenen Holzhäuserreste einer Handwerkersiedlung des 11./12. Jh. zu Tage, deren Anfänge wohl noch weiter zurück liegen. Wider damaliges
Erwarten kam jedoch keine Stadtmauer zum Vorschein,
dafür regten die Ausgrabungen die Diskussion um den
mutmasslichen Verlauf der Burkhardschen Stadtmauer
ausserordentlich an. Ludwig Berger zweifelte im 1963
publizierten Ausgrabungsbericht am Realitätsgehalt der
Fechter-Bernoullischen Hypothese und postulierte einen
Mauerverlauf weiter aussen – wohl oben auf der Terrasse,
der vermutlich auch St. Peter umfasst habe (Abb. 1 C).13
Über den Verlauf der Mauer südlich der Peterskirche stellt
er keine Mutmassungen an. Ausgehend von den Grabungsbefunden hatte bereits 1957 Martin Strübin-Lohri
einen Mauerverlauf angenommen, der die PetersbergSiedlung ins Stadtgebiet einbezog. Er dachte sich das
Trassee etwa im Bereich Petersgasse – Talhang unterhalb
Nadelberg/Unterer Heuberg – Gerberberglein – Pfluggässlein – Münsterhügel (Abb. 1 C).14
François Maurer, inspiriert von Bergers Untersuchungen, nahm 1966 hingegen ein «bastionähnlich an
der Spitze eines Mauerkeils» liegendes befestigtes Kirchenareal um St. Peter an, das er als Pendant zu St. Leonhard betrachtete; zu letzterem gab freilich eine Burg Wildeck (oder Tanneck) den Anstoss (Abb. 1 C).15 Damit
implizierte er eine weiter stadteinwärts (am rechten Birsigufer?) verlaufende Mauer.
Die Ausgrabungen 1964 von Rudolf Moosbrugger-Leu in der Leonhardskirche schienen dies zunächst
zu bestätigen, da eine Befestigungsmauer entdeckt wurde, die eindeutig älter als die Innere Stadtmauer war.
Moosbrugger ging allerdings von einer wörtlichen Übersetzung der lateinischen Quelle: «compagines murorum – grösseres zusammenhängendes Mauergefüge ...
eine durchgehende Befestigung des Münsterhügels einschliesslich St. Martins» – aus. Im Gegensatz dazu interpretierte er den Mauerzug auf dem Leonhardskirchsporn
sowie weitere, innerhalb der Altstadt (um St. Peter?) gelegene Mauerzüge, als «munitiones et castella», eigentliche
Burgen oder «bastionsähnliche Kirchenareale». «Entgegen der bisherigen Forschung sehe ich die Burkhardsche
Stadtmauer – wenn man überhaupt von einer solchen
sprechen will! – nicht als eine Ummauerung der Talstadt, sondern als eine Sicherung des Münsterhügels und
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allenfalls seiner Hänge, als eine Ausflickung und Erweiterung der römischen Kastellmauern» (Abb. 1 C). 16 An
anderer Stelle interpretierte er die fragliche Mauer unter
der Leonhardskirche als Teil der Umfassungsmauer des
Schlosses Wildeck.
Zusammenfassend: Keine Stadtmauerbefunde,
dafür eine Handwerkersiedlung, die in einem Verhältnis
zu Burkhards Mauer stehen musste – ausser- oder (eher)
innerhalb. Wen wunderts, dass in dieser Situation so
viele Theorien entwickelt wurden?
VII. Burkhards Mauer – jetzt erst recht!
In dieser unbefriedigenden Situation konnten nur Neufunde klärend weiterhelfen. Mit der 1962 gegründeten
archäologischen Dienststelle, der «Archäologischen
Bodenforschung des Kantons Basel-Stadt» war die Grundlage dafür geschaffen, und es war bei systematischer Ausgrabungstätigkeit und Baustellenüberwachung nur noch
eine Frage der Zeit, bis diesbezügliche Neufunde Klärung
brachten. Dies war 1976 der Fall: Unter und neben der
Barfüsserkirche kam bei deren Renovierung ein längeres
Teilstück der Burkhardschen Stadtmauer zum Vorschein,17
und 1982 folgte das Pendant auf der andern Birsigseite im
Hause Leonhardsgraben 43.18 Es zeigte sich, dass diese
Stadtmauer des ausgehenden 11. Jahrhunderts wesentlich
umfangreicher war, als noch die Forscher der 50er und
60er Jahre (siehe oben) sowie C.A. Müller19 angenommen
hatten. Die Mauer lag am Peters- und am Leonhardsgraben nur wenige Meter hinter der späteren Inneren
Stadtmauer. Die angeblichen, bei der Ausgrabung der
Leonhardskirche gefundenen Reste der sagenhaften Burg
Wildeck (siehe oben) entpuppten sich damit ebenfalls
als Teile dieser Stadtmauer. Bloss der weitere Verlauf im
südöstlichen Vorfeld des Münsterhügels war noch unklar
und mit Vermutungen behaftet (Abb. 1 D).
13
14
15
16
17
18
19
Berger 1963, 94–96 (insbes. Anm. 230). Vgl. auch Berger 1969, 26.
Strübin-Lohri 1957, 18–28 (Plan S. 23). – Angaben zum vielseitig interessierten M. Strübin, der sich um rechts-, geld- und lokalhistorische Studien
verdient gemacht hat, siehe Basler Bibliographie 1960; Berger bezog dessen
Anregungen in seine Überlegungen ein (1963, 95 Anm. 230).
François Maurer in KDM BS 5, 1966, 27f. (St. Peter).
Moosbrugger/Buxtorf/Maurer 1968, 11–54 (insbes. 12–16; Zitate S. 15 f. und
Anm. 6). – Verwirrend in diesem Zusammenhang ist die hier nicht weiter zu
behandelnde sagenhafte Vorstellung einer Burg Wildeck (oder Tanneck) im
Gebiet von St. Leonhard.
Rippmann 1987, insbes. 121–132.
d’Aujourd’hui/Helmig 1983, 353–365.
Müller 1955, 17–20.
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Abb. 1 D Stadtmauern nach d’Aujourd’hui 1983/85 und Rippmann
1987. 5 Innere Stadtmauer (ohne Mauertürme), 11 Burkhardsche
Stadtmauer nach Rolf d’Aujourd’hui 1983 und 1985, 12 Burkhardsche Stadtmauer nach Dorothee Rippmann 1987, 11/12 Burkhardsche Stadtmauer: identischer Verlauf
Wegen des damaligen Fehlens gesicherter Mauerfunde östlich der Ausgrabungen in und bei der Barfüsserkirche wurde der Verlauf der Burkhardschen Stadtmauer,
ausgehend vom letzten bekannten, direkt am Steinenberg gelegenen Teilstück, zunächst in der Art eines drei-
Welche Stadtmauer und wenn ja – wo?
eckig vorspringenden «Spickels» angenommen (Abb. 1
D).20 Weiter östlich wurde die Mauer hinter der ehemaligen spätkeltisch/frührömischen Abschnittsbefestigung
(«Keltengraben») vermutet. Die topographische Dominanz des bis ins 13. Jahrhundert noch offenen antiken
Befestigungsgrabens und das vorläufige Fehlen konkreter
Befunde schien diese Hypothese zu rechtfertigen. Der
von der Spitze des «Spickels» im Süden auf direkter Linie
zum Keltengraben führende Abschnitt war eine theoretische Linie ausserhalb jeglicher gewachsener Parzellengrenzen oder Gassenfluchten.
Davon weicht ein anderer Ergänzungsvorschlag
ab: In Anlehnung an die Topographie und unter Berücksichtigung alter Gassenlinien und Besitzverhältnisse
strebe die Burkhardsche Stadtmauer am Steinenberg die
Linie der späteren Inneren Stadtmauer an, um wenig
dahinter auf der Flucht des Aeschenschwibbogens,
dem alten, heute teilweise aufgehobenen Luftgässlein
folgend, die antiken Befestigungsanlagen zu erreichen
(Abb. 1 D). Damit wurde eine die Verkehrsachse der
Freien Strasse als Mittelachse nutzende, symmetrisch
aufgebaute «Ausbuchtung» vor dem Münsterhügel
postuliert, die erst bei der Einmündung des Luftgässleins in die Bäumleingasse die Linie der antiken Befestigungen erreicht. Ob die antike Befestigungsmauer mit
derjenigen des Bischofs Burkhard wirklich gleichgesetzt
werden darf, wurde offenlassen.21
Die Hypothese des zuerst dargelegten «DreieckSpickels» aus den Jahren 1983/85 wurde 1987 modifiziert.
Neu wurden weitere, nicht mit Sicherheit gedeutete und
teilweise gar nicht archäologisch untersuchte Mauerfundamente beidseits des Stadtflüssleins Birsig zur Lokalisierung bzw. Postulierung eines bisher unbekannten Stadtmauertrassees herangezogen. Für die Burkhardsche Mauer wurde nun ein weiter stadteinwärts liegender Verlauf
postuliert, der vom Birsig aus direkt hinter den antiken
Befestigungsgraben nordwestlich der Bäumleingasse zog
(Abb. 1 E).22 Die bei den Ausgrabungen der Barfüsserkirche freigelegten Fundamente wurden als nicht mehr zum
Burkhardschen Mauerring gehörig interpretiert, denn
gem. dieser Interpretation waren sie zu unterschiedlich
20
Abb. 1 E Stadtmauern nach d’Aujourd’hui 1987/89. 13 Burkhardsche
Stadtmauer, 14 Stadterweiterung 12. Jh., 5 Innere Stadtmauer (ohne
Mauertürme)
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21
22
d’Aujourd’hui/Helmig 1983, 353–365 (insbes. 354, Abb. 67, 361). –
d’Aujourd’hui 1985, 101–108 (insbes. Abb. 2).
Rippmann 1987, 125–129, Abb. 106.
d’Aujourd’hui 1987; die von d’Aujourd’hui 1989 und 1990 publizierte Pläne
weisen im Vergleich zur ‚Urfassung’ gewisse Differenzen im hypothetischen
Mauerverlauf auf, die jedoch ohne grosse Bedeutung sind.
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Welche Stadtmauer und wenn ja – wo?
im Vergleich zu den übrigen Mauerfunden, als dass sie
zum gleichen Mauerring gehören könnten.
Damit wurden in kürzester Zeit drei verschiedene
Mauerverläufe postuliert, und dazu mussten die jetzt
gewissermassen frei gewordenen Fundamentreste unter
und neben der Barfüsserkirche einer neuen Deutung
unterzogen werden: Da sie sich – so man denn die Rückverlegung der Burkhardschen Mauer akzeptiert – örtlich
wie zeitlich zwischen die Burkhardsche Stadtmauer des
späten 11. Jh. und die Innere des frühen 13. Jh. schoben,
war damit die «Stadterweiterung 12. Jh.» geboren, die
einige Zeit lang von sich reden machte. Die Geschichte
der Uminterpretation eines wirklichen oder angeblichen
«festen Abschlusses» von Ochs, Fechter und Bernoulli
schien sich zu wiederholen.
VIII. Wo liegt das Problem?
Bis zu den 50er und 60er Jahren des 20. Jh. hat man also
Stadtmauern – welche auch immer – nicht real untersucht. Bis in diese Zeit boten historische Quellen (auch
ikonographische) die einzige Möglichkeit zur Erforschung, und natürlich wirkte das Bild der bis ins 19. Jh.
noch stehenden Mauern und Tore, die einfach «schon
immer» da waren. Die im späten 14. Jh. erbaute Äussere
Stadtmauer, welche auch die Vorstädte schützte, besass
eine einfache Baugeschichte. Diese war aus historischen
Quellen bekannt, flossen diese doch nach dem 1356er
Erdbeben reichlicher. Komplex war jedoch die Entwicklungsgeschichte der durch die Innere Stadtmauer vordergründig so klar und abgeschlossen wirkenden Innerstadt. Das Verdienst von Ochs war die Interpretation
der unscheinbaren Stelle in der Gründungsurkunde von
St. Alban, das eine nicht näher bezeichnete Stadtmauer
nannte. Was lag näher, als dieses «Gefüge von Mauern»
mit der im Stadtbild im Prinzip noch heute ablesbaren
Inneren Mauer zu identifizieren? Für diese gab es ja keinen Hinweis zur Erbauungszeit, sehen wir einmal von
den St. Leonhard und das Barfüsserkloster betreffenden
Urkunden ab, welche sie in den Jahren 1206 und 1250 als
existent erwähnen.23 Zu Bauzeit oder Bauherr ist jedoch
nichts überliefert.
Das «Unheil der Konstrukte» begann ausserhalb
Basels, in Zürich. Dort postulierte S. Vögelin im Jahre
1829 eine Stadtmauer einzig aufgrund dort damals wie z.
T. noch heute vorhandener Geschlechtertürme. Aus heutiger Sicht mag es unstatthaft sein, solche Türme als Stützpunkte einer Stadtmauer zu betrachten – aber damals?
Und dem profunden Kenner der Basler Geschichtsquel-
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157
len, D. A. Fechter, ist kaum zu verargen, dass er dieses
zweifellos einprägsame und starke Bild berücksichtigen
zu müssen glaubte. So möchte ich seine zurückhaltenden
Formulierungen von nicht näher beschriebenen «Türmen» und des «festen Abschlusses» jedenfalls interpretieren. – Das einmal geprägte Konstrukt entwickelte dann
jedoch ein Eigenleben, indem es – gewissermassen der
Not gehorchend – bei Bernoulli als Lückenbüsser für die
«verlorene» Burkhardsche Mauer herhalten musste. Erst
das Fehlen dieser Mauer im fraglichen Bereich der Ausgrabungen am Petersberg entzog dieser einst vorsichtig
formulierten Theorie den Boden.
Der erste «Hypothesenboom» der 1950er und 60er
Jahre reagierte immerhin auf archäologische Resultate
(Handwerkersiedlung Petersberg). Aber die auf dieser
Basis formulierten Hypothesen blieben mangels realer
Mauerfunde vage. Dies war wohl auch besser so, hatte
man doch Fechters «festen Abschluss» als gutes Beispiel
für die vorsichtige Formulierung einer Hypothese vor
Augen. Mauern gab es keine, Türme konnte man ja nicht
mehr guten Gewissens beiziehen, und so beschränkte man
sich auf Vermutungen, dass die ins 1. Jahrtausend zurückgehende Peterskirche irgendwie einbezogen sei, oder dass
die Mauer oben auf der Niederterrasse durchgehe. Das
Stadtbild (historische Gassenlinien und Parzellengrenzen) wurde merkwürdigerweise kaum beachtet. Vielleicht
nicht so erstaunlich ist der jüngste Deutungsversuch von
Moosbrugger, der wohl gerade wegen des Fehlens klarer
Funde das «Mauergefüge» der Gründungsurkunde von
St. Alban wörtlich auffasste: Er nahm anstelle einer «normalen» Stadtmauer gewissermassen ein aus spätantiken
Überresten zusammengewürfeltes Flickwerk an, eben
«compagines murorum».
Damit stellt sich die Frage, wie wörtlich die von
Archäologen doch so gerne als «sichere Werte» herangezogenen historischen Quellen denn zu nehmen sind.
Wir erinnern uns an den Gründungsbericht der Leonhardskirche (Gründung 1033 bzw. 1118 auf grüner Wiese). Ähnlich verwirrend auch die Urkunde über den Bau
der Barfüsserkirche, die angeblich auf Allmend errichtet
wurde, doch die Ausgrabungen haben unter der Kirche
ältere Gebäudereste und Hofstätten zu Tage gefördert.24
Und die Historiker fragen sich nach der Seriosität archäologischer Quellen bzw. deren Interpretation: Wie kann
23
24
BUB 1, 52 Nr. 73; BUB 3, 353 Nr. 29 und 30.
Rippmann 1987, 52ff., 277f.
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158
man Mauerfundamente zu Stadtmauern machen bzw.
auf welcher Grundlage kann oder darf man historisch
nicht bekannte bzw. überlieferte Stadtmauertrassees
postulieren?
IX. Über dem Stadtplan brüten?
Welche Rolle bei der Erforschung der frühen Stadtentwicklung spielt das Parzellen- und Gassengefüge einer
Stadt, welche die Topographie? Welchen Wert haben ikonographische Quellen? Wie ist mit der Tatsache umzugehen, dass lange nicht alle archäologischen Beobachtungen
gründlich und umfassend, quasi unter Laborbedingungen,
erarbeitet werden können (auch nicht alle historischen
Quellen haben die Zeit unverderbt überstanden), und
wie darf mit Befunden gearbeitet werden, die ausserhalb
archäologisch-kritischer Untersuchungen dokumentiert
worden sind? Alles Fragen zur Interpretation von Quellen – man ahnt jetzt die Absicht der Überschrift –, die
bei unkritischer Arbeit zu verhängnisvollen Konstrukten
führen können.
Versuchen wir zunächst, einen methodisch sauberen Weg zu beschreiten. Eine Ausgrabung im Jahre
1982 im Hause Leonhardsgraben 43 zeigte folgenden
Befund: 25 Die Innere Stadtmauer war noch über die
ganze Erdgeschosshöhe erhalten, und dahinter lagen
mächtige Anschüttungen, offensichtlich der hinterfüllte
Aushub des zugehörigen Stadtgrabens. Diese Anschüttungen überdeckten eine Mauer. Diese Mauer besass folgende Eigenschaften: Sie lag parallel zur Inneren Stadtmauer, sie war tief fundamentiert (wie eine Kellermauer),
sie führte beidseits über die Parzellengrenzen hinweg,
auf der stadtauswärts gelegenen Seite war sie auf Sicht
gearbeitet und bis fast zuunterst verputzt (das zugehörige Gehniveau liegt also in «Kellertiefe»), auf der Rückseite war sie gegen das anstehende Erdmaterial gebaut
und rechnete mit einem höheren Bauhorizont als auf der
Aussenseite etwa im Bereich des Gassenniveaus, und die
spezielle Verputzweise lässt auf das 11./12. Jh. schliessen
(sog. Fugenstrich- oder Pietra-rasa-Putz) – alles Indizien,
die in ihrer Gesamtheit folgende Schlüsse zulassen: a)
die Mauer ist eine Stadtmauer und b) sie ist älter als die
Innere Stadtmauer. Damit darf behauptet werden, dass
es sich um die in der Gründungsurkunde des Klosters
St. Alban genannte Stadtmauer handelt. Wollte man dies
in Frage stellen, müsste man ohne historische Quellenbasis eine bisher unbekannte Stadtmauer postulieren –
methodisch zweifellos problematischer als die Gleichsetzung mit «Burkhard».
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Welche Stadtmauer und wenn ja – wo?
Mit diesem Wissen im Hintergrund konnte die
Denkmalpflege ein paar Jahre später und ein paar Häuser weiter am Leonhardsgraben 37 eine ähnliche Situation
untersuchen, diesmal in den Mauerscheiben der Brandmauern zu den Nachbarliegenschaften (Abb. 4):26 Wiederum war die Innere Mauer überaus deutlich und klar
vorhanden, während von der älteren Burkhardschen nicht
viel mehr als die Fundamente nachweisbar waren. Spannend waren dagegen die jüngeren Mauerteile: sie stiessen
von rechts her an eine imaginäre senkrechte Grenze, die je
nach Geschoss auf einer unterschiedlichen Flucht verlief.
Offensichtlich reagierten hier noch vorhandene Brandmauerteile auf den Verlauf der längst abgerissenen Burkhardschen Stadtmauer und zeigten – trotz deren Fehlens
– ihre oben zurückweichenden Mauerfluchten auf der
Innenseite an. Und der Blick auf die entsprechenden Katasterpläne zeigt an den Orten, wo die Parzellengrenzen die
beiden Stadtmauern schneiden, Versatzstellen. Das heisst,
die Parzellengrenzen gehen nicht gerade durch, sondern
nehmen einen etwas gebrochenen Verlauf – sie «stolpern»
gewissermassen über die einst dominanten Mauern. Die
Lage der Stadtmauern lässt sich hier somit auch aus den
Katasterplänen ablesen.
Hat man sich an den Befunden der Häuser Leonhardsgraben 43 und 37 gewissermassen «archäologisch
geeicht», so kann und darf man auch in weiteren Gebäuden
im Bereich dieses Mauerabschnittes nach solchen Versatzstellen suchen und diese – auch ohne archäologisch/baugeschichtliche Untersuchungen – als Indizien für den Verlauf
der Stadtmauern betrachten. Aber ohne die Schlüsseluntersuchungen in den Häusern 43 und 37 hingegen wäre das
nicht statthaft – dies wäre dann wirklich «über dem Katasterplan gebrütet». Und sinngemäss gilt das auch für die
andern, eingangs erwähnten Elemente wie das Parzellenund Gassengefüge, die Topographie, die ikonographischen
Quellen und natürlich auch ältere, oft ungenügend dokumentierte oder verstandene Befunde. Zweifellos: Alte
Grenzen und historische Abbildungen können noch ältere
Befunde widerspiegeln – können, aber müssen nicht. Gerade in der frühstädtischen Entwicklung sind grundsätzlich
unbekannte Entwicklungszustände anzunehmen. Und es
hiesse die Beweispflicht verdrehen, wollte man frühe Entwicklungen mit jüngeren Quellen beweisen.27
25
26
27
Nach Matt/Rentzel 2002, 149–156 bzw. dort zitierten Ausgrabungsberichten.
Nach Matt/Rentzel 2002, 148 bzw. dort zitierten Ausgrabungsberichten.
Quellen zu Gebäuden, Parzellen oder Nennungen von Gassen setzen in Basel
kaum je vor dem fortgeschrittenen 13. Jh. ein.
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Welche Stadtmauer und wenn ja – wo?
159
Abb. 4 Leonhardsgraben 37. Links (Schnitt): Die Versatzstellen in den Brandmauern der Liegenschaften Nr. 35 und 37 zeigen den Verlauf zweier
älterer Stadtmauern an (M 1:200). Rechts (Grundriss): Die gebrochene Parzellengrenze im Bereich der Ovale korrespondiert mit der Inneren
Stadtmauer 2 B, die nur in geringen Fundamentresten erhaltene Burkhardsche Mauer 1 mit den kreisförmig markierten Stellen (M 1:400).
Zuerst muss aufgrund methodisch sauberer Befunduntersuchungen gezeigt werden, wo bzw. wo eben nicht
eine Stadtmauer verläuft, bevor man Grenzlinien und ikonographisches Material illustrierend und ergänzend beiziehen darf. Am Anfang einer Behauptung sollen fundierte
archäologisch-bauhistorische Untersuchungen stehen,
welche die Grundlagen liefern. An diesen hat man sich zu
eichen und darauf kann man mit der nötigen Zurückhaltung aufbauen.
Machen wir doch einmal ein Gedankenspiel:
Geben wir uns gewissermassen übungshalber dem Sirenengesang ikonographisch-historisch überlieferter Gassenlinien hin und betrachten das klare Bild der im 13.
Jh. gegründeten Vorstadt Kleinbasel auf Merians Vogelschauplan (Abb. 2). Wir verlassen (Gross-)Basel, überqueren die Brücke und gehen geradeaus weiter – bis wir am
Clarakloster anrennen. Nun wenden wir uns auf die eine
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oder andere Seite: Je nachdem können wir die Stadt relativ schnell durch das Bläsitor (am rechten Bildrand) in
Richtung Westen verlassen, oder dann irren wir bei St.
Theodor herum (links), wo wir einen Stadtausgang an der
Ostseite vermissen, bis wir durch das Riehentor (unten
links bei der Personenstaffage) nach Norden hinaus
gelangen. Ist das ein logisches Verkehrskonzept für eine
neu gegründete Vorstadt? Da müssen doch spätere Erweiterungen ein ursprünglich klares Stadtbild verfälscht
haben! Dies war jedenfalls die (vordergründig plausible)
Annahme in der heimatkundlichen Literatur. 28 Nein –
die einzige Erweiterung ist das um 1278/93 der Vorstadt
rucksackartig angehängte Klingentalkloster (rechts oben).
28
Klingentalerweiterung: KDM BS IV, 22 f. – Angebliche Erweiterungen im
Norden und Osten: Müller 1955, 29 f. und KDM BS VI, 173 f.
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160
Welche Stadtmauer und wenn ja – wo?
Abb. 5 Lohnhof: Ehemaliges Chorherrenstift St. Leonhard. Links: Situation des Eckturms der Burkhardschen Stadtmauer (Detail) mit vermutetem ursprünglich geplantem Standort (gestrichelt) und ausgeführtem Mauerverlauf (durchgezogene Linien) (M 1:250). Rechts: Überblick über
das Areal zwischen Leonhardskirche (oben) und dem Stadtmauer-Eckturm unten mit dem dazwischen liegenden Grundriss des frühen Chorherrengebäudes. Der gebrochene Verlauf der östlich (rechts) des Eckturms liegenden, von diesem abgehenden Stadtmauer und der mutmassliche
ursprüngliche Standort erklären sich aus dem Bauvorgang der wenig älteren Leonhardskirche (M 1:1000).
– Alle andern, sich rein optisch anbietenden Vorstadtvergrösserungen wie das Viertel mit St. Theodor und der
Kartause (links der Achse zwischen den beiden Stadttoren
im linken Viertel Kleinbasels) oder auch die ganze nördliche Häuserzeile entlang der unteren Längsseite der Vorstadt sind sich einzig aus dem Vogelschauplan ergebende
Konstrukte, für die es nicht die geringsten historischen
oder archäologischen Belege gibt. Dasselbe gilt auch für
angebliche veränderte Stadttorstandorte.
X. Der Idealfall:
eine archäologisch-historische Synthese
Kehren wir bei zur Leonhardskirche zurück, deren Baudatum gemäss dem diffusen Gründungsbericht 1033 oder
1118 gewesen sein soll. Seriöse historische,29 kunsthistorische30 und archäologische31 Untersuchungen zu Kirche
und Augustiner-Chorherrenstift haben die Geschichte
einigermassen erhellt. Als Fazit aller Untersuchungen
erwiesen sich beide genannten Jahrzahlen als falsch.
Sowohl aus kunsthistorischen wie auch historischen
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Überlegungen zeichnete sich für den romanischen Gründungsbau ein Baudatum in den Jahren um 1060/80 ab
– dies die Ausgangslage vor späteren umfangreichen
Ausgrabungen im Lohnhofareal, dem ehemaligen Chorherrenstift hinter der Leonhardskirche.
Die Ausgrabungen im Lohnhof erbrachten nun
folgendes eigenartiges Resultat (Abb. 5):32 Die Burkhardsche Mauer wurde verschiedenenorts gefunden, dazu
kam auch ein zugehöriger Eckturm. Allerdings liessen
die Mauerfundamente kein klares Konzept erkennen.
Die Stadtmauer erreichte den Turm von Osten her kommend erst nach Absolvierung einiger Baulose und nach
einem markanten Richtungswechsel – ein ziemlich planloses Vorgehen für diese Grossbaustelle. Und auch der
Eckturm stand nicht etwa oben auf der flachen Kuppe
29
30
31
32
Wackernagel 1907, 17, 134f; von Scarpatetti.1974, 19.
KDM BS IV, 146 f., 154, 172–175.
Moosbrugger/Buxtorf/Maurer 1968.
Zuletzt Matt/Rentzel 2002, 170–185.
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Welche Stadtmauer und wenn ja – wo?
des Sporns, sondern statisch ungünstig halb im Abhang
drin – weshalb diese suboptimalen Lösungen? Der Burkhardsche Stadtmauerbau auf dem Leonhardskirchsporn
reagiert ganz offensichtlich auf den Bau der romanischen
Leonhardskirche – die beiden Bautrupps müssen sich
gewissermassen noch gesehen haben. Das Westende des
Langhauses war offenbar noch nicht abschliessend definiert, und so musste der Eckturm etwas in den Abhang
ausweichen, damit die Flucht von dort zur Kirche nicht
aus den Fugen geriet (Abb. 5). Und damit behält B. von
Scarpatetti Recht, der den «Weg zu einer haltbaren Darstellung der Gründung St. Leonhards durch ein Gestrüpp
von Mängeln und Irrtümern in den Quellen und in der
Literatur» sieht, worin «die Nachricht über diese Gründergestalt des 11. Jahrhunderts (= der 1082 verstorbene
Stifter Ezelinus) ... zu den sichersten der Gründungsgeschichte zählen dürfte».33 Todesjahr des Stifters, ungefähre Bauzeit der Kirche, Reaktion des Stadtmauerbaus
auf den Bau der Kirche, alles geht untereinander auf.
Und der problematische Südost-Abschluss des
Münsterhügels? Auch hier zeichnete sich eine Klärung
ab, denn umfangreiche Ausgrabungen im Bereich Antikenmuseum und unspektakuläre Leitungsgrabungen
zwischen Rittergasse und Rheinhalde erbrachten dank
genauer Beobachtung und sorgfältiger Dokumentation
die erlösenden Resultate:34 Anders als an den meisten
Orten lag hier die Burkhardsche Mauer n i c h t überall
einige Meter hinter der Innern. Vielmehr wurde sie über
eine grössere Strecke abgebrochen und an Ort und Stelle durch die neue Mauer ersetzt. «Verräterisch» war ein
Erdprofil hinter dieser Mauer beim Antikenmuseum: Es
zeigt eine (Bau-)Grube, die ihrerseits durch die Baugrube
der Innern Stadtmauer gekappt wurde. Und in der älteren
Grube kam Abbruchmörtel zum Vorschein, der sich vom
Mörtel der Inneren Stadtmauer unterschied – Grube
und Abbruchmörtel können in einem archäologischen
Indizienprozess zum Nachweis einer älteren Stadtmauer
genügen! Und wie um die Beweislage noch zu verbessern,
kamen weiter östlich Mauerfragmente zum Vorschein,
die trotz massiver Geländeveränderungen noch genügend klar waren und sich deutlich als letzte Reste der Burkhardschen Mauer entpuppten, wie sie bereits in Kap. IX.
geschildert worden ist (Leonhardsgraben 43).
Genau so wichtig wie die vorgestellten archäologischen Befunde sind die historischen, die in diesem Fall
vorhanden waren: Es geht um Rechtsverhältnisse des Klosters St. Alban, das im Zusammenhang mit der Burkhardschen Stadtmauer in mehrfacher Hinsicht eine Schlüssel-
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Abb. 1 F Stadtmauern nach Helmig/Schön 1994 und Matt 1996.
15 Burkhardsche Stadtmauer, 15a (eher unwahrscheinliche) Variante, T Turm, (T) Hypothetischer Turm, 5 Innere Stadtmauer (ohne
Mauertürme)
rolle einnimmt. Der Grundbesitz des Klosters reichte gem.
der Gründungsurkunde aus dem Jahre 1102/03 bis an die
(in der Urkunde leider nicht näher lokalisierte) Stadtmauer. Aber Mitte 13. Jh. (sowie in späteren Urkunden) wird
die Lokalisierung präzisiert: Anstelle der Mauer wird in
derselben Sache das mittlerweile gebaute Kunostor am
Ostende der Rittergasse genannt. Damit darf auch die 50
Jahre ältere Nennung der Mauer als am St. Alban-Graben
verlaufend lokalisiert werden, denn es ist unwahrscheinlich, dass sich die ältere Nennung auf eine Stadtmauer
im Bereich der antiken Befestigung bezieht, die jüngere
auf eine, die gegen 150 m vorverschoben wurde. Dieser
Grundbesitzverlust hätte in den Urkunden zweifellos
einen Niederschlag finden müssen.35
XI. Schlussbemerkungen
Beschreibung und Lokalisierung der Burkhardschen Stadtmauer waren weder Thema des Vortrages noch dieses Aufsatzes, so dass wir uns hier mit dem Verweis auf Abb. 1, F
und die Bibliografie begnügen dürfen.36 In jüngerer Zeit
sind wichtige Nachschlagewerke erschienen, welche leider
33
34
35
36
Von Scarpatetti 1974, 50, 53.
Helmig/Schön 1994.
Benner/Damminger 2005, bes. 235.
Zuletzt Matt/Rentzel 2002 sowie dort zitierte Literatur.
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162
einen überholten Stand widerspiegeln.37 Immerhin ist der
«aktuelle Stand des Irrtums» seit kurzem wenigstens in
der neu aufgelegten «Schweizerischen Burgenkarte» festgehalten,38 und vielleicht hilft ja auch dieser Aufsatz, veralteten, immer noch herumgeisternden Hypothesen und
Konstrukten allmählich den Boden zu entziehen.
Die heute postulierte Grösse der von der Burkhardschen Mauer gesicherten Stadt entspricht somit fast wieder dem von Peter Ochs bereits 1786 vermuteten Umfang
(Abb. 1 A), doch wurde – angeregt durch Vermutungen
und Irrwege, Hypothesen und neue Fundstellen – ein viel
differenzierteres Bild der mittelalterlichen Stadt und ihrer
Befestigungen gewonnen. Und das Fazit? Viele Hypothesen oder Konstrukte wurden seit dem ausgehenden 18. Jh.
geäussert. Und auch wenn sich die meisten nicht halten
liessen, so sind Hypothesen trotzdem nicht grundsätzlich
abzulehnen. Sie sind ein Arbeitsmittel, und man habe
Welche Stadtmauer und wenn ja – wo?
ruhig den Mut zu sagen, was man aufgrund des aktuellen
Kenntnisstandes glaubt. Vorschnell oder leichtfertig dürfen Theorien jedoch nicht geäussert werden; da war der in
Kap. VI. besprochene, noch dezent formulierte «1. Theorienboom» vergleichsweise zurückhaltend. Und insbesondere sollten aus dem ganzen zur Verfügung stehenden
Spektrum von Quellen (historische, ikonographische und
archäologische Quellen, das Parzellen- und Gassengefüge
und ihr Zusammenspiel mit der Topographie) nicht nur
diejenigen herausgezogen werden, die ins Konzept passen. Vielmehr müssen möglichst alle kritisch gegeneinander ausgespielt werden, bevor die «ultimative Hypothese»
geäussert wird. Die in den 80er Jahren geäusserten Theorien (Kap. VII.) liessen diese Zurückhaltung manchmal
vermissen. Und etwas mehr Gelassenheit beim Postulieren oder Widerlegen von Hypothesen wäre wohl nicht
nur im Basler Stadtmauerwesen angebracht.
37
38
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Schweizer Lexikon 1998–1999, Bd. 1, 397: Artikel «Basel», Plänchen «Basel:
Stadtgeschichte»; HLS 2, 39: Artikel «Basel-Stadt», Plan «Phasen der Entwicklung des Stadtkerns im Mittelalter».
Burgenkarte 2007, Detailkarte 5.
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Welche Stadtmauer und wenn ja – wo?
Bibliografie
Quellen
BUB – Urkundenbuch der Stadt Basel, Bände 1–11, Basel 1890–1910.
Merian Topographia – Lucas Heinrich Wüthrich (Hg.), Topographia Helvetiae.
Faksimile der Ausgabe Frankfurt/M. 1654, Kassel/Basel 1960.
Wurstisen 1580 – Rudolf Hotz (Hg.), Christian Wurstisen, Basler Chronik (Basel
1580). 3. Auflage nach der Ausgabe des Daniel Bruckner 1765, Basel 1883.
Darstellungen
Basler Bibliographie, in: Beilage zur Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 61, (1961).
Berger 1963 – Ludwig Berger, Die Ausgrabungen am Petersberg in Basel. Ein
Beitrag zur Frühgeschichte Basels, Basel 1963.
Berger 1969 – Ludwig Berger, Die Anfänge Basels. In: Basel – eine illustrierte
Stadtgeschichte, Basel 1969.
Bernoulli 1917/18 – August Bernoulli, Basels Mauern und Stadterweiterungen
im Mittelalter, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 16
(1917), 56–86, Nachtrag 17 (1918), 387.
Burgenkarte 2007 – Schweizerische Burgenverein (Hg.), Burgenkarte der Schweiz
– West, Bern 2007.
d’Aujourd’hui 1985 – Rolf d’Aujourd’hui, Zur hochmittelalterlichen Stadtbefestigung von Basel. Von der Burkhardschen Stadtmauer zum Inneren Mauerring,
in: Archäologie der Schweiz 8, Nr. 2 (1985), 101–108.
d’Aujourd’hui 1987 – Rolf d’Aujourd’hui, Zur Entwicklung der hochmittelalterlichen Stadtbefestigung östlich des Birsigs, zwischen Barfüsserplatz und Rittergasse, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 87 (1987),
234–265.
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Kantons Basel-Stadt, 1990, 153–222.
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Buch SKAM 36.indd 163
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August 1957), 18–28.
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Beiträge zur Geschichtswissenschaft 131), Basel/Stuttgart 1974.
Wackernagel 1907, 1911 – Rudolf Wackernagel, Geschichte der Stadt Basel. Bd. 1
und 2/1, Basel 1907, 1911.
Wild/Motschi/Hanser 2004 – Dölf Wild/Andreas Motschi/Jürg Hanser, Stadtmauern – Ein neues Bild der Stadtbefestigungen Zürichs, Zürich 2004.
Abbildungsnachweis
1 JbAB 2002, 136, Abb. 1; Zeichnung Archäologische Bodenforschung,
C. Glaser
2 Merian, Topographia, 46; Gestaltung H. Eichin
3 Fechter 1856, Faltplanbeilage
4 JbAB 2002, 148, Abb. 11; Zeichnung links Basler Denkmalpflege, Zeichnung
rechts L. Arnaud Bustamante
5 JbAB 2002, 172, Abb. 32 (links) und 177 Abb. 39 (rechts), beide Zeichnungen
Archäologische Bodenforschung
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Das Zusammentreffen von Geschichte und Archäologie
165
Darja Miheli
Das Zusammentreffen von
Geschichte und Archäologie
Methodologische Überlegungen zum Verhältnis Geschichte – Archäologie
Geschichte – Archäologie: Quellen
Aussagekraft der Quellen: Epochen, Themen
Die Zuständigkeitsbereiche der Archäologie und Geschichte, der beiden Wissenschaften, die auf die Erforschung der
Vergangenheit ausgerichtet sind, unterscheiden sich sowohl
im Hinblick auf die behandelten Epochen als auch hinsichtlich der Forschungsthemen. Dabei sind von entscheidender
Bedeutung die Quellen, aus denen die beiden Fachbereiche
ihre Kenntnisse gewinnen.
Die Archäologie verwendet bei ihren Forschungen
materielle Überreste, historische Quellen sind dagegen
schriftlicher, mündlicher und materieller Art. Historische
Quellen in engerem Sinne stellen Niederschriften dar. Diese
umfassen Geschäftsschriften, schriftliche Ereignisberichte,
historiographische Werke, Zeitungen usw. Während das
erhaltene Geschäftsschriftgut objektiv und zuverlässig ist
– es geht dabei um eine Art von Überresten der Geschäftsführung, muss der Historiker bei der Erforschung von
Ereignisberichten die subjektiven Interessen des Autors ausschliessen. In weiterem Sinne stellen auch materielle Überreste historische Quellen dar, etwa Gelände, Wohnanlagen,
Betriebsanlagen, Werkzeuge, Erzeugnisse, Kunstwerke.
Die Gegenüberstellung von materiellen Überresten und schriftlichen Quellen im Hinblick auf eventuelle vorsätzliche Fälschung von Tatsachen seitens des
Quellenautors ergibt, dass materielle Überreste Vorteile
vor jenen schriftlichen Quellen bieten, die nicht zu den
Überresten gehören, weil sie bereits in ihrer Entstehungsphase echt sind.
Sowohl bei archäologischen materiellen Überresten
als auch bei klassischen historischen schriftlichen Quellen
für ältere Epochen ist der Forscher mit der Tatsache konfrontiert, dass er mit einem zufällig erhaltenen und gefundenen Materialfragment zu tun hat. Es ist durchaus möglich, dass das Material bereits bei seiner Entstehung nicht
über jene Elemente verfügte, deren der Forscher bedürfte,
um die richtige Schlussfolgerung hinsichtlich des zu erforschenden Problems ziehen zu können. Bei der Deutung
von schriftlichen Quellen wie von materiellen Überresten
hängt die gefundene und dargelegte «Wahrheit über die
Vergangenheit»1 von Befähigung, fachlicher Hingabe und
Objektivität des Forschers ab.
Umfang und Aussagekraft der verfügbaren Quellen, auf
die sich Archäologie und Geschichte bei ihren Erkenntnissen stützen, sind bei verschiedenen Epochen und
verschiedenen Themen mal der Archäologie mal der
Geschichte mehr zugeneigt.
Die historische Epoche, die älter als fünf Jahrtausende ist – sie kann auch als Urgeschichte bezeichnet werden – fällt in den Zuständigkeitsbereich der Archäologie.
Auch in der Epoche bis zum Ende des Frühmittelalters,
wo der Umfang historischen Schriftguts noch bescheiden ist, hat die Archäologie den Vorrang. Später steigt
der Umfang der schriftlichen Quellen rasch an. Tief in
die Neuzeit treten daraufhin Archäologie und Geschichte parallel als selbstständige, sich gegenseitig ergänzende
Disziplinen auf, wobei sie dasselbe Ziel verfolgen: die
Erforschung des menschlichen Lebens in der Vergangenheit. Etwa seit dem 19. Jahrhundert beginnt die Ethnologie die Rolle der Archäologie zu übernehmen.
Im Hinblick auf die zu behandelnden Fragen muss
festgehalten werden, dass für die Erforschung des Alltags,
der Wohnkultur und der Wirtschaft (Wohnstätten und
andere Anlagen, Geräte, Waffen, Ernährung) im Allgemeinen vor allem die Archäologie zuständig ist. Für das
politische Geschehen, die Gesellschaft, das Geschäftsleben, das Recht in der Vergangenheit bieten schriftliche
Quellen und das Fach Geschichte mehr Antworten.
Diese theoretischen Überlegungen zum Verhältnis
Geschichte–Archäologie sollen nun durch einige konkrete, praktische Beispiele veranschaulicht werden. Dabei
soll einerseits auf unerwartete Möglichkeiten schriftlicher
Quellen, andererseits aber auf deren Einschränkungen
hingewiesen werden.
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1
Der Ausdruck «historische Wahrheit», an dem die Archäologen oft Anstoss
nehmen, wird hier nicht verwendet, obwohl das Eigenschaftswort «historisch»
nicht die Bedeutung «Wahrheit des Historikers» oder «dem Fach Geschichte
eigene Wahrheit» beinhaltet, sondern «das in der Vergangenheit Geschehene»
bezeichnet.
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Schriftliche Quellen: Möglichkeiten
Kann eine schriftliche Quelle über die Bedürfnisse des
interessierten Historikers hinausgehen und das Wissen
anderer Fachbereiche ergänzen, deren Forschungsgegenstand materielle Überreste sind, etwa das Raumbild
in der Vergangenheit? Dieses erregt sowohl das Interesse der Archäologen und Historiker als auch jenes der
historischen Geographen, Landschaftsarchitekten, Architekten, Kunsthistoriker usw. Raumforschungen legen
eine Zusammenarbeit zwischen Fachgebieten nahe, die
mit konkreten materiellen Überresten zu tun haben, und
jenen, die auch sekundäre (schriftliche, künstlerische,
historisch-geographische, architektonische) Zeugnisse
erforschen. Zu den Letzteren, d.h. zu den Fachgebieten, die eine «nicht-invasive» Herangehensweise bei der
Behandlung von erhaltenen Überresten der Vergangenheit verwenden und mittelbare Zeugnisse erforschen,
kann auch die Geschichte gezählt werden durch ihre
Analyse von schriftlichen Quellen, aber auch von Katasterkarten und anderen historischen kartographischen
Darstellungen sowie von bildlichen Darstellungen der
jeweiligen Ansichten und Gelände.
Versuche von interdisziplinären Geländeforschungen2 gab es in Slowenien bereits mehrere. Andrej
Pleterski versuchte, einen historischen Bogen über die Entwicklung des Bled-(Veldes)-Winkels (Gorenjska/Oberkrain) zu spannen von archäologischen frühmittelalterlichen
Überresten bis zum franziszeischen Kataster des 19. Jahrhunderts.3 Alja Brglez dagegen unternahm den Versuch,
mithilfe von historischen Niederschriften, von ehemaligen
bildlichen und kartographischen Darstellungen sowie aufgrund der aktuellen Geländeaufnahmen zu einem urbanistischen Bild der nordwestlichen istrischen Stadt Piran (Pirano) in den ersten Jahrhunderten der Neuzeit zu gelangen.4
Die Erkenntnisse, die man aufgrund der schriftlichen Quellen (mit Ausnahme des Katasters) gewinnt, sind
weniger konkret als die materiellen Überreste im Gelände.
Einzelne Niederschriften sind dagegen aussagekräftiger als
die Anderen und ermöglichen Schlussfolgerungen, die das
allgemeine Wissen über den Raum bereichern.
Raumbild der istrischen Küstenstädte Piran/
Pirano, Izola/Isola, Koper/Capodistria
Als Beispiel sei eine Niederschrift aus dem Piraner Archiv5
zitiert, die das Architekturbild Pirans im 17. Jahrhundert
ergänzt. Es handelt sich um ein «Verzeichnis von Vornamen, Familiennamen, von Beinamen und Hausbesitz,
von Weingärten, Gärten und Lokalitäten, die sich inner-
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Das Zusammentreffen von Geschichte und Archäologie
halb oder außerhalb des Grundrisses der Stadt Piran befinden oder liegen, sich berühren oder anlehnen innerhalb
oder außerhalb der Stadtmauer, von dieser oder den
Türmen eingefriedet sind. Es reicht von dem Hügel und
Weingarten namens Battifreddo bis hin zur Stadtmauer
und der Anhöhe mit der neuerrichteten Georgskirche, die
sich oberhalb der Stadtmauer erhebt» (Descrittione de nomi,
cognomi, pronomi et possesioni di case, vigne, orti et luoghi, che
sono di dentro et fuori situati, et posti et attacati, appogiati et
fabrichati nelle muraglie, torri della terra di Pirano, incominciando del monte et uigna de Battifreddo per giro fino alle muraglie et
monte della chiesa di San Georgio sopra quali muraglie si uede di
nouo esser fabricata). Das Verzeichnis umfasst 114 bebaute
oder lediglich kultivierte Grundstücke und Objekte längs
der damaligen Stadtmauer von Piran. Die Grundstücke
kommen im Verzeichnis nummeriert und in der Reihenfolge vor, wie sie aufeinander folgten. Auf die laufende
Nummer des Grundstücks folgt die nähere Bestimmung
des Objekts (Haus, Hütte, Turm, Stall, Lagerstätte, Ölmühle, Ofen, Schlachthaus, Weingarten, Garten), ferner dessen
Beiname, der Name des Besitzers und die Beschreibung.
Der Schreiber trug die Eigenschaften der Objekte nicht
genau ein. Diese sollten in erster Linie einer eindeutigen
Identifikation der Grundstücke dienen, für das Studium
der ehemaligen Baupraxis waren sie jedoch mangelhaft.
Sie stellen lediglich eine Richtschnur für die Erforscher der
ehemaligen Architektur- und Bausubstanz von Piran dar.
Die schriftlichen Quellen bieten von der zweiten
Hälfte des 14. Jahrhunderts an auch Angaben über den
Piraner Stadtkern – über seinen Hafen, das Tor zur grossen
weiten Welt, sowie über den anliegenden Markt. Im Jahr
1320 wurde ein umfassender Plan für Erneuerung und
Erweiterung des Hafens erarbeitet, der jedoch nicht in
die Tat umgesetzt wurde. In den dreissiger Jahren wurden
Bauarbeiten an dem Hafenmole durch den Zimmermeister Ognobene aus Cividale durchgeführt. Veränderungen
im Stadtkern kann man aufgrund von Niederschriften,
historischen Karten (und bildlichen Darstellungen) bis
zur Zuschüttung des Innenhafens und auch danach verfolgen: Darüber schrieben ausser dem Architekten Stane
2
3
4
5
Eines der imposantesten internationalen Projekte stellt in diesem Rahmen die
Herstellung von Städteatlanten dar, die von einer Sondergruppe bei der Internationalen Kommission für Städtegeschichte (Commission internationale
pour l’histoire des villes) vorbereitet wird.
Pleterski 1986; Pleterski 1989, 157–182.
Brglez 2005.
Sodstvo (1592–1610) (= Das Justizwesen (1592–1610); vgl. Miheli 1990,
1–23.
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Das Zusammentreffen von Geschichte und Archäologie
167
Abb. 1: Stadtplan von Piran.
Bernik auch die Historiker Antonio Alisi, Miroslav Pahor,
Flavij Bonin, Darja Miheli , die Kunsthistoriker Miloš
Mikeln, Breda Kovi , Sonja Ana Hoyer, Mojca Gu ek.6
Erst eine Synthese der einschlägigen Fragen, die in ihren
Werken behandelt werden, vermittelt ein ganzheitliches
Bild Pirans im Laufe der Zeit.
Für die Piraner Baugeschichte – für den Komplex
der Georgskirche – werden sowohl im Piraner Stadt- als
auch im Kapitelarchiv Niederschriften aus dem letzten
Jahrzehnt des 16. und aus dem ersten des 17. Jahrhunderts aufbewahrt: Pläne, Verträge sowie Angaben über
den Umbau der Pfarrkirche (Bau eines neuen Turms,
Fassadenrenovierung, Bau einer Stadtmauer unterhalb
der Kirche).7 Die Baugeschichte der Piraner Pfarrkirche
versuchten Restauratoren und Archäologen durch «invasive» Sondierungen zu beleuchten. Die von Darja Miheli
vorgeschlagene Methode der Erforschung der Geschichte
dieses imposanten Gebäudes durch «nicht-invasive» Deutungen von Originalurkunden wurde gern angenommen.
Verheissungsvoll war vor allem die Tatsache, dass die
schriftliche Angabe über ein Beinhaus in der Kirche durch
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gleichzeitige unabhängig davon durchgeführte Ausgrabungen unerwartet bestätigt wurde.
Ebenso aussagekräftig ist eine Aufzeichnung, die
das Architekturbild des benachbarten Stadt Izola (Isola)
beleuchtet. Das mittelalterliche Gesetzbuch – das Statut
von Izola8 – enthält den Artikel (Buch III, Artikel 60) De
andronis interdictis mondandis in anno (Über die jährliche
Säuberung der verbotenen «Andronen»). Eine «Androna» bezeichnete eine enge Passage zwischen den Häusern,
durch welche Fäkalien, Spülwasser und andere Abwässer
abgeführt wurden. Durch den einschlägigen Artikel wurden Eigentümer und Besitzer von Immobilien an den
«Andronen» verpflichtet, die «Andronen» am Marktplatz
sowie an der oberen und unteren Seite der Kommunalstraße in Izola dreimal jährlich zu säubern. «Andronen»,
die statutengemäss in den Stadtkomplex inkorporiert
6
7
8
Bernik 1968; Alisi 1971; Kovi /Pahor 1960, 21–36; Bonin 1993, 10–27; Miheli 1985, 142–143; Miheli 1995, 7–14; Hoyer 1993, 86–110;
Miheli 1992, 257–266; Miheli 1996, 4–9; Miheli 1995, 7–14.
Morteani 1889, 173–175; Kos 2006, 279–280.
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168
Das Zusammentreffen von Geschichte und Archäologie
Abb. 2: Schematische Simulation von «Andronen» in Izola.
waren, gab es 23. Das Statut enthält bei den meisten
«Andronen» die Angabe über ihren Standort, der durch
die Beschreibung der benachbarten Immobilien und die
Angabe über deren Eigentümer bestimmt wird. Erwähnt
werden auch einige kommunale öffentliche Flächen
(Marktplatz, Hauptstrasse und «untere» Kommunalstrasse), Kommunalgebäude (Stadtmauer) und Strand (Meer).
Die bekannten Tatsachen ermöglichen eine annährende
schematische Simulation von benachbarten «Andronen»
und Eigentümern von benachbarten Immobilien.9 Die
Simulation kann einen wohlbegründeten Hinweis für eine
weiterführende Arbeit des Archäologen darstellen, für den
die «Andronen» eine Fundgrube bedeuten.
Auch für die dritte slowenische Küstenstadt Koper
stehen uns schriftliche Quellen zur Verfügung. Leider
wurde das ältere Stadtarchiv während des Zweiten Weltkriegs in seiner Gesamtheit von der italienischen Besatzungsmacht nach Venedig verbracht, hinsichtlich seines
Zugangs bestehen heute Einschränkungen.
Die Bevölkerung von Koper siedelte im Frühmittelalter auf die naheliegende Insel über. Die ursprüngliche
Stadt, das antike Aegida, befand sich laut Plinius auf dem
Festland.10 Trotz grosser Anstrengungen der Archäologen,
die in der Stadt und ihrer Umgebung eine rege Tätigkeit
entwickeln, ist der Standort der antiken Siedlung nach
wie vor unbekannt. Ebenso ist es den Archäologen nicht
gelungen, die bisher fast übersehene älteste, urkundlich
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überlieferte, monastische Einrichtung für Frauen im
Gebiet des heutigen Sloweniens aus dem ersten Jahrzehnt
des 10. Jahrhunderts11 in der Stadt zu lokalisieren.
Schriftliche Quellen: eingeschränkter Nutzwert
Wenden wir uns nun dem Gesichtspunkt des eingeschränkten Nutzwertes einer Niederschrift im Hinblick
auf eine konkret gestellte Frage zu. In welchem Masse
lassen sich schriftliche Quellen für die Geschichte eines
Wirtschaftszweigs, etwa Produktionshandwerks, verwerten? Fest steht, dass sie ermöglichen, die Namen der
Handwerker und deren Zahl festzustellen. Selten werden ihre Werkzeuge, öfter dagegen ihre Erzeugnisse und
deren Preise erwähnt, ferner der Verdienst, die Bildungsmöglichkeiten, die Bruderschafts- und Zunftregeln. Der
technische Fertigungsablauf, das Aussehen von Werkzeugen und Werkstätten sind aus den Niederschriften nicht
ersichtlich. Der Forscher ist vor allem mit der Schwierigkeit konfrontiert, die materiellen Überreste zu benennen
oder ihn mit dem Wort in der Aufzeichnung in Verbindung zu bringen.
Wie aussagekräftig sind also schriftliche Quellen?
An dieser Stelle sei das Töpferhandwerk genannt, ein
9
10
11
Miheli 1999, 453–458.
Plinius.
Štih 2005, 43–60.
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Das Zusammentreffen von Geschichte und Archäologie
Paradefach der Archäologie. Es handelt sich um einen
Produktionszweig, der auf eine lange Tradition zurückblicken kann und dessen Erzeugnisse die Menschen von
alters her bedurften. Töpferei kam im Mittelalter sowohl
auf dem Land als auch in der Stadt als Heim- oder Berufsgewerbe vor.
Töpferhandwerk in slowenischen
mittelalterlichen Städten
Die ersten mittelalterlichen schriftlichen Erwähnungen
von Töpferwaren, d.h. des Geschirrs, das jedoch nicht
beschrieben ist, beziehen sich in Slowenien auf die Stadt
Piran. Im November 1295 traf sich der Piraner Podestà
Nicolaus Dandulo mit dem Podestà von Buje Vicardus de
Pietra Pelosa bei einem Festmahl (prandium) zusammen.
Im Dezember begab er sich mit dem istrischen Markgrafen
Musco della Torre auf eine dreitägige Besichtigung der
Grenze zwischen den Kommunen Piran und Buje. Beide
Male wurde viel gegessen und getrunken. Die Ausgabenliste12 enthält auch die Posten: Gewürze, Ausleihe von
Tassen (scudella), von Weingefässen (angasta), von Tellern
(ciatus), von Waschgeschirr (pladena) sowie Entschädigung
im Falle ihrer Beschädigung. Form, Farbe und Material
des genannten Geschirrs, sind nicht überliefert. In einem
ähnlichen Zusammenhang werden auch die Gefässe im
Piraner Statut aus 138413 erwähnt, das einen Artikel enthält mit dem Titel De frangentibus urcios, fialas uel ciatos in
tabernis (Über diejenigen, die Krügel, Krüge oder Teller
in Wirtshäusern zerschlagen). Der Artikel verbietet das
übermütige Zerschlagen von Weintrink- und Weinmessgefässen. Sonst wird vor der Mitte des 14. Jahrhunderts in
den Piraner Niederschriften ein einziger Tassenhersteller
erwähnt,14 aber auch dieser war kein Einheimischer – der
scudelarius Wilhelm stammte nämlich aus Venedig.
Im Mittelalter wurden im Piraner Raum auch
Dachziegel hergestellt, wovon die Ausfuhr derselben in
das benachbarte Triest zeugt.15 Über die Herstellungstechnik und die Form der Erzeugnisse wird in den Niederschriften jedoch nicht berichtet.
Das Hafnerhandwerk ist auch in slowenischen Binnenstädten überliefert,16 etwa in Ljubljana (Laibach),17 in
dessen Nähe es eine Überfülle von Lehm gab. Gehen wir
nur von schriftlichen Quellen aus, so ist an dieser Stelle die Ersterwähnung der Frau eines Hafners (Haffnar),
genannt Hainreih, zu nennen (1391). Vom Beginn des
15. Jahrhunderts ist Hafner Nicolas mit Maierhof vor der
Unteren Brücke (heute: Die Drei Brücken) überliefert.
Am Ende des 15. Jahrhunderts wird unter den Unter-
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169
tanen der Kreuzritterordenskommende Herman Haffner erwähnt. Mehr Hafner kommen in Niederschriften
der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts vor: in Ljubljana wirkten sechs (in Maribor (Marburg) zur selben Zeit
nur zwei)18 Hafner. Im 17. Jahrhundert begegnet man 10
Hafnern. Die Hafnerbruderschaft in Ljubljana wird im
Jahr 1545 erwähnt. Die im Jahr 1722 bestätigte HafnerZunftordnung für ganz Krain beinhaltet die Verpflichtung, dass ländliche Hafnermeister der Ljubljanaer Zunft
angehören müssten, falls sie nicht bereits einer anderen
Zunft angehörten. Hafner lagen sich mit Maurern in den
Haaren, weil Letztere durch Errichten von Kachelöfen
in ihren Arbeitsbereich eingriffen. Seit dem Mittelalter
wirkten in Ljubljana auch Ziegeleien; im Jahr 1559 gab
es zwei davon in der Vorstadt Trnovo (Türnau). Wahrscheinlich befanden sich daneben Hafner- oder Ofenbauerwerkstätten, die für die Mitte des 18. Jahrhunderts
überliefert sind.19
In Kamnik (Stein in Oberkrain) wird bereits 1359
ein Grundstück in Tuhinj- (Tuchein-) Tal erwähnt, wo
Lehm gewonnen wurde. Dafür mussten die Hafner je
10 Pfennig Venediger Schillinge zahlen. Laut erneuerter
Zahlungsbestimmung von 1493 musste die Zahlung am
St. Michaelstag (29. September) geleistet werden. Zu
Beginn des 16. Jahrhunderts werden in Kamnik sechs
Hafner erwähnt, vier davon hatten ihre Häuser am Graben vor der Stadt.20
Im Jahr 1510 baten die Hafner in Škofja Loka
(Bischoflack in Oberkrain) um Erlaubnis zur Gründung
einer Zunft. Die Zunft vereinigte in ihren Reihen auch
Hafner aus Stara Loka (Altlack). Über deren Zunftgenossen legt das Verzeichnis aus dem Jahr 1522 sowie das
Urbar aus dem Jahr 1537 Zeugnis ab. Die Hafner von
Škofja Loka mussten ihre legitime Geburt nachweisen.
Die Lehrzeit eines Gesellen war auf drei Jahre festgesetzt,
während dieser Zeit wurde er vom Meister beköstigt und
12
13
14
15
16
17
18
19
20
Franceschi 1924, Nr. 221; Miheli 1984, 7–10.
Pahor/Šumrada 1987, 571; Miheli 1993a, 95–100.
Vicedominus Buch 1 (Vizedombuch Nr. 1), folio 92 verso – 20. 9. 1325.
Notarska knjiga 13 (Notarbuch Nr. 13), folio 21 verso – 30. 10. 1304; Vicedominus Buch 8 (Vizedombuch Nr. 8), folio 212 verso – 19. 11. 1339; Miheli
2006, Nr. 222.
Einen Grossteil der Angaben, mit denen ich das Hafnerhandwerk im Inneren
des slowenischen Raums hier zu illustrieren versuche, sind den Quellenveröffentlichungen und der relevanten Literatur entnommen; bei der Letzteren
berücksichtige ich nur jene Angaben, die meines Wissens auf schriftlichen
Quellen beruhen.
Valen i 1972; Otorepec 1957b, Nr. 38, 40, 43, 75; Otorepec 1968, Nr. 1, 2, 5.
Miheli 1993b, 497–503.
Kos 1991, 48–52.
Otorepec 1957a, 43–61.
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170
bekleidet. Nach der beendeten Lehrzeit liess dieser ein
neues Kleid für ihn machen. Bei der Meisterprüfung
musste der Geselle vor der Kommission, die vier bis
sechs Meister zählte, einen Topf anfertigen, der circa 15
Liter fasste. Der Patron der Hafner von Škofja Loka war
der Hl. Florian. Zunftgenossen traten auch im Vorspiel
der slowenischen Passion auf, die man in Škofja Loka
1721 aufzuführen begann.21
In Kranj (Krainburg in Oberkrain) wird ein Hafner zu Beginn des 16. Jahrhunderts erwähnt. Die Hafner
von Kranj waren bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts
in keiner Zunft vereinigt. In dieser Zeit liessen sich die
Brüder Ratajc aus Liboje (Steiermark) in Kranj nieder,
die auf eine mehr als zehnjährige Hafnerpraxis zurückblicken konnten. So wurde im Jahr 1604 in Kranj die
Hafnerzunft der Muttergottes gegründet.22
In der Steiermark genossen die Hafner aus dem
deutschen Kindberg besondere Rechte. Der steirische
Herzog Wilhelm bestätigte ihnen 1396 das Recht, ihre
Häfen (Höfen) frei in Steyr in Stetten, Märckhten, Dörffern
und auf dem Lannde zu verkaufen. Sollte der Herzog oder
sein Nachfolger in Kindberg oder Bruck weilen, so hätten die Kindberger Hafner die Pflicht, sie mit dem nötigen Kochgeschirr umsonst zu versorgen. Herzog Ernst
erneuerte 1407 das Privilegium. Herzog Friedrich trug
1425 dem Abt von Neuberg auf, die Hafner aus Kindberg gegen die von Kapfenberg in Schutz zu nehmen,
weil Letztere sie bei der Beschaffung von Lehm für weissglasierte Töpfe behinderten. Im Gegenfall könnten die
Ersteren ihre Geschirrlieferungen an die herzogliche
Küche nicht gewährleisten. Herzog Friedrich der Jüngere
bestätigte die Kindberger Privilegien, den Kindberger
Hafnern trug er jedoch auf, ihn und seinen Bruder Albrecht mit Geschirr zu versorgen.23
Im erneuerten Stadtrecht von Ptuj (Pettau in der
Steiermark) von 151324 werden die Hafner Peter und Jorg
Haffner erwähnt. Fortan wirkten in Ptuj je zwei bis drei
Meister samt Werkstätten. Im Rauchgeld-Verzeichnis von
1572 kommen fünf Hafner vor, von denen zwei zweifelsohne das Hafnerhandwerk ausübten. Ins Jahr 1577 datiert
die älteste erhaltene Zunftordnung der Hafner von Ptuj,
die später mehrmals bestätigt wurde. Sie bestimmte den
Arbeitsbereich der Hafner von Ptuj, die Lehrzeit eines
Hafnerlehrlings wurde auf drei Jahre festgesetzt. Dann
begannen die Wanderjahre des Hafnergesellen, in denen
er Erfahrungen sammelte, um anschliessend noch ein
Jahr als Geselle «abzuarbeiten». Bei der Meisterprüfung musste er als Meisterstück ausser einem Topf noch
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Das Zusammentreffen von Geschichte und Archäologie
einen Ofen anfertigen. Die Hafner von Ptuj erzeugten
auch Ofenkacheln und Öfen. Eine kostbare Quelle für
die Evidenz der am Hafnerhandwerk in Ptuj Beteiligten
stellt das Register der Hafnergesellen von Ptuj dar.25
Auch die Hafner von Celje (Cilli in der Steiermark) waren in einer Zunft vereinigt, deren Bestimmungen in das Familienleben ihrer Mitglieder eingriffen: Der Hafnermeister, der seine Frau verlassen habe,
soll das Handwerk niederlegen, bis er den Weg in das
ehrliche Eheleben wiedergefunden habe.
Töpferhandwerk im ländlichen Gebiet
Sloweniens im Mittelalter
Im ländlichen Gebiet der Herrschaft Gornji Grad (Oberburg in der Steiermark), wird in 1340 Chunrad der Hafner
erwähnt. Im Urbar von Gornji Grad von 1426 kommen
Hafner Martin Sywecz, Micla haffner sowie Michel und
Jannes Pet(t)schonat(t)em (Ofensetzer), ebenso Niclas
Czigelmeister und Petschnik (Ofensetzer) vor.26 Ende des
15. Jahrhunderts wird ein Hafner auf der Ptujska gora
erwähnt. Vor der Mitte des 16. Jahrhunderts werden im
Schätzungsverzeichnis von Borl ein Lonzer und zwei
Lon ari erwähnt. Um 1500 kommt auf der Freisinger
Herrschaft Škofja Loka (Bischoflack) der Familienname
Hafner vor, der von einer langen Tradition des dortigen
Hafnerhandwerks zeugt.
Den Erwähnungen von Hafnern begegnet man in zahlreichen mittelalterlichen und neuzeitlichen Niederschriften: ausser in Zunfturkunden auch in Urbaren
(etwa nicht weniger als sechs Hafner (hefner) im Urbar
von Sevnica (Lichtenwald) aus dem Jahr 1448: Michael,
Clement, Niclaus, Lucas, Merin, Paul, alle in Hafnertal),27
in Steuerverzeichnissen, in Rechnungs- und Handelsbüchern, in Matrikeln, einzelnen Erwähnungen von Familiennamen mit der Bedeutung Hafner begegnet man in
verschiedenen anderen Niederschriften.
21
22
23
24
25
26
27
Blaznik 1940; Blaznik 1960, 81–87.
Žontar 1939, 195–196.
Popelka 1950, Nr. 37, 44, 63, 67.
Hernja-Masten/Kos 1999, 202, 214.
Mirkovi 1969, 145–158.
Orožen 1876, 120, 256, 258, 279, 301, 315.
Zahlreiche davon sind in der Sammlung Viri za zgodovino Slovencev = Fontes
rerum Slovenicarum erschienen; zu dem Hafnertal, vgl. Kos 1939, 131–132.
14.11.2009 14:54:41 Uhr
Das Zusammentreffen von Geschichte und Archäologie
Zum Schluss: Erkenntnisse –
Erkenntnissbeschränkungen
Das Verzeichnis von bekannten Töpfern, ihren Erzeugnissen, Angaben über ihr Leben usw. könnte durch eine
gezielte Forschung von Niederschriften erweitert und
ergänzt werden – ebenso wie immer neue archäologische
Ausgrabungen das Bild der ehemaligen materiellen Vergangenheit des erforschten Gebiets vertiefen.
Vorausgesetzt, es wäre vollständig, würde das Verzeichnis aller schriftlichen Erwähnungen von Töpfern in Slowenien ein Bild der Verbreitung dieser Tätigkeit in den
verschiedenen Gebieten im Laufe der Zeit ergeben. Es
würde die Herkunft und Verwandtschaft von Töpferfa-
Buch SKAM 36.indd 171
171
milien vermitteln. Aufgrund von Abgaben und Pflichten
der Töpfer könnte ihr Besitzstand ermittelt werden. Die
Zunftbestimmungen legen Zeugnis ab von der Zunftorganisation der Töpfer, von ihrem Gesellschaftsleben,
von ihrer Ausbildung, von ihren Arbeitsnormen usw.
Alle Niederschriften und ihre Analyse sind jedoch – trotz
der Fülle von Angaben, die sie uns bieten – nicht in der
Lage, ein einziges winziges Töpfererzeugnis zu vergegenständlichen, das die Archäologen uns in grossen Mengen vorzuzeigen imstande sind. Wenn der Historiker
bei einer derartigen Forschung ihre Erkenntnisse nicht
heranzieht, bleibt sein Wissen mangelhaft, so als ob seine Wahrnehmung eines Sinnes beraubt wäre.
14.11.2009 14:54:41 Uhr
172
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Das Zusammentreffen von Geschichte und Archäologie
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(Regionalarchiv Koper, Aussenstelle Piran, Vizedombuch Nr. 8).
Žontar 1939 – Josip Žontar, Zgodovina mesta Kranja [Geschichte der Stadt
Kranj], Ljubljana 1939.
Abbildungsnachweis
1 Caprin 1905, 124–125
2 France Miheli
14.11.2009 14:54:41 Uhr
Der Berner Münsterbau
173
Isabelle Schürch
Der Berner Münsterbau
Das St. Vinzenzen-Schuldbuch von 1448 bietet Einblicke in den finanziellen,
wirtschaftlichen und konkret materiellen Alltag des Münsterbaus.
I. Das St. Vinzenzen-Schuldbuch von 1448
Obwohl sich die folgenden Ausführungen auf den ersten
Blick um das eindrucksvolle Wahrzeichen von Bern,
das Berner Münster, drehen, soll eben gerade nicht das
architektonische Bauwerk im Mittelpunkt stehen, sondern vielmehr ein unscheinbares, zerzaustes Buch, das
bescheiden sein Dasein nur wenige Schritte vom Münster entfernt im Stadtarchiv Bern fristet. Für einmal sollen weder die Bauetappen,1 noch die Glasmalereien2 und
auch nicht die spektakulären Skulpturenfunde3 ins Blickfeld der Betrachtung gerückt werden, sondern das in der
Literatur unter dem Namen «St. Vinzenzen-Schuldbuch»4
bekannte Notizbuch, das 1448 vom damaligen Kirchenpfleger Thüring von Ringoltingen angelegt wurde. Das
über 300 Seiten umfassende Schuldbuch wurde bislang
eher als – um in der Sprache der Thematik zu bleiben –
Steinbruch denn als Quelle per se bearbeitet. Obwohl das
St.Vinzenzen-Schuldbuch nicht mit einem buchhalterisch
geführten Rechnungsbuch verglichen werden sollte, kann
dieses als aide-mémoire angelegte Buch, als Quelle betrachtet, den Finanzierungsalltag und die Praxis der Kirchenpflegschaft erhellen. Konkret soll es darum gehen, den
Bau in seiner Alltagsform zu fassen, zu der eben gerade
nicht die spektakulären Stiftungen gehören. Das Schuldbuch widerspiegelt den Alltag, in welchem es um jeden
einzelnen Schilling geht und darum, wie man zum Beispiel Geld aus dem abzubrechenden Langhaus der alten
Leutkirche machen kann: Im Mittelpunkt steht also das
Konkrete, das Materielle. Ziel ist es daher nicht, eine umfassende Übersichtsdarstellung über die Baufinanzierung
des Berner Grossprojekts «Neubau der Leutkirche», wie
das Münster für diesen Zeitraum noch genannt werden
muss, zu erarbeiten, sondern vielmehr, einen zeitlich,
thematisch und quellenbedingt begrenzten Einblick in
die Berner Münsterbaufinanzierung zu ermöglichen.
Im Folgenden sollen also Fragestellungen entwickelt werden, deren Beantwortung eine Analyse des
Schuldbuchs zu leisten vermag. Einhergehend mit diesem Ausgangspunkt müssen aber auch Fragen aufgegeben
werden, zu deren Klärung die vorliegende Quelle nicht
herangezogen werden kann, ohne dass man sich dem
Buch SKAM 36.indd 173
Vorwurf der Zweckentfremdung ausgesetzt sehen müsste.
Unabdingbar für eine fruchtbare Bearbeitung ist in einem
ersten Schritt also, klar die Grenzen der Leistungsfähigkeit der erhobenen Informationen abzustecken.
Den vorliegenden Ergebnissen liegt die Bearbeitung des Schuldbuchs zugrunde, welche sowohl auf einer
aktuellen Transkription als auch auf einer Datenbank
beruht, und darüber hinaus eine Möglichkeit darstellen
soll, wie eine historische Schriftquelle archäologische
und kunsthistorische Befunde unterstützen und in Teilen
auch erweitern und bereichern kann.
Das St. Vinzenzen-Schuldbuch liegt uns im arg
abgenutzten Autograph vor und ist im Stadtarchiv Bern
unter der Signatur A 338 zugänglich. Von den 168 folii
ist allerdings rund ein Drittel nicht beschriftet. Anhand
der Einträge lassen sich neben Thüring von Ringoltingen auch Hans Kindemann und Hans Schütz fassen,
die ebenfalls selber Einträge im Schuldbuch notierten.
Zudem wird sehr oft ein Hentzmann Gottfried genannt,
der anscheinend für den Empfang der Schulden und Stiftungen zuständig war und somit eine eher assistierende
Funktion innehatte, wie die Formeln «het Gottfriden
geben» oder «seit mir Gottfried» andeuten. Von den über
1250 Einträgen, welche die Jahre 1448 bis 1475 umfassen,
lassen sich rund 41% Thüring von Ringoltingen zuweisen, rund 38% Schütz, 9% Kindemann, weitere 8% sich
nicht zuordnen lassen und der Rest, also gut 10%, verteilt
sich auf einzelne Einträge verschiedener Amtsträger.
Das St. Vinzenzen-Schuldbuch als Dokument
kommt am ehesten einer Notizensammlung gleich. Über
mehr als zwei Jahrzehnte wurde in diesem Buch alles
gesammelt, was in irgendeiner Form Einträge versprach,
die dem Helg5 zugute kommen sollten. Es finden sich
von verbrieften Schulden über Versprechungen bis hin
1
2
3
4
5
So zum Beispiel bei Mojon 1960.
Vgl. die ausführliche und beispielhaft aufgearbeitete Studie von KurmannSchwarz 1998.
Sladeczek 1999.
Stadtarchiv Bern A 338.
Mit dem Ausdruck «helg» bezeichnet die Quelle zwei Dinge, einerseits den betreffenden Patron der zu erbauenden Kirche, andererseits aber auch die «fabrica».
14.11.2009 14:54:41 Uhr
174
Abb. 1 Einführungstext im St. Vincenz-Schuldbuch.
zu irgendwann vernommenen Äusserungen vielfältigste
Formen von Notizen. Trotzdem lässt sich eine gewisse
Systematik fassen und diese soll auf den nächsten Seiten
rekonstruiert werden.
Was die Grundidee und die Arbeitsweise anbelangt, so
hat diese der Initiator, also Thüring von Ringoltingen,
dem Schuldbuch in seinem Vorwort als konkrete Inhaltsdefinition gleich selbst mitgegeben (Abb. 1):
Transkription:
«Dis ist sanct Vincencyen der luettkilchen von Bern schuld
buoch und ward angefangen zu der heilgen dry kueng tag
genempt epiphanya oder der XIIe tag, als ich Thuering
von Rinkoltingen ein jaer davor der kilchen buwes pflaeger gesin was und ich die schulden eigentlich us allen
buechren und roedeln har in geschriben ha. Ouch stand
dar inne des heilgen Sanct Vincencyen und der pfarrkilchen von Baern jaerliche guelt so noch vor handen und
unveraendert sind uff den tag, als dis buoch angefangen
ward und fieng man an zellen zu wienacht, do dis buoch
angefangen ward, von Christi gebuert tusent vierhundert
viertzig und acht jaer. Doch was den buw an triffet das
staet im buw buoch.»6
In diesem Schuldbuch notiert Thüring von Ringoltingen in seiner Funktion als des «kilchen buwes pflaeger»
die Schulden, die er sich aus Büchern und Rödeln herausschreibt, sowie die «jaerliche guelt», das heisst die festen,
regelmässigen Einnahmen wie Zinsen und Zehnten von
Immobilien. Dass es sich beim Niederschreiben um eine
Momentaufnahme handelt, darauf weist Thüring selber
hin, indem er ausdrücklich festhält, dass das Schuldbuch
nur die Schulden verzeichnet, die zu diesem Zeitpunkt
noch offenstehen. Obwohl eben gerade nicht alle Einnahmen verzeichnet sind und sich hier nur ein Zeitfenster
Buch SKAM 36.indd 174
Der Berner Münsterbau
auftut, soll im Folgenden aufgezeigt werden, dass trotzdem sinnvolle Ergebnisse aus diesem Schuldbuch gewonnen werden können und dass gerade dieser pragmatischpraktische Ansatz des Buches die Handhabung von Buchhaltung und den städtisch-administrativen Alltag in einer
spätmittelalterlichen Stadt erhellen kann.
Vorerst aber zurück zum Vorwort des Schuldbuches.
Ausdrücklich weist Thüring von Ringoltingen am Ende
dieser kurzen Einführung auf das Baubuch hin, in dem diejenigen Schulden, die den Bau direkt anbelangen, vermerkt
sein sollen. Dies betrifft Materialkosten, Arbeiterlöhne, etc.
Es muss wohl an dieser Stelle nicht erwähnt werden, dass
gerade das Baubuch eine wunderbare und optimal ergänzende Quelle darstellen würde, doch ist uns dieses leider
nicht überliefert, ebenso wenig ein Hüttenbuch.
An diesem Vorwort kann gezeigt werden, dass
Thüring von Ringoltingen mit diesem Schuldbuch ein
Verzeichnis anlegt, um eine Übersicht über die dem Helg
geschuldeten Beträge zu bekommen, und zudem auch
eine handfeste Hilfe, um die Schulden einzufordern.
Es geht also in erster Linie darum, den Inhalt von Briefen und Urkunden, die sich vermutlich lose und unsystematisch in der oft erwähnten «kiste» stapelten, sowie
mündliche oder gebrauchsrechtliche Vereinbarungen zu
erfassen und in einem einzigen Dokument zu vereinen.
Gleichzeitig soll aber auch eine Aktualisierung der jeweiligen Besitzverhältnisse durchgeführt werden. So werden im Schuldbuch, gerade was Zinsen von Immobilien
anbelangt, oft Einträge gefunden, welche die «Besitzergeschichten» aufrollen und die Besitzverhältnisse genauer
beleuchten.
Grundsätzlich ist Thüring von Ringoltingen für
die systematische Erfassung der Einträge der Jahre
1448/49 verantwortlich. Er wie auch andere Kirchenpfleger und städtische Beamte notierten später ebenfalls Vermerke, vor allem aber Ergänzungen zwischen Thürings
Einträgen. Solche nachträglich hinzugefügten Vermerke
zusammen mit Streichungen und Quervermerken haben
zur unübersichtlichen Darstellungsweise des Schuldbuchs beigetragen, dennoch lässt sich eine Grundsystematik in der Anlage des Schuldbuchs durch Ringoltingen
herauslesen. Im Folgenden soll diese Grundsystematik
des Schuldbuchs herausgearbeitet und gedeutet werden.
Die Systematik des Schuldbuches lässt sich anhand
der Kapitelüberschriften fassen, welche von Beginn an
6
SVSB, fol. 0r.
14.11.2009 14:54:42 Uhr
Der Berner Münsterbau
angelegt worden zu sein scheinen, denn die Überschriften
sind nicht nur vom Format her ähnlich gehalten, sondern
wurden über das Buch verteilt, so dass wir heute zwischen
den «Kapiteln» teilweise leere oder aber mit nachträglichen, nicht systematischen Notizen gespickte Blätter
finden. Einzig Einträge zu bestimmten Personen, wie
zum Beispiel zu Fränkli oder Miltenberg, scheinen erst
nachträglich der Übersichtlichkeit halber überschrieben
worden zu sein. Diese relativ unübersichtliche Auflistung
der Kapitelüberschriften lässt sich jedoch in eine strukturiertere Form bringen:
1. Jährliche Einnahmen (z. B. Zinsen, Zehnt, ewig Gült)
2. Gewisse Einnahmen (z. B. Schenkungen, Stiftungen)
3. Ungewisse Einnahmen (ausstehende Schulden, mündliche Zusagen)
4. Almosen nach Jahren
5. Ordnungen von Privatpersonen im Wortlaut
6. Gefundene Güter
7. Bussen
8. Ausgaben des Helg
Arnd Reitemeier hat für die von ihm erfassten Rechnungsbücher herausgearbeitet, dass die Reihenfolge der
Einträge erkennen lässt, dass zu Beginn die Festhaltung
der Rechtstitel im Vordergrund zu stehen scheint. Diese
Rechtstitel umfassen in erster Linie Einnahmen von Liegenschaften, auf welche die fabrica rechtlichen Anspruch
hat. Er verweist auf den Umstand, dass solche Rechtstitel
in Rechungsbüchern nicht nur einen vorrangigen, sondern auch einen umfassenden Platz einnehmen. Dies
erklärt sich daraus, dass gerade bei dieser Einnahmequelle
eine rechtliche Handhabe vorlag und somit nachvollzogen werden konnte, wer der fabrica welche Beträge tatsächlich schuldig war.7 In Bezug auf das St. VinzenzenSchuldbuch bestätigt sich diese Vorgehensweise, denn
mit den «jaerlichen guelt» sind nichts anderes als Zinsen
oder Renten von Gütern gemeint, auf welche ein rechtlicher Anspruch bestand. Viel schwieriger erweist sich
der Nachweis von geschuldeten Schenkungen oder freiwilligen Leistungen, da – wie Arnd Reitemeier ausführt
– diese eher summarisch aufgelistet wurden und oft im
Gegensatz zu den besonderen Einkünften auf einem
gemeinsamen Konto verbucht wurden.8
175
Bauetappen und konkret materiellem Baualltag stellen
jedoch nur eine Auswahl dar und sollen in keiner Weise
Anspruch auf Vorrang oder Alleingültigkeit anklingen lassen. Weitere Ansätze wie zum Beispiel die soziale Verteilung der Stifter oder die Verhältnisse zwischen Vermögen
und Stiftungen sind Teil einer separaten Untersuchung,
die in diesem Rahmen nicht diskutiert wird.
1. Finanzierungsstrategien
Um ein Mammutprojekt, wie es der Berner Münsterbau
darstellt, langfristig finanzieren zu können, musste die Stadt
auf verschiedene Finanzquellen zurückgreifen können.
Grundsätzlich sollen die festen Einnahmen den
regelmässigen Zufluss von Einkünften in den Säckel der
Kirchenpfleger sichern. Zinsen von Immobilien waren
zwar sehr wichtig, machten aber nicht den grössten
Anteil der Einnahmen aus. Bereits 1418, also noch vor
der Grundsteinlegung, waren Gesandte nach Rom entsandt worden, um den bereits bestehenden Ablass von
10 Jahren durch Papst Martin V. verlängern zu lassen.
Entscheidender als dieser Ablass erwies sich die ebenfalls
in diesem Zeitraum erwirkte Inkorporation der Kirchensätze von Grenchen, Aeschi, Aarberg und Ferenbalm.9
Der Hauptteil der Einkünfte wurde durch die inkorporierten Kirchensätze Grenchen und Aeschi geleistet,
wobei darauf hingewiesen werden muss, dass Angaben
zu Aarberg fehlen und Ferenbalm im Schuldbuch nicht
erwähnt wird. Ringoltingen selbst spricht auch nur von
drei Kornzehnten.10
Vermutlich wurden diese Zehnten nicht durch
die Kirchenpfleger eingezogen. Wie und ob überhaupt
Anspruch auf diese Zehnten erhoben wurde, kann an
dieser Stelle nicht erläutert werden. Am ehesten noch
drängt sich die Vermutung auf, dass der Rat andere Verhandlungen mit diesen Kirchensätzen geführt hatte.
Vergleicht man die Einnahmen aus ewig Gülten,
Zinsen und Zehnten miteinander, zeigt sich, dass die
Einnahmen aus den Zehnten die ertragstechnisch wichtigsten Einnahmen darstellen. Die folgende Graphik
verdeutlicht die Relation der drei en détail ausgewerteten
Kategorien von festen, regelmässigen Einnahmen. Weniger die absoluten Zahlen, die hier in Schilling angegeben
II. Inhaltliche Auswertung
Es stellt sich hier die Frage nach den Auswertungsmöglichkeiten, denn diese sind es letztlich, welche die Quelle
erst nutzbar machen. Die nachstehenden vier Auswertungsansätze zu Finanzierungsstrategien, Jahresbilanz,
Buch SKAM 36.indd 175
7
8
9
10
Reitemeier 2005, 396.
Reitemeier 2005, 396.
Rennefahrt 1960, 51–54.
SVSB, fol. 7v.
14.11.2009 14:54:42 Uhr
176
Der Berner Münsterbau
Abb. 2 Graphik 1: Übersicht über die Relationen der ersten, regelmässigen Einnahmen. (s = Schilling)
Abb. 3 Graphik 2: Geschuldete Einnahmen und tatsächliche Einnahmen im Vergleich für das Jahr 1448. (fl = Gulden)
werden, als vielmehr die Relationen sollen damit verdeutlicht werden (Abb. 2).
Weiter stellt sich die Frage, inwiefern diese dem
Helg zugute kommenden Einkünfte überhaupt eingetrieben und bezahlt wurden. Für sämtliche Einträge im
Schuldbuch lässt sich sagen, dass die Nachvollziehung
der tatsächlichen eingenommenen Gelder sehr schwierig ist. Während in den ersten Jahren der Führung des
Schuldbuches viele Einträge mit Kommentaren zur
Bezahlung versehen sind, verliert sich diese detaillierte,
nachvollziehbare Handhabung nach 1449. Oft werden
Einträge durchgestrichen, ohne einen Hinweis auf die
Bezahlung zu geben, einige Einträge werden mit dem
Vermerk versehen, dass der Schuldner tot sei und nichts
mehr zu holen wäre, oder es gibt auch Schuldner, die
durch den Rat von ihrer Schuld freigesprochen werden.
Dennoch kann sich eine gewisse Tendenz fassen lassen,
dass sich im Schuldbuch die Hälfte bis rund zwei Drittel
der geschuldeten Beträge als bezahlt nachweisen lassen.
In Bezug auf die regelmässigen Einnahmen zeigt sich ein
noch etwas höherer Durchschnittswert, vor allem für die
Zehntabgaben und die Ewiggülten.
Zudem gibt es die als «gewiss» titulierten Einnahmen, unter denen sich Einkünfte, die zwar nicht jährlich
eingenommen werden können, aber festgelegt sind, verstehen. Reitemeier bezeichnet diese Einnahmeform mit
«besondere Einnahmen».11 In der Regel handelt es sich
bei solchen gewissen einmaligen Einnahmen um Schenkungen, Legate, Stiftungen und Verkäufe.
Thüring von Ringoltingen selber überschreibt die
Einträge für diese gewissen Einkünfte folgendermassen:
«Hie nach stant die gewissen schulden sanct Vincencyen
und sines buws der luetkilchen von Bern ouch usstaende allmuosen so von frommen lueten geben und noch
unbezalt sind.»12
Die übrigen Einnahmekategorien wie z.B. Almosen stellen unsichere monetäre Quellen dar. Diese
durch Einmaligkeit gekennzeichneten Einnahmen sollen jedoch nicht weiter ausgeführt werden, da sie einer
Behandlung als Einzelfallbeispiele bedürften, um ihrer
gerecht zu werden.
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2. 1448: Versuch einer Jahresbilanz
Fast schon naturgemäss interessieren sich der Historiker
und die Historikerin für festmachbare Daten und Zahlen,
da diese konkrete Aussagen zulassen. Im Falle des Schuldbuchs muss allerdings vor summarischen Auswertungen
und Ergebnissen gewarnt werden, da diese den effektiven
Baukosten und den Aufwendungen rund um den Bau in
keinem Fall gerecht werden können. Auch lässt sich keine
Bilanz für das ganze Schuldbuch ziehen, da die Unregelmässigkeit und Unzuverlässigkeit der Einträge ab 1449
dies nicht zulassen. Die einzige einigermassen vertrauenswürdige Momentaufnahme für den Rechnungshaushalt
des Schuldbuchs ergibt sich für das Jahr 1448. Dies ist das
Stichjahr, von welchem Thüring ausgeht, und die Einträ-
11
12
Reitemeier 2005, 449f.
SVSB, fol. 9v.
14.11.2009 14:54:42 Uhr
Der Berner Münsterbau
ge für dieses Jahr scheinen zuverlässig und einigermassen
vollständig zu sein. Mit Vorbehalt können die geschuldeten Summen sowie die tatsächlich eingenommenen
Schulden für dieses Jahr zusammengerechnet werden,
damit sich eine Vorstellung eines möglichen jährlichen
Ertrages der fabrica ergibt und die finanziellen Relationen
des Finanzhaushalts der Kirchenpflegschaft nachvollziehbar werden.
Es handelt sich mit dem Jahr 1448 aber nicht
unbedingt um ein repräsentatives Jahr. Dies liegt zum
einen daran, dass 1448 auf die Initiative von Thüring von
Ringoltingen hin die Schulden und deren Eintreibung
neu organisiert wurden, das heisst, dass wahrscheinlich
das erste Jahr zahlungstechnisch überdurchschnittlich
gut verlief. Zum anderen scheint es, dass das Schuldbuch
in den darauf folgenden Jahren nicht mehr ganz auf dem
detaillierten Stand von 1448 gehalten werden konnte.
Dies ist insofern verständlich, als dass die Schuldbezahlung meist auf kompliziertem Weg verlief, der Aufwand
als Kirchenpfleger neben den sonstigen Tätigkeiten nicht
unerheblich und das Schuldbuch nicht gerade übersichtlich aufgebaut war.
Allgemein gilt es natürlich auch noch mitzubedenken, dass die Schuldbeträge meist nicht durch eine
einmalige Bezahlung beglichen wurden, sondern sich die
Schuldenbegleichung durch Teilzahlungen oft auf mehrere Jahre und mehrere Spender verteilen konnte.
Für das Jahr 1448 lässt sich folgende Bilanz ziehen, die cum grano salis eine erstaunlich hohe tatsächlich
eingenommene Summe ausweist. Diese relativ erfolgreiche Schuldeneinziehung lässt sich, obwohl dies aus
dem Schuldbuch nicht direkt ersichtlich ist, wahrscheinlich auf die Initiative und Beharrlichkeit von Thüring
von Ringoltingen zurückführen (Abb. 3).
3. Bauetappen und deren Finanzierung
Während die Finanzierungsstrategien den Münsterbau erst ermöglichten, werden nun in einem weiteren
Schritt die konkreten Bauetappen anhand der Einträge
ins Schuldbuch nachvollzogen und deren Potenzial als
Ergänzung zu kunsthistorischen Befunden aufgezeigt.
Die Tatsache, dass das Schuldbuch in den 1440er
Jahren von Ringoltingen initiiert wurde, ist nicht unbedeutend, wenn man den Verlauf des Münsterbaus
betrachtet. Die Grundsteinlegung war 1421 mit grossem
Zeremoniell vollzogen worden und ist uns vor allem
durch Justingers Chronikeinträge zugänglich: «Do man
zalt von Gots geburt MCCCCXX iar vor den CC ze
Buch SKAM 36.indd 177
177
Berne wart geoffnet dick, daz notduerftig were ein nuewe
muenster ze buwenne, won die alte kilche dem volk ze
klein were, darzu were es ein alt boes werck und were
ze foerchten, daz es nit lange stunde, es viele danider
[…] Nu hat der tuefel veste gearbeit in der sach, wie daz
hinderzogen were, won er sich versichet, daz im manige
sele entlouffen were dur den grossen aplas, den man mit
dem almusen daran ze gebenne verdienot. Do zugen
doch frome luete, gewaltig und ungewaltig, so vast fuer
sich und woten nid ablassen, daz do aber gesamnot und
geheissen wart, daz man daz werk anvachen solt. Also
kamen die ersten steine zu dem werke uf den kilchhoff
ze Berne uf den nechsten zinstag nach sant Frenentag,
daz do der drit tag septembris. Und also soll sich daz
heilig werk anheben mit den almusen. Gott geb im daz
himelrich der darzu stueret.»13 Luc Mojon hat sehr schön
herausgearbeitet, wie in der ersten Phase des Baus vor
allem die von den vermögenden Berner Geschlechtern
gespendeten Seitenkapellen um die alte Kirche herum
aufgebaut wurden.14 Diese Strategie sicherte einerseits
den Weitergebrauch der alten Leutkirche für den Gottesdienstalltag, andererseits aber auch die Finanzen. Der
Berner Rat hatte sich 1427 von den Deutschen Herren
das Recht übertragen lassen, den Bau der Seitenkapellen und die Finanzierung der Glasfenster der Leutkirche
durch einzelne vermögende Bürger finanzieren und «privatisieren» zu lassen. Gerade diese letzte Finanzierungsmethode lässt sich im Schuldbuch sehr schön ablesen,
da sich Vertreter der vermögenden Berner Geschlechter
diese Möglichkeit nicht entgehen liessen und sich der
Bau in dem vom Schuldbuch abgedeckten Zeitraum
zwangsläufig auf diese Seitenkapellen konzentrierte.15
Das Schuldbuch bietet also neben den archäologischen und kunsthistorischen Untersuchungen des
Münsters eine Möglichkeit, die Bauetappen nachzuvollziehen und diese in ihren historischen Kontext zu setzen.
4. Der konkret materielle Alltag
Der Helg trug in einem nicht zu vernachlässigenden Mass
zur städtischen Wirtschaft bei, da die Summe, die er aus
den verschiedensten Verkäufen erzielte, überaus hoch
war. Erstens verkaufte die fabrica die eingenommenen
Naturalabgaben, zweitens betätigte sich der Helg aber
13
14
15
Studer 1871, 290.
Mojon 1960, 17.
Brigitte Kurmann-Schwarz 1999, 457–465.
14.11.2009 14:54:42 Uhr
178
auch als Baumaterialvertrieb und drittens verkauften sich
Grabstellen in der entstehenden Leutkirche St. Vinzenz
besonders gut.
Der Verkauf von eingenommenen Naturalien war
zwar einigermassen lukrativ, brachte aber logistische Nachteile mit sich, da der Verkauf organisiert und durchgeführt
werden musste und zudem Bedarf an Lagerungsmöglichkeiten herrschte. Der Verkauf von Naturalgaben nimmt
im Schuldbuch keinen grossen Stellenwert ein. Grössere
Verkäufe betreffen vor allem Korn, Holz, Metallwaren
und Textilien (Tuch und Kleidung). Vor allem der Verkauf
von Baumaterial erwies sich als sehr einträglich. So wurden vor allem Stein, Nägel, Holz, Ziegelsteine, Eisen, aber
auch Pferde des Helgs verkauft. Von den knapp über 200
Verkäufen belaufen sich fast 60 auf Helg-Material.
Den grössten Anteil der Verkäufe, über 60, macht
der «Verkauf» von Grabstellen und Grabsteinen aus. Hier
ein Beispiel eines solchen «Grabkaufs» in der Kirche:
«Item Heinrich Hafner sol dem helgen 1 guldin umb ein
grab.» 16
Dass man aber solche Grabkäufe teilweise auch
wieder rückgängig machen wollte, mag den heutigen Leser
erstaunen, wurde aber tatsächlich gemacht: «Item Meister
Phetder der stat arzat sol 1 grab und 1 stein dar uff in der
kilchen neben der von Diesbach kappelen, er hat das grab
ledig gesprochen, und sol Hensli Balsinger das selb grab
4 guldin dar fuit gen und ist in diser kouf geruen und vil
nuit gen.»17
An einigen Stellen kann jedoch die Geldleistung
klar mit ihrer Zweckbestimmung verknüpft werden. Ein
sehr schönes Beispiel findet sich mit der von Hans Schütz
gestifteten Seitenkapelle: «Item so denne umb die xxvij
guldin so Hans Schuettz fuer sich selb dem heilgen sol
wil er an der Cappellen so by der kintbettern tuerli ist
verbuwen und me dar zuo des man im billich getruwen
sol. Denn er by dem ersten haet das glaßvaenster verdinget ze machen».18 Dieser Eintrag zeigt sehr schön, wie das
Schuldbuch hilfreiche Hinweise zu Standorten oder Baufortschritten geben kann. Während auf solch relativ klaren Einträge bereits von der Forschung verwiesen wurde,19
sparte man weniger deutliche Aussagen bisher aus. So
kann zum Beispiel folgender Eintrag zu einem von Kaspar
von Scharnachthal gestifteten Glasfenster nicht nur Hinweise zu Bauetappen geben (Glasfenster und Dreigestühl),
sondern zeigt diese Kunstwerke auch gleich in ihrer zeitgenössischen Funktion inklusive Kosten: «[A]ber sol iunker
Kaspar xx guldin het er ferheissen dar umb, das der helg
im das glasfenster sol machen. Usser dissem lxxx guldin,
Buch SKAM 36.indd 178
Der Berner Münsterbau
das ob dem drin stuellen ist, da die phriester uff ruoven,
wen si ab altdar gand, des sol gen der Gricht Schriber von
des von Scharnachdal wegen l guldin also belibt Caspar
von Scharnachdal schuldin xxx guldin im L iar uffen
dem zwelfden dag.»20 Die Einträge sollen eben gerade
nicht nur steinbruchartig als Hinweise auf Bauetappen
genutzt werden, sondern als Teil des Schuldbuchs gesehen
werden, welches mit diesen für den Kunsthistoriker sehr
bedeutsamen Informationen manchmal ganz pragmatisch umgeht. So findet sich auf derselben Folioseite ein
Eintrag von Thüring von Ringoltingen, der aufzeigt, wie
unsicher die Zweckbestimmung der Geldleistungen sein
konnte und wie alltagsnah und in diesem Sinne ehrlich im
Schuldbuch mit den Geldleistungen umgegangen wird:
«Item Caspar von Scharnachtal sol an die kilchen, ich
weiß aber nitt, ob es an die gezierd oder ann buw hoert.
Seit er mir selb tuot – lx guldin.»21
III. Möglichkeiten und Grenzen
Das St. Vinzenzen-Schuldbuch bietet durch seine Einmaligkeit als «Notizbuch» die Möglichkeit eines Einblickes
in den Alltag einer fabrica ecclesiae, welcher bereits bestehende Erkenntnisse weiter unterstützt und durch die sich
ergebenden Parallelen zu bekräftigen vermag.
Im Zentrum stand die Frage nach dem Finanzierungsalltag des Berner Münsterbaus. Es konnte aufgezeigt
werden, dass verschiedenste Finanzierungsvarianten und
-strategien zum Zuge kamen und diese möglichst «alltagstauglich» eingesetzt wurden. In der Regel lässt sich
eine pragmatische Geldmittelverwaltung ausmachen, die
darauf angelegt war, möglichst viele Schulden zu verzeichnen und diese einzufordern, wenn möglich in monetärer
Form und nicht in Naturalien. Allerdings zeigt sich, gerade dass, was das Einfordern anbelangt, dies wahrscheinlich bei kleineren Beträgen oft nicht durchgesetzt werden
konnte, obwohl es zu einzelnen Gerichtsverfahren und
Mahnungen kam. Auch die Bezahlung, die oft in Raten
erfolgte und sich nicht immer im Detail nachvollziehen
lässt, deutet auf ein am Alltag orientiertes Wirtschaftsverständnis hin.
16
17
18
19
20
21
SVSB, fol. 89v.
SVSB, fol. 67v.
SVSB, 18r.
Vgl. Mojon 1960, 26.
SVSB, 30v.
Ebd.
14.11.2009 14:54:43 Uhr
Der Berner Münsterbau
Ganz allgemein lässt sich verfolgen, dass sich die
Finanzierung durch Schulden nicht langfristig planen
liess, aber gleichzeitig immer Schulden vorhanden waren.
Gerade die Vielzahl der finanziellen Einkünfte der fabrica
scheint die latente Geldnot immer wieder abzumildern.
Das Schuldbuch soll aber nicht als mehr gedeutet
werden, als es tatsächlich ist. Als Sammlung von Notizen und Gedankenstützen ist es eine am Alltag orientierte Quelle, die zugegebenermassen oft Lücken offen
179
lässt, die für die zuständigen Kirchenpfleger einsichtlicher gewesen sein mögen als für den heutigen Leser.
Luc Mojon hat das St. Vinzenzen-Schuldbuch als «wichtigste kirchen-, kultur- und baugeschichtliche Quelle, die
den Münsterbau betrifft», bezeichnet.22 Dies trifft sicher
zu, wenn die Quelle mit den ihr angemessenen Fragestellungen bearbeitet wird, jedoch muss auch in Kauf
genommen werden, dass das Schuldbuch bleibt, was es
ist: Ein Notizbuch.
22
Buch SKAM 36.indd 179
Mojon 1960, 6.
14.11.2009 14:54:43 Uhr
180
Der Berner Münsterbau
Bibliografie
Quellen
SVSB – St. Vinzenzen-Schuldbuch, Stadtarchiv Bern A 338.
Darstellungen
Kurmann-Schwarz 1998 – Kurmann-Schwarz, Brigitte, Die Glasmalereien des 15.
bis 18. Jahrhunderts im Berner Münster, Bern, 1998.
Kurmann-Schwarz 1999 – Brigitte Kurmann-Schwarz, «…die Fenster in der kilchen allhier, die meine Herren zu machen und in Ehr zu halten schuldig…».
Andenken – ewiges Seelenheil – irdische Ziele und Verpflichtungen gezeigt
an Beispielen von Glasmalereistiftungen für das Münster, in: Ellen J. Beer et
al., Berns grosse Zeit, Bern 1999, S. 457–465.
Mojon 1960 – Luc Monjon, Das Berner Münster (Die Kunstdenkmäler des Kantons Bern, Bd. 4), Basel 1960.
Reitemeier 2005 – Arnd Reitemeier, Pfarrkirchen in der Stadt des späten Mittelalters. Politik, Wirtschaft und Verwaltung (Vierteljahrschrift für Sozial- und
Wirtschaftsgeschichte, Beiheft, Nr. 177), Stuttgart 2005.
Rennefahrt 1960 – Hermann Rennefahrt, Die Rechtsquellen des Kantons Bern,
1. Teil, Stadtrechte, Bd. 6,1 Das Stadtrecht von Bern, Staat und Kirche, Bern
1960.
Sladeczek 1999 – Franz-Josef Sladeczek, Der Berner Skulpturenfund. Die Ergebnisse der kunsthistorischen Auswertung, Bern 1999.
Studer 1871 – Gottlieb Studer (Hg.), Die Berner-Chronik des Konrad Justinger,
Bern 1871.
Abbildungsnachweis
1 SVSB fol. 0
2–3 Isabelle Schürch basierend auf Abb. 1
Buch SKAM 36.indd 180
14.11.2009 14:54:43 Uhr
Hülle als Konzept
181
Martina Stercken und Lotti Frascoli
Hülle als Konzept
Konstruktion und Rekonstruktion von Stadtbildern
Bildliche Darstellungen der Stadt, gleich welcher Zeit,
sind verführerisch: Ob als Abbreviatur seit dem hohen
Mittelalter, als gemalte oder gedruckte, individuelle
Repräsentationen seit dem ausgehenden Mittelalter, als
massstabgerechte Pläne, als Fotos, architektonische Entwürfe und übers Internet generierbare Stadtkarten der
Neuzeit beziehungsweise Gegenwart: Bildliche Darstellungen wirken als anschauliche, glaubwürdige und selbstevidente Zeugen städtischer Zustände. Im Unterschied
zu Geschriebenem, das die Möglichkeit eröffnet, Sachverhalte zu relativieren, scheinen sie Verhältnisse kompakt und eindeutig wiederzugeben. Nicht zuletzt deshalb setzen sie sich als Vorstellung von der historischen
Stadt im Kopf fest und bilden die Grundlage für die
Verortung von Wissen, sei dies im Rahmen wissenschaftlicher Forschung, bei der Stadtplanung oder im Kontext
von re-enactment und living history (Abb. 1).
Eben diesen Stadtbildern gelten die folgenden
Überlegungen, die vor allem den methodischen Prämissen des disziplinären Gebrauchs bildlich generierter Vorstellungen von der Stadt nachgehen, den Stadtdarstellungen vergangener Zeiten, die im Rahmen historischer
und archäologischer Arbeit konsultiert werden, mit
denen argumentiert wird, die irritieren, und solchen, die
neu hergestellt werden. Ausgehend von einer wichtigen
Bildquelle zum vormodernen Zürich, dem Holzschnitt
Jos Murers aus dem Jahre 1576, sollen historische und
archäologische Ansätze in den Blick genommen werden,
die um den Abbildungscharakter von Stadtbildern, um
ihre Aussagekraft als Quelle für die städtische Baugestalt kreisen, und die versuchen, den unterschiedlichen
Umgang der beiden Disziplinen mit bildlicher Überlieferung zu präzisieren (Abb. 2).
Illustration – Abbildung – Konstrukt
(Martina Stercken)
Obschon Historiker traditionell überwiegend mit schriftlicher Überlieferung arbeiten, sind seit dem 19. Jahrhundert gerade in der Auseinandersetzung mit der mittelalterlichen Stadt, die ja sowohl neue Lebensform wie auch
Gehäuse einer besonderen Gesellschaft darstellt, auch
bildliche Quellen einbezogen worden.1 Dabei wurden
die seit dem ausgehenden Mittelalter und besonders
in der frühen Neuzeit produzierten Darstellungen der
Stadt im Grund- und Aufriss in unterschiedlicher Weise für die Untersuchung mittelalterlicher Verhältnisse
fruchtbar gemacht. Drei Formen des Umgangs charakterisieren den Zugriff der Historiker auf bildliches Material vor allem:
1.
Eine gängige Verwendung bildlicher Darstellungen
der Stadt ist diejenige als illustratives Zitat. Gerade in
den vergangenen drei Jahrzehnten, mit einem zunehmenden Bedürfnis an populär aufbereiteter Geschichte,
werden derartige Abbildungen immer mehr herangezogen, um Untersuchungen zu städtischen Zuständen und
Phänomenen anschaulich zu machen. Allerdings ist die
Überlieferung aus dem Mittelalter und der frühen Neuzeit begrenzt und sind lediglich einzelne Stadtzustände
1
Abb. 1 Abbildungen, Rekonstruktionen, Imaginationen von Stadt.
Buch SKAM 36.indd 181
Vgl. dazu z. B. die neueren Sammelbände: Bild der Stadt 1999; Stadtbilder
2006; Bild und Wahrnehmung 2004; Stercken 2004, 219–240; Stercken 2006,
105–122; s. zum Umgang mit Bildern in der Historischen Forschung insgesamt: Historische Bildkunde 1991; Talkenberger 1994; Burke 2003; Roeck
2004.
14.11.2009 14:54:44 Uhr
182
Hülle als Konzept
Abb. 2 Jos Murer, Zürich 1576 (Original 88 × 132 cm).
durch Bildquellen dokumentiert. Deshalb dienen historische Darstellungen oft dazu, um ganz allgemein auf
einen geschichtlichen Status zu verweisen und einen
Zustand der Stadt vor Augen zu führen, der zeitlich
nahe bei den im Text dargestellten Verhältnissen liegt.
Sie erzeugen also – unvermeidbar – vielfach jeweils
mehr oder minder anachronistische Vorstellungen
älterer Stadtzustände.
Dies gilt nicht nur dann, wenn frühneuzeitliche
Stadtdarstellungen abgebildet werden, um mittelalterliche Verhältnisse zu dokumentieren, sondern auch,
wenn historische Bildzeugnisse als Layer für die Verortung von Wissen über ältere Verhältnisse verwendet werden. In diesem Fall werden etwa über andere Quellen
gewonnene Ergebnisse zur Geschichte von Stadt und
Bürgerschaft auf eine historische Darstellung projiziert, also deren Verortung in einer Raumrepräsentation
angezielt, die möglichst nahe bei der Berichtszeit liegt.
Eine derartige Historisierung aktueller Forschungsresultate lässt sich zum Beispiel an thematischen Karten
beobachten. Vor allem aber sind es dreidimensionale
Buch SKAM 36.indd 182
Stadtbilder – wie Murers Planvedute –, die es ermöglichen, Aussagen zur Entwicklung der Gesamtstadt, zu
Stadtteilen und einzelnen Bauten eine lebenswirkliche,
räumliche Dimension und damit grössere Authentizität
zu verleihen (Abb. 3 A und B).
2.
Als Quelle zur städtischen Topographie sind bildliche
Darstellungen der Stadt vor allem in Perioden markanten Stadtumbaus – mit dem Abbau der Befestigungen, den neuen Verkehrsmitteln und mit der Landflucht im ausgehenden 19. Jahrhundert sowie der Zeit
des Wiederaufbaus und urbanen Ausbaus nach dem
Zweiten Weltkrieg – analysiert worden. 2 In besonderem Masse wurden sie im Rahmen der Erforschung der
2
Vgl. z. B. für Schweizer Städte: Rahn 1889; Vögelin 1878; Vögelin 1890;
Strahm 1948; Strahm 1950, zur allgemeinen Entwicklung einschlägig: Fröhlich 1938; Schlesinger 1961; Schlesinger 1963; Schlesinger 1969; Die Stadt
des Mittelalters 1978; Hall 1978; Altständisches Bürgertum 1989; Blaschke
1997a; Braasch-Schwersmann 2005.
14.11.2009 14:54:45 Uhr
Hülle als Konzept
183
Abb. 3 Beispiele für historische Stadtdarstellungen als Layer für die Verortung von Forschungsergebnissen: links Illi 1992; rechts Gisler 1993.
mittelalterlichen Stadtentstehung in Europa in die Auswertung der schriftlichen Quellen einbezogen und als
Ausdruck des Verhältnisses von Herrschaft und Gemeinde und dann sukzessive auch als Spiegel des städtischen
Wirtschaftslebens und einer differenzierten Gesellschaft
interpretiert.
Die mehrheitlich neuzeitliche bildliche Tradition
wird in diesem Kontext in verschiedener Hinsicht als Zeuge für einen historischen Stadtzustand genutzt. Sie gilt als
Referenz für die Erforschung der städtischen Frühgeschichte, die über die schriftliche Überlieferung unzureichend
rekonstruiert werden kann, wie auch für die Entwicklungsstufen von Stadtentstehung und -ausbau (Abb. 4). Sie
wird ferner als Konzept der Gesamtstadt verwendet, das
den Endpunkt der mittelalterlichen Entwicklung darstellt
und ermöglicht, das aus der schriftlichen Überlieferung
zusammengetragene, punktuelle Wissen über Epochen
der Stadtgeschichte und spezifische städtische Entwicklungen zu verorten. Gleichzeitig ist die historische Darstellung selbst Quelle für topographische Befunde. Bereits in
der Kantonsgeschichte von 1910 wird der Murer-Plan als
eine «erfreuliche Fundgrube jeder topographischen Erforschung des alten Zürich» betrachtet.3
Erst in der Nachkriegszeit allerdings werden vor
allem Stadtgrund- und -aufriss systematischer auf die Permanenz älterer Strukturen untersucht, wird begonnen,
über die Lesbarkeit nicht-schriftlicher Überlieferung zur
Stadtentwicklung nachzudenken.4 Dabei hat sich immer
wieder gezeigt, wie wichtig und nützlich es ist, die bildliche
Tradition als Geschichtsquelle auszuwerten, aber gleichzeitig auch, dass diese mit Bedacht interpretiert werden muss.
Insbesondere wurde dies in Diskussionen um Beiträge zur
frühen Stadtplanung deutlich, die mit einer fixen Vorstellung vom Planungsprozess an die historische Überlieferung
herangegangen sind (Abb. 5 A u. B).5 Gerade im Rahmen
der in den vergangenen Jahren wieder aufgeflammten Auseinandersetzungen um den hochmittelalterlichen Städtebau wurde nicht nur erneut die Komplexität von Stadtgenese und die Notwendigkeit betont, bei ihrer Erforschung
Befunde unterschiedlicher Disziplinen einzubeziehen.
Ebenso wurde ins Bewusstsein gerufen, dass es in jeglicher
Auseinandersetzung mit städtischer Entwicklung gilt, die
Historizität der bildlichen Überlieferung zu reflektieren,
3
4
5
Abb. 4 Der Stadtgrundriss wird als Geschichtsquelle einbezogen: Beispiel Peyer/Vogt/Meyer 1971.
Buch SKAM 36.indd 183
Dändliker, 1910, 402f.
Vgl. z. B. Schlüter 1899, 446–462: Keyser 1958; Keyser 1963, 345–351; Meckseper 1982; Peyer 1990; Blaschke 1997, 193–204; Pfaff 1990, 27–35.
Vgl. z. B. Hamm 1932; Hofer 1963; Hofer 1973; Hofer 1977; Hofer 1982;
Keller 1981; Humpert/Schenk 2001; neuere Ansätze: Stadt- und Landmauern
1995/1999; Die vermessene Stadt 2004; Albrecht 2004; La belleza della città
2004; Baeriswyl 2003; Stercken 2006.
14.11.2009 14:54:46 Uhr
184
Hülle als Konzept
Abb. 5 Der moderne Stadtplan ist Hauptquelle für Theorien zur mittelalterlichen Stadtplanung. Beispiele: A Zürcher Rennweg, Hofer
1963; B Stadtvermessung Villingen, Humpert/Schenk 2001.
die jeweils verschiedene Stufen der Stadtentwicklung amalgamiert und, zeitspezifischen Darstellungsweisen folgend
sowie mit bestimmten Absichten hergestellt, einen jeweils
besonderen Abbildungscharakter besitzt.
3.
Keine Frage: Stadtbilder können als Quelle für topographische Strukturen und zum Teil auch für die städtische
Lebenswelt ausgewertet werden. Können aber frühneuzeitliche Planveduten, wie Murers Darstellung, ohne weiteres als «zuverlässige Darstellung der baulichen Verhältnisse» in einer spätmittelalterlichen Stadt gelten, wie dies
vielfach suggeriert wird?6 So plausibel derartige Aussagen auf den ersten Blick erscheinen, sie werden fragwürdig, wenn man Bildquellen selbst, ihre Entstehungskontexte, ihre Darstellungstechniken und ihre Aussagekraft
näher betrachtet. Insbesondere die Auseinandersetzung
mit der medialen Vielschichtigkeit bildlicher Überlieferung zur Stadt, die in der historischen Forschung der
vergangenen Jahre immer mehr thematisiert wurde,7
hat neue Perspektiven im Umgang mit diesem Material
eröffnet und auf komplexe zeitspezifische Formen der
Sinnstiftung aufmerksam gemacht:
Murers Plan etwa, der 1576 datiert ist, gibt die
Stadt in der Gestalt des ausgehenden 16. Jahrhunderts
und nicht zu einem exakt definierbaren Zeitpunkt wider.
Über etliche Jahre ohne Auftrag der Stadtregierung aufgenommen und in einem langwierigen Prozess zunächst
als Bild und dann in einem vielteiligen Holzschnitt
hergestellt (Abb. 6), stellt sie gewissermassen eine Verlaufsform des Stadtzustands vor.8 Hinzukommt, dass
Murer dem modernen Auge fremden Darstellungskonventionen seiner Zeit folgt, indem er den städtischen
Grund- und Aufriss auf einer schiefe Ebene anlegt, um
Überschneidungen und Verdeckungen von Gebäuden
zu vermeiden und damit den Blick in die Gassen zu öffnen.
Zieht man zudem – im Sinne neuerer kulturgeschichtlicher Ansätze – die Bildkomposition und die
6
7
8
Buch SKAM 36.indd 184
Z. B. in der Geschichte des Kantons Zürich 1995, 246.
Vgl. dazu die Literatur unter Anm. 1
Vgl. dazu Dürst 1975. Dürst 1996. Dürst 1997.
14.11.2009 14:54:47 Uhr
Hülle als Konzept
185
Abb. 6 Murers Stadtdarstellung: Aufteilung nach Druckplatten.
Interferenzen von Bild- und Textelementen in Betracht,
so wird fassbar, dass der Murer Plan integral als bewusst
konzipierte, rhetorisch vielschichtige Überlieferung
interpretiert werden muss.9 Dann wird etwa deutlich,
dass hervorstechende Bildelemente, wie das Rathaus
in der Bildmitte, das überdimensionierte Grossmünster oder die beeindruckend visualisierte, dominante
Stadtmauer, nicht nur herausgestellt werden, weil es
die Konvention bestimmt oder technisch erforderlich
ist, sondern auch, weil diesen Bedeutung zugeschrieben werden soll. Darauf lassen auch die eingelassenen
Textfelder schliessen, die die Geschichte der Stadt seit
biblischen Zeiten und insbesondere die Leistungen der
Stadtregierung, die Bedeutung Zürichs als Zentrum des
neuen reformierten Glaubens und als wehrfähige Stadt
aufrufen.10
Zwar präsentiert uns Murer ein detailliertes
Stadtbild und beteuert selbst dessen Präzision, indem er
Messinstrumente (Massstab, Windrose) abbildet und –
durch Legenden, die Strassen und Gebäude bezeichnen
– eine klare Verortung im Stadtraum ermöglicht. Wie
Buch SKAM 36.indd 185
die vorangehenden Bemerkungen zeigen, funktioniert
Murers Stadtbild jedoch gleichzeitig als bildlich angelegte Chronik der Zürcher Geschichte und kann deshalb
nicht allein als Abbild der bestehenden Stadtgestalt
betrachtet, sondern muss als hochreflektierter Multilayer von vielfältigem Wissen über die historische und
aktuelle Stadt gelesen werden.
Sicher, nicht alle Darstellungen von Stadt sind
so dicht konstruiert wie Jos Murers Planvedute von
Zürich aus dem 16. Jahrhundert. Aber auch Ansichten
oder Pläne anderer Zeiten generieren durch das jeweils
spezifische Zusammenwirken von Absichten, Techniken
und Formen der Präsentation Aussagen über die Stadt.
Und den palimpsestartigen Charakter bildlicher Darstellungen wie auch ihre kommunikativen Möglichkeiten
gilt es im Blick zu halten, wenn sie als Quelle für die
Baugestalt der Stadt am Ende des Mittelalters oder sogar
für frühere Zeitstellungen genutzt werden sollen.
9
10
Vgl. dazu Harley 2001, Baxandall 1985, 1990; Stercken 2006.
Vgl. Dürst 1997b; Stercken 2006.
14.11.2009 14:54:48 Uhr
186
Hülle als Konzept
Abb. 7 Zwei Abbildungen aus dem Denkmalpflegebericht 1997/98. Links: Lage der untersuchten Liegenschaft Predigergasse 8 in Zürich auf modernem Stadtplan. Rechts: In der Häuserzeile zwischen Eckhaus am «Nüwmerckt» (heutiger Neumarkt) und der Häuserzeile parallel zur Stadtmauer
links vom Stadttor ein offenes Gartengelände, wo nach archäologischen Untersuchungen ein Haus stehen sollte.
Zustandsdarstellung – Referenzbild –
Vorstellungsgenerator (Lotti Frascoli)
Der Umgang mit historischem Bildmaterial in der archäologischen Forschung ist insofern ein anderer, als die
methodischen Prämissen der Untersuchung von Stadtgenese in diesem Kontext andersartig gelagert sind. Denn
das aus archäologischen Quellen generierte Bild der Stadt
setzt sich aus den Auswertungsresultaten der einzelnen
Ausgrabungen und aus baugeschichtlichen Untersuchungen zusammen. Die überlieferten Körper im Raum
sind die Quellen der Siedlungsarchäologie.11 Entlang der
Erfassung von Zeitgeschehen in stratigrafisch eingeordneten Schichtpaketen, versucht die Siedlungsarchäologie
– patchworkartig und lückenhaft – horizontale Gleichzeitigkeit zu rekonstruieren und die Stadt zu bestimmten
Zeitschnitten (also etwa Zürich um 1150 oder Zürich um
1320) zu visualisieren. Zugleich erfasst sie in den Grabungen darüber- und darunterliegende, ältere oder jüngere Siedlungsteile. Die so rekonstruierte archäologische
Stadt ist ein ideales Konstrukt.12 Denn die horizontalen
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Beziehungen enthalten immer auch Verwerfungen, die
vertikal ausgerichtet sind; manchmal spielt ältere aufscheinende Siedlungsstruktur keine Rolle für spätere Entwicklungen, manchmal aber determiniert sie die spätere
Stadtentwicklung sehr wohl.
Der Murerplan von 1576 hat bei der archäologischen Rekonstruktion des mittelalterlichen Zürichs
immer eine grosse Rolle gespielt. Anders als die partielle Stadtansicht von Hans Leu dem Älteren, die um
1500 entstanden ist und damit eher spätmittelalterliche Verhältnisse wiedergibt, zeigt dieser als erster die
Gesamtheit der frühneuzeitlichen Stadt. Als detailreiche Gesamtschau der Stadt am Ende des Mittelalters ist er eine wichtige Referenz für die archäologische
Erforschung der mittelalterlichen Stadt: Gerade deshalb wird er benutzt, um zu verifizieren, wo Baukörper gestanden haben, welche Beschaffenheit sie hatten
11
12
Frommer 2007, 138ff.
Jäggi 2004, 125.
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Abb. 8 Links Westfassade der Predigerkirche in Zürich auf dem Murerplan von 1576, rechts die Westfassade, wie sie sich leicht verändert bei der
Bauuntersuchung von 2004 zeigte.
und auch, um Orte von Handlungen zu bestimmen.
Er wird aber nicht nur gebraucht, um Grabungsflächen
zu bestimmen, gilt als Bauarchiv und wird zur Entzifferung sozial gebrauchter Räume benutzt, der Plan dient
auch als Massstab für die Berechtigung bestimmter
archäologischer Aussagen und zur chronologischen
Absicherung von baugeschichtlichen Phasen einzelner
Gebäude oder Quartiere. Somit hilft der Murerplan in
verschiedener Hinsicht bei der unbedingt notwendigen
Verbildlichung archäologisch gewonnener Einzelerkenntnisse und formt – neben archäologischen Quellen – die Rekonstruktion der historischen Stadt durch
Archäologen entscheidend mit.
Archäologen sind gewohnt mit Bildern zu
arbeiten, mit fremden und selbst generierten. Anhand
dreier Beispiele soll im Folgenden gezeigt werden, in
welcher Weise der Murerplan durch die jüngere archäologische Stadtforschung in Zürich benutzt wird und
welche Rolle er als Referenz bei der Untersuchung von
einzelnen Bauten, aber auch ganzen Quartieren und
Siedlungsvorstellungen spielt.
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1.
Zwei baugeschichtliche Untersuchungen durch Mitarbeitende der Stadtarchäologie Zürich haben am bisher
unangefochtenen Charakter von Murers Plan als exakte
baugeschichtliche Quelle zweifeln lassen. Schon die Titel
der Artikel weisen auf die Verwunderung der Archäologen
über die mangelnde Übereinstimmung von archäologisch
generierten Bildern der Gebäude mit der Darstellung
Murers hin, denn etliche Male vorher hatte sich Murer als
exakter Abbildner erwiesen. Der Text «Auf dem Murerplan vergessen?» beschäftigt sich mit dem Haus «Zum
Rosenstock» an der Predigergasse 8. Eigentlich erwarteten
die Archäologen auf Grund ihrer Bauuntersuchungen
spätestens ab dem 14. Jahrhundert hier ein Gebäude,
mussten aber feststellen, dass das Gebäude bei Murer
fehlt und an seiner Stelle ein eingezäunter Garten abgebildet ist (Abb. 7).13 Im Artikel mit dem Titel «Auf dem
Murerplan beschönigt?» wird ein anderes Beispiel für das
13
Kohler-Rummler et al. 1999, 83ff.
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Abb. 9 Der Murerplan von 1576 als Hintergrund zum Hervorheben und Visualisieren von ganzen Stadtbereichen in Zürich, die heute nicht mehr
existieren: dunkler Raster im Vordergrund: Stadtmauer, hellerer Raster links: Dominikanerinnenkloster Oetenbach.
Auseinanderklaffen von Baugeschichte und Planansicht
angesprochen. Es wird die Hypothese formuliert, Murer
hätte das Aussehen der Westfassade der Predigerkirche in
einer Phase künstlerisch rekonstruiert, als die Predigerkirche nachreformatorisch als Profanbau benutzt wurde und
mit etlichen grossflächigen Fassadenöffnungen verändert
worden war (Abb. 8).14
Mit diesen Beispielen wird deutlich, wie sehr
archäologisches Arbeiten bedeutet, sich mit unterschiedlich gearteten Quellenbefunden auseinandersetzen zu
müssen. Denn sowohl der Plan aus der frühen Neuzeit
wie auch die Darstellung archäologisch rekonstruierter
Gebäude sind mit spezifischen Absichten verbundene
Repräsentationen von Stadtzuständen. Der im vorangegangenen Beispiel angesprochene Widerspruch zwischen
Murerplan und archäologisch generierten Ergebnissen
ist deshalb jeweils quellenkritisch zu hinterfragen. Die
Archäologen lösen im diesem Falle die Widersprüche,
indem sie ihre Befunde, – in diesem Fall aus der Unter-
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suchung zweier Bauwerke – höher gewichten als das dem
historischen Bauzustand zeitlich näher liegende Zeugnis
Murers.
2.
Ein zweites Beispiel betrifft die Quartiergenese beim
Rennweg und die Veränderungen in der Sozialtopografie, welche sich in der materiellen Hinterlassenschaft aufzeigen lassen. In der Untersuchung dieses Quartiers von
Brigitte Moser etwa dient der Murerplan dazu, eine Vorstellung von einem Quartier, also von Gebäuden im Verband, in einer bestimmten Phase der Zürcher Geschichte
zu generieren, das archäologisch noch nicht zur Gänze
untersucht ist (Abb. 9).15 Er ermöglicht zudem, eine Vorstellung vom Aussehen des nahe des Rennwegquartiers
14
15
Wild/Jäggin/Wyss 2006, 42ff.
Moser 2006, 26.
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gelegenen, heute nicht mehr existierenden Oetenbachklosters, eines dominikanischen Frauenkonvents, zu entwickeln. Er füllt also visuelle Leerstellen in den anderweitig nicht generierbaren Stadtrekonstruktionen auf.
3.
Das dritte Beispiel des Umgangs von Archäologen mit
dem Murerplan gilt seiner Rolle bei der Untersuchung
grösserer Siedlungsbilder: Es geht um den Versuch, die
spätmittelalterliche Stadt und die darunterliegenden Siedlungen zu erkennen und zu interpretieren. Den Lindenhof etwa stellt schon der Murerplan als baumbestandene
Freifläche dar (Abb. 10). Der Plan also deutet auf die Möglichkeit hin, dass an dieser Stelle womöglich der Zugriff
auf ältere Schichten einfacher sein könnte als in anderen
Bereichen der Stadt. Und tatsächlich zeigt sich, dass gerade auf dem Lindenhof auf engstem Raum verschiedene
Schichten städtischer Entwicklung, vor allem das spätrömische Kastell und seine Transformationen in mittelalterliche Pfalzen fassbar werden (Abb. 11). Also hilft die
Stadtplanvedute bei der Planung von Ausgrabungen und
der Entwicklung eines Untersuchungskonzepts. Allerdings
verändern sich die baugeschichtlichen Befunde mit jeder
neuen Grabung.
Murers Plan spielt ferner eine Rolle bei der Generierung archäologischer Vorstellungen von der mittelalterlichen Stadt. Im Zuge einer Ausstellung im Jahre 2004
wurde eine Abfolge von Stadtbildern entworfen, welche
die verschiedenen Stadtbefestigungen von Zürich zwischen der Castrumszeit und dem späten Mittelalter zeigen
sollten.16 Dabei wurde der Murerplan für die Gebäuderekonstruktionen herangezogen, die in Form von Kuben
Bauvolumen im Stadtraum wiedergeben (Abb. 12).
Archäologische Befunde sind fragmentiert, aber
gerade in Bezug auf die Frühgeschichte von Siedlungen
wesentlich, zu denen wenig lokalisierbares Schriftliches
und Bildliches überliefert ist. Zudem zwingen Ergebnisse
archäologischer Ausgrabungen, mehr als eine Vorstellung
von der historischen Siedlung zu berücksichtigen. Bei
der Herstellung von Rekonstruktionen spielen Darstellungen wie der Murerplan eine wesentliche Rolle: Die
an archäologischen Befunden entwickelte Abfolge von
Siedlungsbildern muss jeweils am Plan überprüft werden,
der seinerseits die Entwicklung der Stadt am Ende einer
langen Entwicklung präsentiert. Der Murerplan ist also
Ausgangs- und Endpunkt für archäologische Stadtrekonstruktionen. Er lenkt zudem die archäologische Perspektive. Die starke Betonung der Stadtmauern auf Murers
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Abb. 10 Der baumbepflanzte Lindenhof in Zürich auf dem Murerplan
von 1576.
Abb. 11 Archäologisches Spurenbild von Kastell und früh- bis hochmittelalterlichen Gebäuden auf dem Areal des Lindenhofs in Zürich.
Neueste Befunde noch nicht eingetragen.
Abb. 12 Ein neues Bild entsteht. Rekonstruktion der Siedlung Zürich
um 890 mit Hilfe von kubischen Gebäudeflächen: zwischen Vorstellungen über das römische Kastell und Murerplan von 1576.
16
Wild/ Motschi/Hanser 2004.
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Stadtdarstellung hat mit dazu beigetragen, gerade diesen
Teil der Stadttopographie und damit die Grenzen der
Stadt im Spätmittelalter zu untersuchen.
Die erwähnten archäologischen Auseinandersetzungen mit unterschiedlichen Ausschnitten des Murerplan, so kann man zusammenfassen, nutzen diesen
sowohl als Anhaltspunkt für den Stadtzustand wie auch
für die Stadtentwicklung. Dabei bestimmt das von Murer
präsentierte Stadtbild die Fragestellungen der Archäologie
und die Auseinandersetzung mit archäologischen Resultaten. Gleichzeitig können die archäologischen Befunde
durchaus auch darauf aufmerksam machen, dass im Bild
festgehaltene Baustruktur den historischen Verhältnissen
nicht entspricht und damit die Aussagekraft der Darstellung als präzise Abbildung eines geschichtlichen Zustands
relativieren.
Zeitspezifische Konzepte
Der Blick auf Stadtdarstellungen als wesentliche Quelle
zur mittelalterlichen Stadtgeschichte hat auf vergleichbare Interessen und Gebrauchsformen, gleichzeitig aber
auch auf unterschiedliche methodische Prämissen der
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Hülle als Konzept
historischen, traditionell auf Schrifttum fixierten und der
auf die Schichtung von Stadtboden und aufgehendem
Mauerwerk konzentrierten archäologischen Forschung
aufmerksam gemacht. Deutlich wurde, wie sehr historische Darstellungen – insbesondere die detaillierten
Planveduten der frühen Neuzeit – Detailwissen einen
Rahmen geben, Vorstellungen vom bürgerlichen Leben
vergangener Zeiten beflügeln und gleichzeitig einen
wichtigen Ausgangspunkt für die Erforschung von Baugeschichte und städtischer Entwicklung bilden. Wie die
schriftliche Tradition so lässt sich aber auch die bildliche
Überlieferung nur angemessen für mittelalterliche Zustände der Stadt interpretieren, wenn zum einen die zeitspezifischen Bedingungen und Motive ihrer Herstellung im
Blick gehalten und zum anderen ihre Aussagekraft als
Quelle mit den Rekonstruktionen baulicher Entwicklung
in Beziehung gesetzt wird, wie sie aus der Untersuchung
von Stadtboden und aufgehendem Mauerwerk entwickelt
werden. Denn sowohl historische Darstellungen wie auch
rekonstruierte Stadtzustände stellen Hüllen für Vorstellungen von Stadt her, die vielfach eng aufeinander bezogen, jedoch stets eigens konzipiert sind.
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Hülle als Konzept
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8 Wild/Jäggin/Wyss 2006, 42f.
9 Moser 2006, 26
10 Dürst 1975
11 Küng 2006, 21
12 Wild/Motschi/Hanser 2004, 28
Dr. Anita Rieche, Köln, gilt herzlicher Dank für anregende Gespräche über
Disziplinen und ihre Methoden.
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Geschichte und Archäologie bei der Erforschung der mittelalterlichen Stadtentwicklung in Ungarn
193
Katalin Szende
Geschichte und Archäologie bei
der Erforschung der mittelalterlichen
Stadtentwicklung in Ungarn
Die Ebenen der Zusammenarbeit am Beispiel von Budapest
Erinnerung und Einleitung
An den Anfang meines Beitrags möchte ich einige Worte
der Erinnerung stellen. Im November 2007 ist Professor
András Kubinyi, der Gründer des Lehrstuhls für Mittelalterarchäologie an der Eötvös Loránd Universität,
Budapest, verstorben. Ich bin eine von den Glücklichen,
die bei ihm studiert und promoviert haben. Ihm ist es
zu verdanken, dass es für praktisch alle Vertreter der Mittelalterarchäologie in Ungarn, aber auch für sehr viele
Historiker als selbstverständlich gilt, schriftliche Quellen, archäologische Befunde und bildliche Darstellungen
zusammen auszuwerten.1 Die methodologischen Fragen
und Problemstellungen der internationalen Forschung2
wurden in seinen Vorlesungen sofort rezipiert und manchen sogar vorgegriffen. Kubinyis Konzept für diesen
Ansatz war sicherlich stark davon beeinflusst, dass er,
ursprünglich als Historiker und Archivar ausgebildet, für
15 Jahre die mittelalterliche Abteilung des Historischen
Museums der Stadt Budapest leitete, 3 bevor ihm eine
Stelle am damaligen Lehrstuhl für Archäologie an der
Loránd-Eótuös Universität Budapest angeboten wurde.
Dort leitete er den Unterricht in der Mittelalterarchäologie bis kurz vor seinem Tod.4 Ich möchte diesen Beitrag
seinem Andenken widmen.5
Dass man die mittelalterliche Geschichte der ungarischen
Hauptstadt nur erforschen kann, wenn man alle erreichbaren Quellengattungen dafür nutzt, mag folgender
Sachverhalt kurz erklären. Das einst umfangreiche Archiv
der Stadt Buda (Ofen) wurde während der Türkenzeit, d.
h. im 16. und 17. Jahrhundert, so stark zerstört, dass das
heutige Archiv der Stadt Budapest lediglich zwölf mittelalterliche Dokumente besitzt, die fast alle in der Truhe
der Zunft der deutschen Fleischer von Buda 1529 nach
Pressburg transportiert und damit gerettet wurden.6 Selbst
wenn man alle mittelalterliche Dokumente, die sich auf
die Hauptstadt beziehen oder von deren Administration
ausgestellt worden sind, aus anderen Archiven beizieht,
genügen diese doch nicht, eine zusammenhängende
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Geschichte der Stadt Budapest zu schreiben.7 So haben
die besonders nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs intensiv geführten Ausgrabungen und die Erforschung von noch bestehenden Wohnbauten, vor allem
der Keller, sowohl im Burgviertel als auch in den ehemaligen Vorstädten unsere Kenntnisse über die Geschichte
der Hauptstadt wesentlich erweitert.8
Die Lage ist ähnlich in den anderen Städten
Ungarns. Während der Türkenzeit, besonders aber im
Zuge der Vertreibung der Osmanen und der Rückeroberung des Landes wurden sowohl die Archive als auch
die Bausubstanz der Siedlungen sehr stark beschädigt
oder gänzlich vernichtet. Mit der Ausnahme von Sopron
(Ödenburg)9 sind mehr oder weniger vollständige städtische Archive nur in den Gebieten des Karpatenbeckens
erhalten geblieben, die ausserhalb der heutigen Landesgrenzen Ungarns liegen.10 Dieser Mangel an Schriftquellen macht es noch dringender, alle zur Verfügung
stehenden Quellen mit einzubeziehen, um ein Bild des
mittelalterlichen städtischen Lebens (re)konstruieren zu
können. Wie ist es aber möglich, ein sinnvolles Bild aus
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
Einer seiner exemplarischen Beiträge, in dem er diese Arbeitsmethode erklärte und anwandte, ist: Kubinyi 1985. Seine letzte Publikation zu diesem
Thema: Kubinyi 2003.
Siehe zuletzt Untermann 2004 (mit der älteren Literatur).
Seine Hauptwerke in dieser Periode sind die monographische Darstellung
der Entstehung von Buda (Ofen) und der spätmittelalterliche Teil der fünfbändigen Reihe «Geschichte von Budapest»: Kubinyi 1972 bzw. Kubinyi
1973.
Kubinyi/Laszlovszky 1993.
Vollständige Bibliographie seiner Werke: Laszlovszky 2009b.
Kenyeres 2008, vgl. Kubinyi 1973, 118–120.
Die zwei bisher erschienenen Urkundensammlungen zur Geschichte von
Budapest sind: BTOE I 1936, BTOE III 1987. Ein innovatives Projekt, ein
«digitales Archiv» der Städte Buda (Ofen), Pest, und Óbuda (Altofen) zusammenzustellen, läuft seit 2004 unter der Leitung von Péter Kis und Iván Petrik
im Budapest Föváros Levéltára (Stadtarchiv Budapest).
Die beste deutschsprachige Zusammenfassung der Ergebnisse zur archäologischen Forschung: Budapest 1991. Siehe auch seit neuestem: Kincsek 2005
(zweisprachig).
Die Urkunden, Rechnungen und zwei Stadtbücher sind in Házi 1921–1943
publiziert, weitere Stadtbücher sind seit 1993 in der Reihe «Quellen zur Geschichte der Stadt Ödenburg» veröffentlicht.
Ein Überblick der Materialien zum gesamten Karpatenbecken: Bevezetés (in
Vorbereitung).
14.11.2009 14:54:51 Uhr
194
Geschichte und Archäologie bei der Erforschung der mittelalterlichen Stadtentwicklung in Ungarn
so unterschiedlichen Bruchstücken zusammenzusetzen?
Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir zuerst
kurz die Eigenschaften, Vor- und Nachteile der Schriftquellen und der mit archäologischen Methoden entdeckten
Quellen im ungarischen Kontext betrachten.11
Die Quellen: Aussagekraft und Beschränkungen
Der Rahmen dieses Beitrags erlaubt es nicht, das Thema
anhand eingehender Quellentypologie zu beleuchten;
an dieser Stelle soll es genügen, die Qualität der Information aus den beiden Quellentypen darzustellen.12
Die vier Aspekte, die ich im Folgenden vergleichend
betrachte, sind: Beziehungen zu Zeit, Raum, Menschen
und Inhalten. Die Schriftquellen sind zeitlich gut einzuordnen, die einzelnen Stücke sind meistens datiert. Eine
Einschränkung stellt aber die Tatsache dar, dass sie sich
nicht die gesamte Zeitspanne der Existenz der jeweiligen
Siedlung erstrecken, und besonders für die frühere Perioden lückenhaft sind. In Ungarn sind fast keine stadtbezogenen Dokumente vor Anfang des 13. Jahrhunderts überliefert,13 eine regelmässige schriftliche Tätigkeit der lokalen Behörden, d. h. der städtischen Kanzleien, beginnt
erst nach der Mitte des 14. Jahrhunderts. Die archäologischen Quellen decken ein breiteres zeitliches Spektrum
ab, sind aber meistens nur über verschiedene indirekte
Methoden (Stratigraphie, Typologie, Münzen, Dendrochronologie usw.), mit jeweils unterschiedlicher Genauigkeit datierbar.
Räumliche Beziehungen sind dagegen nur für
einen Teil der Schriftquellen relevant, und auch dann
oft nicht genau, sondern nur in relativer Weise bezeichnet: Die Lage von einem Gebäude oder Objekt ist in der
Regel in Bezug auf seine Nachbarn oder auf ein lokales Merkmal angegeben, was eine Identifizierung heute
oft schwierig macht. Räumlich beziehen sich aber solche Quellen oft auf das gesamte Stadtgebiet, wie z. B.
Steuer- und Zehntlisten, Vermögensbücher und ähnliche
serielle Aufzeichnungen. Mit archäologischen Angaben
ist die Lage gerade umgekehrt: Sie sind ipso facto räumlich gut bestimmt, decken aber nur einen Bruchteil der
ehemaligen Siedlung ab. Obwohl manchmal die Ausgrabungsflächen nicht von wissenschaftlichen, sondern von
modernen wirtschaftlichen Interessen bestimmt sind,
trägt jedoch jede Ausgrabung ein neues Erkenntnis-Element zur städtischen Topographie bei.
Personen, d. h. Mitglieder der ehemaligen Stadtbevölkerung, sind auch unterschiedlich in den zwei
Quellentypen vertreten. Schriftquellen beziehen sich oft
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auf bestimmte Einzelpersonen, wobei die soziale Oberschicht überrepräsentiert ist. Im archäologischen Befund
sind dagegen fast kaum Individuen zu finden, sondern
vielmehr zufällige Ausschnitte der Gesamt-Gesellschaft,
die ausserdem meistens (mit der Ausnahme von Gräberfeldern) nur indirekt, über ihre Gebrauchsgegenstände
vertreten sind.
Es gibt auch wesentliche Unterschiede hinsichtlich der Lebensbereiche, über welche die Quellen berichten. Die auf uns gekommenen Dokumente haben einen
sehr starken rechtlichen Charakter. Wenn eine Angelegenheit keine rechtlichen oder finanziellen Folgen
hatte, war sie nicht «schriftwürdig». Dementsprechend
kommen Aspekte des Alltagslebens eher sporadisch,
meistens im Zusammenhang von Regelungen oder Streitigkeiten vor. Dagegen sind die Ausgrabungen voll von
Überresten – oder eher Abfällen – des täglichen Lebens,
die Zusammenhänge mit anderen Bereichen des Lebens,
wie z.B. Recht oder Gesellschaft, sind aber nicht immer
offensichtlich.
Aspekt
Schriftquellen
Archäologie
Zeit
Raum
Menschen
Inhalte
genaue Datierung
Raum oft nicht relevant
bestimmte Personen
Recht- und Finanzsachen
indirekte Datierung
genaue Lokalisierung
(fast) keine Einzelpersonen
Abfälle des täglichen Lebens
Jedoch: derselbe Raum, dieselbe Zeit, dieselbe Menschen!
Neben den bedeutenden Unterschieden haben die beide
Quellentypen ein gemeinsames Merkmal: ihre Lückenhaftigkeit – sie sind wie zwei Puzzlespiele mit fehlenden
Teilen. Jedoch haben beide dasselbe Musterbild im Hintergrund: Sie beziehen sich auf denselben Raum, dieselbe
Zeit, dieselbe Menschen. In Folgenden möchte ich einige
Beispiele für die verschiedenen Ebenen zeigen, auf welchen man versuchen kann, die Beziehungen zwischen den
sporadischen Angaben oder lückenhaften Bildern nachzuweisen. Räumlich bleibe ich im ehemaligen engeren
Forschungsgebiet von Herrn Prof. Kubinyi, dem Gebiet
der heutigen Hauptstadt Ungarns, Budapest, die bis Ende
des 19. Jahrhunderts aus drei verschiedenen selbständigen
städtischen Einheiten, nämlich Óbuda (Altofen), Pest und
Buda (Ofen) bestand. Zeitlich umfassen die Beispiele die
11
12
13
Vgl. Holl 1991, Holl 1995. Der jüngste Überblick: Szende K. 2009.
S. Kubinyi 1985, 615–617.
Vgl. Elenchus 1997, Elenchus 2005.
14.11.2009 14:54:51 Uhr
Geschichte und Archäologie bei der Erforschung der mittelalterlichen Stadtentwicklung in Ungarn
0
195
50m
Abb. 1. Óbuda im Spätmittelalter, topographischer Überblick: 1 Franziskanerkloster; 2 Marienkirche des Kollegiatstiftes; 3, 6, 8 Wohnhäuser;
4 Marktplatz; 5 Königsburg (seit 1343 Burg der Königin); 7 Hl. Margarethen-Pfarrkirche; 9 Kloster der Klarissen.
Periode, aus der auch schon einige Schriftquellen zur Verfügung stehen, d.h. den Zeitraum zwischen dem späten
13. und dem frühen 16. Jahrhundert.14
Die Ebenen der Verknüpfung von schriftlichen
und archäologischen Angaben
Die «unterste» Ebene, d.h. die anscheinend einfachste
Aufgabe, ist, ausgegrabenen Gebäudereste oder Objekte
mit der Hilfe von Schriftquellen zu identifizieren – oder
umgekehrt, die Angaben von Schriftquellen mit der Hilfe von archäologischen Befunden zu «verifizieren». Ein
viel zitiertes Beispiel dafür ist der Klarissenkonvent von
Óbuda (Altofen). Die Siedlung war vermutlich ein Zentrum schon in der Landnahmezeit, in einigen späteren
Quellen als Etzelburg bezeichnet. Später in der Arpadenzeit war sie eine der königlichen Residenzen und Sitz
des Mitte des 11. Jahrhunderts gegründeten Kollegiatstiftes St. Peter.15 Eine neue königliche Burg wurde dort
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Anfang des 13. Jahrhunderts erbaut; südöstlich davon
gründete Königin Elizabeth Łokietek 1334 mit päpstlicher Erlaubnis ein bedeutendes Klarissenkloster, wo sie
1380 – in der Corpus-Christi-Kapelle – auch begraben
wurde. Die Vorliebe der Königin zu diesem Ort beweist
auch die Tatsache, dass sie sich die Burg und die dazu
gehörenden Besitztümer 1343 von ihrem Sohn König
Ludwig I. (1342–1382) schenken liess. Das mit Pfründen
reich dotierte Kloster wurde im Laufe des 16. Jahrhundert, zusammen mit fast allen anderen Gebäuden vollständig zerstört. Seine Ruinen legten im Laufe der 1970er
Jahre Herta Bertalan und Júlia Altmann bei Bauarbeiten
für eine grosse Wohnsiedlung frei (Abb. 1, Nr. 9).16 Die
14
15
16
Ich möchte mich bei András Végh (Historisches Museum der Stadt Budapest) für seine Hinweise und Vorschläge bedanken.
Altmann/Bertalan 1991a.
Bertalan 1982, Altmann/Bertalan 1991b.
14.11.2009 14:54:52 Uhr
196
Geschichte und Archäologie bei der Erforschung der mittelalterlichen Stadtentwicklung in Ungarn
Abb. 2 Buda, die Lage und Umgebung der St. Sigismund-Propstei auf
dem Burgberg am Anfang des 16. Jahrhunderts: A Könisgpalast, E St.
Sigismund-Propstei, F Beginenhaus der Franziskaner, G Franziskanerkloster St. Johannes, H St. Johannestor, I Judentor; Szent János utca
= St. Johannesgasse, Szent Zsigmond utca = St. Sigismundgasse (alte
Judengasse). Hausbesitzer am Anfang des 16. Jahrhunderts (nach András Végh): 1 István Szapolyai, Voivode von Siebenbürgen; danach
István Henczelffy, königlicher Rechtsverweser; danach János Kakas,
Kustos von Pécs; 2 der Abt von Pannonhalma, 3 László Kubinyi,
königlicher Hofrichter (provisor curiae); 4 István Désházi, Hofrichter des Erzbischofs von Esztergom; 5 György Mekcsei, königlicher
Sekretär; 6 István von Ragusa, königlicher Barbier und Kastellan von
Óbuda; 7 Martin von Preussen, königlicher Kanonenmeister, danach
Imre Perényi, Palatin; 8 Gáspár Somi, königlicher Kämmerer, danach
Imre Perényi, Palatin; 9 die Kanoniker des St. Sigismund-Kollegiatkapitels; 10 János Bánfi, königlicher Mundschenk und Kämmerer; 11
der Propst des St. Sigismund-Kollegiatkapitels.
Ausgrabung brachte jedoch viel mehr ans Tageslicht als
die genaue Stelle der aus den Gründungsdokumenten und
topographischen Quellen schon bekannten Gebäude,
die vor allem in der 1355 ausgestellten Teilungsurkunde
zwischen dem königlichen Stadtteil (damals schon de facto im Besitz der Königin) und dem St. Peter-Kollegiatstift
erwähnt wurden.17 Dank der Ausgrabungen kann man
heute die Grosszügigkeit der vielleicht einflussreichsten
Königin von Ungarn im Mittelalter besser einschätzen,
ebenso wie man nun die Bedeutung dieser zwischen der
Burg der Königin und dem wirtschaftlichen Zentrum der
Stadt gelegenen Institution für die städtische Topographie
besser verstehen kann.18
Die genaue Bestimmung des Marktplatzes von
Óbuda war auch ein Ergebnis dieser Ausgrabungen. Seine
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Orientierung entlang wichtiger Handelsstrassen in Richtung der über die Donau führenden Fähre zeigte eine
bewusste Standortwahl; die vielmals erneuerte Pflasterung
deutet eine kontinuierliche Benutzung an und die solide
Fundamente von Steinhäusern aus den 14./15. Jahrhunderte beweisen, dass die Siedlung nach der Gründung von
Buda in der Mitte des 13. Jahrhunderts ihre Bedeutung
nicht völlig verlor. Keine von diesen drei Folgerungen
lassen sich so aus den wenigen erhaltenen Schriftquellen
ziehen.19
Ebenso wichtig war die archäologische Freilegung
des Kollegiatsstiftes zu Unserer Lieben Frau oder St. Sigismund auf dem Burgberg von Buda (Ofen).20 Da diese Kirche erst im frühen 18. Jh. abgebrochen wurde, war ihre
Lage aufgrund von Stadtveduten und Plänen im Grossen
und Ganzen bekannt (Abb. 2, E). Dank ihrer königlichen
Gründung von König Sigismund (1387–1437) um 1410
und ihrer Nähe zum Königspalast kommt diese Kirche
nicht nur in Urkunden, sondern auch in einigen erzählenden Quellen, z. B. in den Denkwürdigkeiten von Eberhard Windecke vor.21 Ihre Wichtigkeit für die königliche
Residenzbildung wurde aber erst nach der Entdeckung
eines sehr bedeutenden Fundes von gotischen Skulpturen aus einem Gebäude neben der Kirche im Jahre 1995
wirklich klar.22 Diese Fundstelle zeigt erneut, dass mit der
17
18
19
20
21
22
Eine ausführliche Analyse der topographischen Quellen bietet Fügedi 1959
an, die Teilungsurkunde veröffentlichte Kumorovitz 1976.
Altmann/Bertalan 1991b, McEntee 2006, Szende L. 2007.
Altmann 2004.
Feld 1999.
Kumorovitz 1963, Végh 1998, Kubinyi 1999; neue Sichtweisen zur Gründung: Tóth 2005.
Buzás 1999.
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Geschichte und Archäologie bei der Erforschung der mittelalterlichen Stadtentwicklung in Ungarn
gemeinsamen Auswertung von schriftlichen und archäologischen Quellen auch die Kleinfunde, etwa die Keramik
von hoher Qualität, u.a. zahlreiche importierte Gefässe
und glasierte Tafelkeramik, eine tiefere Bedeutung gewinnen können, wenn sie mit den historischen Kenntnissen
über ihren gesellschaftlichen Kontext im Zusammenhang
gebracht werden.23
In einigen Fällen können die Funde sogar mit Einzelpersonen verknüpft werden, wofür auch die Forschung
auf dem Burgberg ausgezeichnete Beispiele liefert. Mit der
sorgfältigen Auswertung der wenigen erhaltenen urkundlichen Angaben ist es András Végh gelungen, die Besitzer
der einzelnen Grundstücke beim königlichen Palast am
Anfang des 16. Jahrhunderts zu identifizieren, ohne Ausnahme hochrangige Würdenträger des königlichen Hofes,
Prälaten oder Leiter der lokalen kirchlichen Institutionen
(Abb. 2).24 Zwischen 1994 und 2006 wurden in diesem
Bereich durch Archäologen des Budapester Historischen
Museums auf einer unüblich grossen Fläche intensive und
systematische Ausgrabungen durchgeführt.25 Das Fundmaterial der freigelegten Wohnhäuser widerspiegelt nicht nur
ein den bürgerlichen Lebensstandard weit überschreitendes Niveau der materiellen Kultur, sondern stellt manchmal sogar die Besitzer dieser Bauten und Auftraggeber der
prunkvollen Stücke in ein neues Licht. Einer der interessantesten Besitzer war Stefan (István) von Ragusa, nachweisbar zwischen 1487 und 1511, königlicher Barbier und
Kastellan des erwähnten Schlosses der Königin in Óbuda.
Von bürgerlicher Abstammung, aus der dalmatinischen
Stadt Ragusa (heute Dubrovnik, bis 1526 formell unter
ungarischer Herrschaft), aber täglich in den hochgestellten
Kreisen des Hofes anwesend, liess er sein wahrscheinlich
mit einem Innenhof mit Arkaden ausgestattetes Haus
mit Reliefschmuck höchster Qualität, mit RenaissanceMotiven wie Fruchtbündeln, cornucopiae, Balustern usw.
verzieren. Vor den Ausgrabungen war nicht bekannt gewesen, dass die Wohnhäuser von Buda schon am Anfang des
16. Jahrhunderts die hochmodischen Renaissance-Dekoration des Königspalastes nachgeahmt hatten.26
Die Ergebnisse der archäologischen Untersuchungen bei der St. Sigismund-Kirche zeigen auch den
Weg zu einer zweiten Ebene der gemeinsamen Auswertung von archäologischen und schriftlichen Quellen,
durch die erfolgreiche Integration der Bebauungstopographie mit der sozialen Topographie.
An der Ostseite dieses Bereichs lag die St. JohannesGasse mit dem Franziskanerkloster, während die Gasse
an der Westseite, wo eine kontinuierliche Reihe von rund
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197
19 Parzellen freigelegt wurde, in zahlreichen Quellen als
«Judengasse», später als «St. Sigismund-Gasse» oder «Alte
Judengasse» bezeichnet wurde. 27 Dieser Name führte
zur Erwartung, bei den Ausgrabungen die spezifischen
Gebäude und den materiellen Nachlass der ehemaligen
jüdischen Bevölkerung festzustellen. Die Reihenfolge
der Entdeckungen war selbst sehr aufschlussreich.
Es gab zuerst keine Anhaltspunkte für eine
jüdische Bebauung: Weder die Struktur der Häuser noch
die Zusammenstellung der Kleinfunde wich von denen
in den anderen Teilen des Burgbergs ab. Erst mit der
Auswertung der Tierknochenfunde, die in einem der
zahlreichen Brunnen im Hof eines Hauses gefunden
worden waren, wurde es klar, dass es an dieser Gasse in
einer bestimmten Periode tatsächlich jüdische Bevölkerung gegeben haben könnte, da es unterhalb einer
bestimmten Schicht keine Schweineknochen gab.28 Ausserdem wurden im demselben Brunnen ein Tonbecher
mit hebräischen Buchstaben sowie ein Holzteller mit eingekratztem David-Stern gefunden.29 Einige Jahre später
kam aus einem anderen Brunnen eine Schiefertafel mit
dem einkratzten Namen «Hajjim Katz» ans Tageslicht.30
Die Lage der Synagoge war aber weiterhin unbekannt.
Die genaueste topographische Angabe war in der sog.
Ungarischen Bilderchronik (auch Wiener Bilderchronik genannt) zu lesen, wo im Bezug auf das Jahr 1307
der westliche Tor der Burg (Abb. 2, I) als «porta que est
iuxta synagogam Iudaeorum» bezeichnet wird.31 Es war
aber nicht klar, wie genau das Wort «iuxta» zu verstehen
ist. Erst im Jahre 2005 konnte der Archäologe András
Végh im Graben einer Fernheizungsleitung den Boden
und zwei Säulenbasen der Synagoge identifizieren. Im
benachbarten Grundstück fand er die Mikhwe, d.h. das
rituelle Bad der Gemeinde.32 Damit ist es klar, dass die
Synagoge tatsächlich unmittelbar neben dem Tor, d. h.
an einem strategisch sehr bedeutenden Platz, lag (Abb. 3).
Aufgrund dieser Lage stellt sich nun die Frage, was für
eine Rolle die Juden bei der Gründung der Stadt auf dem
Burgberg gespielt hatten.
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
Veres 1999.
Végh 2003a, 27–35.
Végh 2003b, Nyékhelyi 2003, 5–21, Kincsek 2005, 160–167, Végh 2006a.
Végh 2003a, 33–34, Végh 2008.
Végh 2003a, 14–15, Végh 2006a, 126.
Nyékhelyi 2003, 44 (Untersuchungen von László Daróczi-Szabó).
Nyékhelyi 2003, 33–34, 40–41.
Végh 2006a, 137, 148: Fig. 14.
Scriptores 1937–1938, I, 485, Vgl. Végh 2006a, 125–126.
Végh 2006a, 126–148.
14.11.2009 14:54:54 Uhr
198
Geschichte und Archäologie bei der Erforschung der mittelalterlichen Stadtentwicklung in Ungarn
Abb. 3 Buda, die Lage und die freigelegten Gebäude und Brunnen in
der mittelalterlichen «Alten Judengasse».
Diese und ähnliche Fragen führen bereits auf eine
dritte Ebene, bei der die gemeinsame Auswertung von
archäologischen und schriftlichen Quellen nicht nur zur
Erklärung und Kontextualisierung der jeweiligen Befunde
führt, sondern auch Aussagen zu Fragen allgemeiner Prozesse der Siedlungsgeschichte und der königlichen Städtepolitik ermöglicht, diese in ein neues Licht stellt oder neue
Fragen aufwirft. Im Kontext des Judenviertels am Ofener
Burgberg etwa betrifft dies sowohl dessen Entstehung,
vielleicht mit dem Umzug einer vermuteten Gemeinde
von Pest33 nach dem Mongolensturm, als auch dessen
Umsiedlung von der südlichen zur nördlichen Seite des
Bergplateaus. Die Funde deuten darauf hin, dass das alte
(am Süden gelegene) Judenviertel ungefähr bis Anfang des
15. Jahrhunderts benutzt wurde. Dieses Datum fällt mit
der Gründung der oben erwähnten St. Sigismund-Propstei
zusammen. Eine Erklärung für den archäologischen wie
den schriftquellenkundlichen Befund könnte laut András
Végh sein, dass König Sigismund eine grosszügige Umgestaltung der Umgebung seiner Ofener Residenz vorhatte,
Buch SKAM 36.indd 198
wobei die Anwesenheit eines Judenviertels ausgerechnet zwischen den beiden Toren und dem Palast nicht als
wünschenswert erschien.34 In der vor 1439 entstandenen
Rechtssammlung, dem sog. Ofner Stadtrecht wurde das
Tor schon als «pey der alten Iuden gassen» bezeichnet.35
Mit der Verlegung des Judenviertels und der Gründung der
Propstei St. Sigismund neben dem seit der Ende des 13.
Jahrhundert existierenden Franziskanerkloster und dem
Beginenhaus der Franziskaner (Abb. 2, F und G) ist eine
Konzentration kirchlicher Gebäuden beim Königspalast
zu beobachten. Damit entstand unter König Sigismund im
frühen 15. Jahrhundert eine von József Laszlovszky jüngstens als «transitional zone» («Übergangszone»)36 genannter Bereich zwischen der am südlichen Ende des Burgbergs
gelegenen königlichen Residenz und dem bürgerlichen
Teil der Stadt. Charakteristisch für diesen Zwischenbereich
war eine hohe Zahl von kirchlichen Bauten und, seit dem
Anfang des 16. Jahrhunderts, von Wohnsitzen Adliger und
hochgestellten Persönlichkeiten am Hof.37
Das letzte Beispiel führt uns ans andere Donauufer
nach Pest (Abb. 4). Dort legte die Archäologin Katalin IrásMelis südlich des mittelalterlichen Stadtzentrums einen
umfangreichen Ausschnitt einer Siedlung frei, die mehrere Perioden zwischen dem späten 14. und dem frühen
16. Jahrhundert aufwies (heute: Molnár Str. 36–40). Ihre
Ergebnisse lassen sich auf alle drei dargestellten Ebenen
interpretieren. Erstens kann man auf die Freilegung von
Gerberwerkstätten hinweisen. Die Anwesenheit von Gerbern in Pest war schon aus Schriftquellen bekannt: András
Kubinyi hat über ihre Bruderschaft, die einen dem St. Stephan, St. Emmerich und St. Ladislaus geweihten Altar in
der Pfarrkirche besass, gearbeitet.38 Die Stelle aber, an der
sie ihr Handwerk ausübten, und ihre Werkzeuge, u. a.
eine grosse Menge von Rinderkiefern, die sie zum Glätten des Leders benutzten, konnte erst jetzt identifiziert
werden.39
33
34
35
36
37
38
39
Es gibt zur Zeit keinen eindeutigen Beweis über die Existenz einer Judengemeinde in Pest vor dem Mongolensturm (1242/42), aber Ismaeliten waren
dort sicherlich angesiedelt, s. Berend 2001, 60–68. Über die Umsiedlung der
Bevölkerung von Pest nach Buda in den 1240er Jahren s. Kubinyi 1972.
Végh 2006a, 125–127, 131–132.
Ofner Stadtrecht 1959, X/D. Über den neuen Judenviertel am nördlichen
Teil des Burgbergs und die dort gefundenen Überreste von zwei Synagogen
s. Zolnay 1987, 5–23.
Laszlovszky 2009a, 195–199.
Végh 2003a, 35, Végh 2006b.
Kubinyi 1973, 115, 126.
Irásné Melis 1996.
14.11.2009 14:54:55 Uhr
Geschichte und Archäologie bei der Erforschung der mittelalterlichen Stadtentwicklung in Ungarn
199
Abb. 4 Pest im Spätmittelalter.
Zweitens ist die mehrfache Umwandlung dieses
Gebietes bei der Donau von einem früheren suburbanen
Siedlungsteil zu einem «Industriequartier» und danach
wiederum zu einem dichter bebauten Wohngebiet festzustellen. Die Errichtung des Gerberviertels kann man
als eine logische Konsequenz der kontinuierlichen
Ansiedlung von verschiedenen mit Leder arbeitenden
Handwerkszweigen (Schuster, Beutler, Sattler usw.) in
Pest bezeichnen, denen die Viehhaut als Rohstoff aus
dem landesweit bedeutenden dortigen Viehmarkt leicht
zugänglich war. Das spätere Verschwinden der Werkstätten hingegen war Teil von Veränderungen auf einer
gesamtstädtischen Ebene. Dazu gehörte der Ausbau
eines zweiten, wesentlich erweiterten Mauerringes, der
an mehreren Stellen in der heutigen Stadt noch steht
bzw. archäologisch freigelegt wurde; seine Linie ist ausserdem im modernen Stadtplan erkennbar. Mit dieser
Erweiterung des ummauerten Stadtgebietes ist der Ort
der Gerbereien Teil der Innenstadt geworden, was zur
Buch SKAM 36.indd 199
Beseitigung dieser stinkenden und schmutzigen Aktivitäten führte.40
Drittens ist die Errichtung der zweiten Stadtmauer Teil der auch in den Schriftquellen dokumentierten
Blütezeit von Pest als wichtiges Handelszentrum und
königliche Stadt im 15. Jahrhundert. Den Grund dafür
bildete die für Pest sehr günstige Städtepolitik König
Sigismunds.41 Hatte er vielleicht vor, die Stadt gegenüber
Buda auf derselben Weise weiterentwickeln und ausbauen lassen, wie sein Vater, Karl IV. die Neustadt von Prag?
Die Antwort auf diese Frage würde uns stark über den
archäologischen Befund hinausführen.
40
41
Irásné Melis 2004.
Im allgemeinen: Kubinyi 2000, über Pest: Szende K. 2006, 205.
14.11.2009 14:54:56 Uhr
200
Geschichte und Archäologie bei der Erforschung der mittelalterlichen Stadtentwicklung in Ungarn
Fazit
Das Fallbeispiel der Erforschung der ungarischen Städte
Óbuda, Buda und Pest erlaubt uns mindestens in zwei
Richtungen Rückschlüsse zu ziehen. Einerseits könnte
man argumentieren, dass Ungarn in einer speziellen Lage
sei, da hier wegen der Armut an Schriftquellen mittelalterliche Stadtgeschichte ohne Stadtarchäologie einfach
nicht geschrieben werden kann. Andererseits aber unterscheidet sich die Situation in Ungarn nicht wesentlich
von der in anderen Ländern, es sind eher quantitative als
qualitative Unterschiede. Die Ebenen der Zusammenarbeit zwischen Geschichte und Archäologie lassen sich,
hier wie anderswo, wie folgt zusammenfassen:
1. Identifizierung der gefundenen archäologischen Überreste;
Buch SKAM 36.indd 200
2. Gegenseitige Erklärung und Kontextualisierung der in
den schriftlichen bzw. archäologischen Quellen auffindbaren Phänomene;
3. Entwicklung und Beantwortung gemeinsamer Fragestellungen.
In meinem Beitrag habe ich versucht darzustellen, dass
alle drei Ebenen einen festen Platz und eine wichtige Rolle im Laufe der Forschung haben. Am weitesten führt uns
aber zweifellos die dritte Ebene.
Laut einem französischen Bonmot ist die Ehe ein
Bündnis von zwei Leuten mit dem Zweck, Probleme zu
lösen, die sonst nie entstanden wären. In unserem Fall
ist es umgekehrt: Es sollten gemeinsame Probleme und
gemeinsame Fragen auftauchen, damit das Bündnis enger
wird.
14.11.2009 14:54:56 Uhr
Geschichte und Archäologie bei der Erforschung der mittelalterlichen Stadtentwicklung in Ungarn
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Buch SKAM 36.indd 201
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14.11.2009 14:54:56 Uhr
202
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Abbildungsnachweis
1 Altmann/Bertalan 1991b, 187
2 Végh 2003a, 28 (Zeichnung von Zs. Kuczogi)
3 Végh 2006a, 146, Abb. 11 (Zeichnung von Zs. Kuczogi)
4 Irásné Melis 2004, 236, Abb. 1
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Liestal – Annäherung an die Entstehung einer Kleinstadt
203
Jürg Tauber
Liestal – Annäherung an die
Entstehung einer Kleinstadt
Im Jahre 1989 feierte das als Gründungsstadt der Grafen
von Frohburg geltende Liestal sein 800-jähriges Jubiläum.
Wie so häufig war der Anlass die Erwähnung des Namens
in einer Urkunde, und das Festkomitee liess sich die Freude durch nichts verderben: Weder durch die Tatsache, dass
die Urkunde von 1189 eine Fälschung wohl aus der Zeit
um 1218 ist,1 noch durch den Hinweis, dass die Nennung
eines «villicus de Lihstal» für ein Stadtjubiläum nicht eben
standesgemäss ist …
Die erste sicher datierte Nennung des Ortes, eine blosse
Ortsangabe, stammt von 1226.2 Erst ab 1241 wird der Ort
als «burgus» bezeichnet, später als «munitio», «municipium», «civitas», «stat» und «oppidum», was auf eine Befestigung schliessen lässt. 1273 ist ein Schultheiss genannt,
1295 die «burger», 1381 «schultheiss und rat», und 1397 ist
von einem Stadtsiegel die Rede. Kurzum, trotz der überaus dürftigen schriftlichen Überlieferung lässt sich Liestal
im 13. und 14. Jahrhundert als eine der häufigen Kleinstädte nachweisen, ohne dass wir jedoch aus den wenigen
schriftlichen Quellen präzisere Auskünfte über Stadtrecht
und Privilegien, Organisation und Bebauungskonzept
herauslesen könnten.
Was die Besitzgeschichte angeht, so endete die
frohburgische Herrschaft 1305 mit dem Verkauf durch die
letzte Erbtochter der Linie Neu-Homberg an den Basler
Bischof. Dessen notorischer Geldmangel sorgte in der
Folge für turbulente Zeiten, wurde die Herrschaft Liestal
doch wiederholt verkauft oder verpfändet und sah nacheinander Ulrich von Ramstein, den Markgrafen von Hachberg-Rötteln und Leopold von Österreich als Stadtherrn,
letzteren gleich zweimal. Beim zweiten Mal leisteten die
Liestaler Widerstand, worauf der Herzog das Städtchen
1381 in Brand stecken liess. 1400 wurde es schliesslich an
die Stadt Basel verpfändet, wo es bis zur Kantonstrennung
1832 bleiben sollte.
Die schriftlichen Quellen zeigen ein stark vom
Stadtherrn kontrolliertes Gemeinwesen. Bürgerliches
Selbstbewusstsein ist ebenso wenig zu fassen wie der konkrete Inhalt eines Stadtrechts oder anderer Privilegien.
Die spärlichen aus den ersten 100 Jahren überlieferten
Schriftstücke betreffen meist einzelne Liegenschaften und
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vermögen nicht, das Bild einer wie auch immer gearteten
baulichen Entwicklung zu zeigen.
Häufig kann bei einer solch dünnen Quellenlage
die Archäologie weiter helfen. Im Folgenden sollen die ins
Auge fallenden Elemente der Stadtkirche, der Stadtbefestigung und schliesslich der Innenbebauung näher betrachtet werden. Wenden wir uns zunächst der letzteren zu.
Nehmen wir die Stadt als Ganzes (Abb. 1), so fällt auf, dass
im Norden im Laufe des 19. Jahrhunderts die mittelalterliche Bebauung verschwunden ist. Der Aufstieg Liestals
vom unbedeutenden Landstädtchen zum Hauptort des
1832 gegründeten Kantons Basel-Landschaft hatte hier
mit dem Bau von repräsentativen Verwaltungsgebäuden,
denen etwas später noch eine Brauerei folgte, ihren Tribut
gefordert. Das Regierungsgebäude steht an der Stelle des
ehemaligen Freihofs und hat damals einen weiteren wichtigen Bestandteil einer mittelalterlichen Stadt beseitigt.
Von diesem Freihof oder seinen Nachfolgerbauten sind
lediglich einige wenige Mauerreste bekannt, die weder
einen Eindruck des gesamten Ensembles vermitteln noch
Hinweise zur Datierung liefern können.
Bei den im Archiv der Archäologie Baselland verzeichneten Fundstellen kann unterschieden werden zwischen Untersuchungen mit sicheren Dendrodaten, wobei
manchmal neben der Bauuntersuchung auch Grabungen
durchgeführt wurden, Grabungen ohne Dendrodaten, die
für die Stadtgeschichte relevante Beobachtungen ermöglicht haben, und schliesslich Untersuchungen, die allenfalls
Aussagen zur relativen Bauabfolge innerhalb eines Gebäudes ermöglichen, für die Entwicklung der Stadt aber nicht
weiter verwertbar sind.
Die bisher ältesten dendrochronologischen Daten
gehen nicht weiter zurück als bis zum Jahr 1400. Bei der
einzigen Ausnahme, einer Fachwerkwand von 1387/88,
1
2
Rück 1966, 151ff.; Rippmann 1991, 50 erwägt aufgrund der Nennung eines
Erpherat von Augst in der Zeugenliste gar eine Datierung ins späte 13. Jahrhundert, da ein gleichnamiger Meier von Augst von 1274 und 1287 vorkommt.
Wiggenhauser 2006, 110. Urkunde: SUB 1, 183–185. Die folgenden Angaben
sind zusammengestellt bei Rippmann (im Druck). Eine Zusammenfassung
auch bei Fridrich 2004, 11ff.
14.11.2009 14:54:56 Uhr
204
Liestal – Annäherung an die Entstehung einer Kleinstadt
Abb. 1 Plan der Stadt Liestal. Grau die Liegenschaften und Flächen, in denen archäologische Untersuchungen stattgefunden haben. Eingezeichnet
sind der Verlauf der Stadtmauer mit den sichtbaren Teilen (1=Oberes Tor; 2=Thomasturm; 3=Mauer bei der Pfarrscheune) sowie die abgebrochenen
Strukturen (4=Unteres Tor; 5=Costentzer Turm; 6=Wasserturm). Im Norden die grossräumigen Störungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts
(A=Regierungsgebäude; B=Amtshaus; C=Brauerei). R und K bezeichnen die Lage der Befunde Rosengasse (Abb. 2) und Kanonengasse (Abb. 3). Die
Jahreszahlen bezeichnen die ältere Schicht der Dendrodaten; kursiv sind jene Befunde gekennzeichnet, wo ganze Bauteile wiederverwendet wurden.
handelt es sich um die sekundäre Verwendung eines
ganzen Bauteils. Neben den exakt datierbaren Befunden
lassen sich jedoch immer wieder Bauteile fassen, die älter
sein müssen. Weit verbreitete Brandspuren an solchen
Überresten legen – bei aller Vorsicht – den Verdacht nahe,
es könnte sich um die Spuren des Stadtbrandes von 1381
handeln. Diese älteren Bauteile gehören oft zu einzeln stehenden Gebäuden auf grösseren Parzellen.
Im Folgenden sollen einige der gut untersuchten
Liegenschaften vorgestellt werden, wobei ich nicht die
Einzelbeobachtungen im Detail beschreiben möchte,
sondern die aufgrund dieser Beobachtungen rekonstruierbaren Bauentwicklung.
Rosengasse 5 (Abb. 2) gehört zum Häuserring um
die Kirche.3 Die ältesten Spuren sind zwei Pfostengruben
Buch SKAM 36.indd 204
zur Strasse hin und ein im hinteren Teil der Parzelle stehendes Gebäude. Die Parzelle wird in der Folge vollständig
überbaut, schliesslich werden die recht grossen Häuser in
schmalere Einheiten unterteilt. Die Verfüllung der Pfostengruben enthielt Keramik des 15. Jahrhunderts, und ein parallel zur Gasse verlaufender Mauerrest war nur noch in der
untersten Fundamentlage erhalten. Dies weist darauf hin,
dass hier das Gelände wohl im 15. Jh. grossflächig abgetragen worden ist.
Ein ähnliches Bild zeigt sich an der Kanonengasse 31–37 (Abb 3).4 In dieser Häuserzeile liessen sich zwei
Kernbauten nachweisen. Einer stand direkt an der Gasse,
3
4
Aktennummer 40.150. Publiziert in Jahresbericht 1993, 61ff.
Aktennummer 40.168. JbSGUF 85 (2002), 348f.
14.11.2009 14:54:57 Uhr
Liestal – Annäherung an die Entstehung einer Kleinstadt
205
Abb. 3 Schematische Darstellung der Bauentwicklung an der Kanonengasse 33–35 mit der Stadtmauer (schwarz) und den beiden «Kernbauten» (dunkelgrau) sowie den späteren Ergänzungen (hellgrau). Die
hellgrau eingefärbte Struktur mit gestrichelter Umrandung ist die Fachwerkwand Abb. 4.
Abb. 2 Schematische Darstellung der Befunde an der Rosengasse 5.
Das vermutete Haus 1 und das (in einer zweiten Phase erweiterte)
Haus 2 sind die ältesten Steinbauten. Das grosse Haus 4 wird ebenso
wie Haus 2 in der spätesten Phase unterteilt.
seine rückwärtige Fassade etwa 4 Meter von der Stadtmauer
entfernt. Der zweite hingegen war an die Stadtmauer angelehnt. Auch hier ist eine sukzessive Verdichtung der Parzellenbebauung nachzuweisen; schliesslich wird das grosse
Haus 35 durch eine Querwand unterteilt. Diese lässt sich bis
zur Stadtmauer verfolgen, so dass wir annehmen, dass der
ursprünglich vorhandene Zwischenraum damals überbaut
wurde. Die Stadtmauer selbst war hier so durchlöchert, dass
eine sinnvolle Bauanalyse nicht mehr möglich war.
Die Dendrodaten rücken die Unterteilung ins spätere 16. Jahrhundert, wobei im 2. OG eine Fachwerkwand
aus dem 14. Jh. (1387/88) erhalten ist; sie steht auf einem
aus Spolien unterschiedlichen Alters zusammengesetzten
Fachwerk (Abb. 4) und dürfte wohl 1573 en bloc hierher
versetzt worden sein. 1387/88 ist bisher das älteste Dendrodatum aus Liestal.
Ein paar Häuser weiter steht der Thomasturm, der
laut schriftlichen Quellen 1509–1511 erbaut wurde und
auf halbrundem Grundriss aus der Stadtmauerflucht nach
aussen vorspringt.5 Inwendig scheint wenige Jahre zuvor
– nach den Dendrodaten 1506/07 – ein Neu- oder tiefgreifender Umbau stattgefunden zu haben (Abb. 5). Dessen
Besitzer Zachäus Wurstisen, der Ziegler, erhielt 1583 die
Erlaubnis, sein Haus Richtung Gasse zu erweitern,6 was er
nach Ausweis der verbauten Balken offensichtlich unverzüglich tat.
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Diese Beispiele mögen für eine Zwischenbilanz
genügen; sie wären mit weiteren Beispielen ohne Weiteres zu erweitern. Wir können feststellen, dass seit der
Zeit um 1400 eine intensive Bautätigkeit fassbar ist, die
in einem eigentlichen Bauboom im späteren 16. Jahrhundert gipfelt. Damals scheinen die geschlossenen Gassenfluchten entstanden zu sein. Wie weit die wenigen
nachweisbaren Bauteile zurückgehen, die noch aus der
Zeit vor dem späten 14. Jahrhundert stammen dürften,
Abb. 4 Ausschnitt aus der Trennwand von Kanonengasse 35 mit der
Zweitverwendung eines Fachwerkes aus dem 14. Jahrhundert.
5
6
Aktennummer 40.232.
Merz 1910, 290ff., hier 293; Text von Karl Gauss.
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206
Abb. 5 Die Liegenschaft beim Thomasturm mit den beiden anhand
der Balkendecken fassbaren Bauphasen des inwendig an die Stadtmauer angelehnten Hauses.
Abb. 6 Abbruch der Häuserzeile zwischen Oberem Tor und Wasserturm 1971. Der Pfeil deutet auf den Wehrgang, der durch die Dachgeschosse sämtlicher Häuser führte.
können wir durch Bauuntersuchungen bisher nicht präzisieren. Grossflächige Brandverfärbungen an solchen
Mauerteilen lassen vermuten, dass sie aus der Zeit vor
dem Stadtbrand von 1381 stammen.
Nun stützt sich die Archäologie nicht nur auf bauarchäologische Untersuchungen, sondern mindestens
in gleichem Masse, wenn nicht noch mehr auf Ausgra-
Buch SKAM 36.indd 206
Liestal – Annäherung an die Entstehung einer Kleinstadt
bungen. Die im Boden überlieferten Schichten und ihr
Verhältnis zu den Fundamenten vermögen in der Regel
Licht ins Dunkel der Anfänge einer Siedlung zu bringen.
Im Falle von Liestal stehen wir aber vor der doch
eher aussergewöhnlichen Tatsache, dass mit ganz wenigen Ausnahmen keinerlei Schichten vorhanden sind.
Wird in einem Haus ein Boden entfernt oder wird der
Strassenbelag irgendwo aufgerissen, so erscheint darunter in der Regel sofort steriler Kies.
Es gibt ganz wenige Ausnahmen, etwa Reste einer
Brandschicht in 80 cm Tiefe an der Amtshausgasse 7,7
oder Schlackenfunde in der Kanonengasse.8 Beide Fundstellen ergeben aber keine Anhaltspunkte zur Datierung.
An der Salzgasse, einer Querverbindung zwischen
der Hauptachse des Städtchens, der Rathausstrasse und
dem parallel dazu verlaufenden Fischmarkt kam hingegen beim Neubau des städtischen Rathauses ein kaum
einen halben Quadratmeter grosser Schichtrest zum Vorschein, der etwas Keramik des 12. Jahrhunderts enthielt.9
Die Höhenkote der Fundstelle liegt bezeichnenderweise
etwas höher als jene der genannten Strassen, was wiederum wie bei den Befunden in der Rosengasse vermuten lässt, dass grossflächige Geländeveränderungen die
älteren Schichten zum Verschwinden gebracht haben.
Bestätigt wurde diese Vermutung im Haus Ecke Rathausstrasse/Rosengasse:10 Hier kam im Treppenhaus beim
Eingang an der Rosengasse ebenfalls ein kleiner Schichtrest
mit Funden des 10. bis 13. Jahrhunderts zum Vorschein.
Er lag bezeichnenderweise rund 60 cm über dem heutigen
Strassenniveau!
Eine weitere Fundstelle mit Material aus der Frühzeit der Siedlung bildet die Grabung in der inwendig an
die Stadtmauer angebauten Pfarrscheune. Diese Befunde
sind im Zusammenhang mit der Stadtmauer zu betrachten, deren Existenz aufgrund der Bezeichnungen Liestals
als «burgus» (1241) und «munitio» (ab 1259) vorausgesetzt
werden kann. Heute ist von der Befestigung nicht mehr viel
zu sehen, da sie in grossen Teilen entweder abgebrochen
oder aber in den Häusern integriert ist.11 So liess sich bei
Abbrucharbeiten immer wieder feststellen, dass ein vom
Dachraum abgetrennter Wehrgang (Abb. 6) durch sämtliche Häuser führte und die als Brandmauern gedachten
7
8
9
10
11
Aktennummer 40.265. Jahresbericht 2007, 72f.
Aktennummer 40.166.
Aktennummer 40.154.
Aktennummer 40.171.
Eine Zusammenstellung des Forschungsstandes bei Ewald 1996, 116ff.
14.11.2009 14:55:00 Uhr
Liestal – Annäherung an die Entstehung einer Kleinstadt
207
Abb. 7 Der Wasserturm vor dem Abbruch von 1897.
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14.11.2009 14:55:01 Uhr
208
Liestal – Annäherung an die Entstehung einer Kleinstadt
Abb. 8 Die Fundamente des Wasserturms mit der bogenförmig verlaufenden Stadtmauer.
Trennmauern zwischen den einzelnen Liegenschaften
durchlöcherte.
Von der Stadtbefestigung heute noch sichtbar
sind das Obere Stadttor, der Thomasturm sowie einzelne
Partien an der Ostseite des Städtchens. Mehrere Befunde
konnten in den letzten Jahrzehnten immerhin dokumentiert werden, so dass wir einige Details der heute verschwundenen Partien kennen. Besonders interessant war
der Befund beim 1897 abgebrochenen Wasserturm (Abb. 7)
an der Südwestecke der Stadt, bei welchem ursprünglich Wasser aus dem Orisbach in die Stadt hineingeleitet
wurde. Bei Ausgrabungen wurde in den Jahren 1983 und
1984 das Fundament dieses Bauwerks freigelegt (Abb. 8).12
Eine erste Bauphase zeigt eine einfache Mauer von rund
1 Meter Stärke. Erst in einem zweiten Schritt wurde der
mächtige Turm von rund 8 mal 8 Metern rittlings darüber gesetzt. Wie man sich diese Bauabfolge im Aufgehenden vorzustellen hat, muss offen bleiben.
Die bisher ergiebigsten Forschungen zur Geschichte der Stadtmauer konnten in der bereits erwähnten
Buch SKAM 36.indd 208
Pfarrscheune stattfinden (Abb. 9). Die Funktion dieses
Gebäudes als reiner Zweckbau, der bis in jüngste Zeit nie
zum Wohn- der Geschäftshaus umgebaut wurde, hatte
zur Folge, dass die Stadtmauer in nahezu unveränderter
Form erhalten und in verhältnismässig bescheidenem
Umfang mit Durchbrüchen durchlöchert war, was eine
grossflächige Untersuchung des Aufgehenden sowohl
auf der Innen- als auch auf der Aussenseite möglich
machte.13
Im Innern war die ursprüngliche Stadtmauer aus
dem 13. Jahrhundert bis zu den Zinnen erhalten. Sie
zeigte grossflächig Brandspuren, die wohl mit dem Stadtbrand von 1381 zu tun haben. Eine Reparatur der Zinnen
ohne diese Brandspuren ist wohl in die Zeit unmittelbar
danach zu datieren. Etwas später wurden einzelne Zinnen
erhöht, und noch später die Zwischenräume verschlossen
und mit Schartenfenstern versehen. Ein in einem solchen
12
13
Aktennummern 40.123 und 40.127.
Eine knappe Zusammenfassung der Ergebnisse bei Ewald 2004, 116ff.
14.11.2009 14:55:03 Uhr
Liestal – Annäherung an die Entstehung einer Kleinstadt
209
Abb. 9 Schnitt, Aussen- und Innenansicht der Stadtmauer im Bereich der Pfarrscheune.
Fenster noch erhaltener Holzladen konnte auf das Jahr
1463 datiert werden. Balkenlöcher zeugen von zwei zeitlich auseinander liegenden Wehrgängen. Die Aussenseite
trug grossflächig einen Verputz, der frühestens aus dem
späten 17. Jahrhundert stammt. Ältere Verputzreste wohl
aus der Zeit um 1400 fanden sich lediglich im Bereich der
Zinnen. Ein Schichtenprofil, das dank einer Sondierung
an der Innenseite beobachtet werden konnte, ergab Hinweise auf eine vorstädtische Siedlung (Abb. 10). Es zeigte
sich zunächst eine klassische, dem Verlauf der Mauerkontur knapp folgende Mauergrube, die aus statischen Gründen allerdings nicht bis zur Sohle verfolgt werden konnte.
Dahinter waren zwei deutlich trennbare Schichtenpakete
zu erkennen; das eine, untere, war von der Mauergrube
durchschlagen, das obere zog über die Mauergrube hinweg
an den inneren Mantel der Stadtmauer heran.
Aus beiden Schichtenpaketen konnten datierende
Funde geborgen werden: Im oberen Keramik aus dem 13.
Jahrhundert, im unteren solche aus dem 10. bis 12. Jahrhundert. Das Vorkommen von Ofenkacheln im unteren
Schichtenpaket deutet darauf hin, dass in diesem Bereich
bereits in dieser frühen Zeit mit einem gehobenen Wohnstil gerechnet werden muss.
Die aufgrund der Befunde und Funde postulierte
zeitliche Abfolge konnte durch eine Serie von C14Datierungen bestätigt werden, die zwischen oberem und
unterem Schichtenpaket einen deutlichen Unterschied
ergaben (Abb. 11).
Abb. 10 Aufnahme des im rechten Winkel an die Stadtmauer stossenden Profils im Bereich der Pfarrscheune mit den wichtigsten
Schichtpaketen.
Ziehen wir eine Zwischenbilanz: Im datierbaren Baubestand der Liestaler Altstadt lassen sich kaum Elemente
fassen, die vor die Wende des 14. zum 15. Jahrhundert
zurückgehen: Hier eine als Spolie wiederverwendete Fachwerkwand, dort einige nicht datierbare «Kernbauten», von
denen meistens nur einzelne, spärliche Mauerteile unter-
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Abb. 11 Zwei Radiokarbondaten aus dem an die Stadtmauer anstossenden Schichtenprofil: Oben ein Wert aus dem unteren Schichtenpaket, unten aus den an die Mauer heranführenden Deckschichten.
sucht werden konnten. Grösserflächige Brandspuren an
solchen Mauern könnten darauf hindeuten, dass die entsprechenden Häuser schon vor dem Stadtbrand von 1381
gestanden haben.
Andererseits lassen verschiedene Indizien auf eine
Siedlung schliessen, die älter ist als die Zeit der Stadterhebung im 13. Jahrhundert. Bezeichnenderweise liegen die
entsprechenden Funde in zwei Fällen in Positionen, die
über dem heutigen Strassenniveau liegen, was umfangreiche Geländeveränderungen wohl in der Zeit um 1400
erschliessen lässt.
Betrachten wir nun noch die letzte für die Stadt
wichtige Komponente, die Kirche bzw. das Kirchengeviert. Die in der älteren Literatur immer wieder aufgelisteten Eckdaten sind folgende:
– Die Patrozinien der Liestaler Kirche lassen auf eine
bewegte Geschichte schliessen: Es sind die Heiligen
Martin, Brida (=Brigida), Eusebius, Georg, Appolinaris
und Haimo.14
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Liestal – Annäherung an die Entstehung einer Kleinstadt
– Für die Geschichte Liestals wichtige Hinweise aus den
die Kirche betreffenden schriftlichen Quellen sind in
dem ins 13. Jahrhundert zurückgehenden Jahrzeitenbuch enthalten.15 Dort werden neben St. Martin und
Brida in Liestal oft auch St. Nikolaus in Lausen(-Bettenach) und St. Laurentius in Munzach genannt, offensichtlich eine Art Kirchentrias, die von den Grafen
von Frohburg und ihren zum Teil in Liestal ansässigen
Ministerialen mit Vergabungen bedacht wurde.
– Die archäologischen Sondierungen von 1942 haben
im Kircheninnern zahlreiche Spuren aufgedeckt. Die
damaligen Ausgräber (allesamt keine Archäologen)
haben daraus eine Abfolge von Sakralbauten rekonstruiert, die bei einem römischen Marstempel beginnt
und über mehrere Kirchenphasen (unter anderem eine
romanische Anlage mit gestelzter halbrunder Apsis)
beim heutigen Gotteshaus endet.16
– Die isolierte Lage auf einem Geländesporn mitten im
Tal sowie die mittseits des Gevierts angelegten Zugänge
haben 1978 Peter Degen veranlasst, ein spätrömisches
Kastell vom Typ Irgenhausen zu postulieren. 17 Die
Analyse des 1942 zum Vorschein gekommenen Fundmaterials durch Reto Marti 1988 zeigte denn auch, dass
seit dem 1. Jahrhundert auf dem nachmaligen Kirchhügel eine römische Siedlung unbekannter Grösse
und Funktion bestand. Die These eines spätrömischen
Kastells wird durch entsprechende Keramik (unter
anderem Argonnensigillata und Paléochrétienne)
erhärtet. Ausserdem lassen die Funde auf eine kontinuierliche Besiedlung des Platzes über die Spätantike
hinaus schliessen.18
Neuere Forschungen haben diesen Informationen einige
Aspekte hinzugefügt, welche die Informationen erweitern, teilweise aber auch widerlegen bzw. korrigieren.
Beginnen wir mit den Patrozinien: Maria Wittmer-Butsch hat die Liste unter die Lupe genommen19 und
kommt (unter anderem) zu folgenden Aussagen: Martin
kann uns nicht weiter erstaunen, wenn wir Degens These
nicht grundsätzlich verwerfen wollen, was angesichts der
Funde wohl schwierig sein dürfte. Seine Wahl als Patron
14
15
16
17
18
19
Zu den Patrozinien der Liestaler Stadtkirche Merz 1910, 190ff.; Text von Karl
Gauss.
Rippmann 1991, 48.
Schmassmann 1943.
Degen 1978, 30f.
Marti 1988, 44ff.
Wittmer-Butsch 1995 und Wittmer-Butsch 2001, 210.
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Liestal – Annäherung an die Entstehung einer Kleinstadt
würde bedeuten, dass die in unserer Gegend archäologisch greifbare fränkische Oberschicht den exponierten
und mit wohl hervorgehobener Funktion ausgestatten
Platz als Stützpunkt im Ergolztal besetzt hat.
Die heilige Brida oder Brigida von Kildare gehört
zu den irischen Heiligen, die auch in Basel eine Rolle
spielen. Wittmer-Butsch möchte darin den Einfluss des
Klosters Honau bei Strassburg sehen, welches von den
elsässischen Herzögen sehr gefördert wurde. Die irischen
Mönche wären auch für das Liestaler Eusebiuspatrozinium verantwortlich.
Eine solche indirekte Präsenz elsässischen Einflusses wäre in unserer Region nichts Aussergewöhnliches. So schenkte Odilia, die Tochter Herzog Etichos,
den Hof zu Arlesheim dem von ihr gegründeten Kloster
Hohenburg (heute Odilienberg). Das Domstift Strassburg war im Besitz von Muttenz und der Burgen auf dem
Wartenberg. Für das von Graf Eberhard aus der Familie
Etichos gegründete Kloster Murbach schliesslich ist unter
anderem Besitz im Augst- und im Frickgau belegt.20
Neben den neueren historischen Überlegungen
ist auch auf die Grabungen im Chorbereich der Stadtkirche von 2005 hinzuweisen, die insofern neue Resultate erbrachten, als sich die von den früheren Ausgräbern
postulierte romanische Kirche mit gestelzter Apsis21 in
Luft aufgelöst hat.22 Nach heutigen Erkenntnissen dürfte
die älteste Kirche möglicherweise noch ins 7. Jahrhundert
zurückgehen und wurde im Hochmittelalter mit einer
Anlage mit einfachem Rechteckchor ersetzt. Dieser überlagert eine Dreierbestattung, die als Beigabe eine Börse
von 36 Denaren des burgundischen Königs Konrads des
Friedfertigen (937–993) enthielt.
Werfen wir nun noch einen Blick auf die anderen Kirchen der «Kirchentrias» bzw. auf die zugehörigen
Siedlungen. Munzach geht auf einen römischen Gutshof
der frühen Kaiserzeit zurück.23 Aufgrund des Fundmaterials ist im 5. Jahrhundert eine Ausdünnung der Besiedlung zu erschliessen; für die Annahme eines längeren
Siedlungsunterbruchs reicht jedoch die Aussagekraft dieser Quellengattung nicht aus. Auf jeden Fall aber ist die
Besiedlung seit der Mitte des 6. Jahrhunderts wieder klar
und intensiv zu fassen.
Einer Zeugenliste der Zeit kurz vor 800, die sich
auf eine früher erfolgte Schenkung an das Kloster St.
Gallen bezieht, wurde «ad ficum Monzacha in placidum» aufgeschrieben und weist Munzach als Gerichtsort
aus. Wittmer-Butsch hält es für wahrscheinlich,24 dass
in den Zeugenführern Adabero und seinem Sohn Bero
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211
Nachkommen der elsässischen Herzöge zu sehen sind.
Das Dorf Munzach wird kurz nach 1200 aufgegeben, die
dem Heiligen Laurentius geweihte Kirche bleibt stehen,
bis sie 1765 abgebrochen wurde.
Auch das heute im Gemeindebann von Lausen
liegende Bettenach hat seine Ursprünge in einem frühkaiserzeitlichen Gutshof.25 Im Gegensatz zu Munzach ist
hier aber keine Siedlungsausdünnung zu spüren. Im 6.
Jahrhundert wird eine kleine Grabkapelle für eine hochgestellte Persönlichkeit errichtet,26 die ihre beste Parallele
in St-Geoges neben der Kathedrale von Vienne hat, in
welcher Bischof Panthagatius bestattet ist. Auch die in
einer zweiten Bauphase im Westen und Norden angebauten Annexe, die weitere Gräber aufnehmen, entsprechen einem im Rhônetal bekannten Bautyp.
Erst im 11. Jahrhundert erhält Bettenach eine
neue, grössere Kirche.27 Ihre Dimensionen und vor allem
die Orientierung sind derart von der bescheidenen Vorgängerin verschieden, dass von einem bewussten Traditionsbruch gesprochen werden kann. Wir gehen davon
aus, dass hier Rudolf von Rheinfelden mit dem Bau einer
Nikolauskirche28 eine Besitzmarke gesetzt hat. Ähnlich
wie Munzach verschwindet auch Bettenach kurz nach
1200; die Kirche bleibt wie dort ebenfalls stehen und
dient noch heute der Gemeinde Lausen auf der anderen
Talseite als Pfarrkirche.
In beiden abgegangenen Siedlungen fanden sich
in den Schichten und Befunden des 7. Jahrhunderts
Keramikscherben, die offensichtlich nicht einheimisch
sind: die so genannte ältere gelbtonige Drehscheibenware. Nach neueren Untersuchungen handelt es sich um
eine Ware, die in grossen Mengen nördlich von Strassburg, in der Gegend um Soufflenheim, hergestellt worden ist.29 Auch hier ist demnach eine Verbindung zum
Elsass greifbar.
Schliesslich ist in diesem Zusammenhang auch
noch auf die Kirche von Sissach hinzuweisen, die lediglich 4 Kilometer östlich von Lausen liegt und ebenfalls
zu den wichtigen frühmittelalterlichen Fundorten des
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
LexMA VI, Spalte 939f.; Wittmer-Butsch 2001, 212.
Noch bei Marti 2000, B, Tafel 180 abgebildet.
JbAS 89 (2006), 277 und Abb. 43.
Marti 2000, Munzach.
Wittmer-Butsch 1995, 45ff.; Wittmer-Butsch 2001, 207.
Tauber 1998; Marti 2000.
Marti/Tauber 2006, 56f.
Marti/Tauber 2006, 76ff.
Wittmer–Butsch 1995, 50ff.
Châtelet et al. 2005.
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Ergolztales zu zählen ist. Der Name der Siedlung ist auch
im übergeordneten Sisgau enthalten, was die Bedeutung
des Ortes unterstreicht.
Auch hier ist – wenn auch nur sehr spärlich – ein
römischer Gutshof belegt (zusammen mit zahlreichen
wichtigen vorrömischen Fundstellen). Uns interessiert hier
aber die Kirche, die aus dem 7. Jahrhundert stammt und
einer begüterten Familie als Grablege diente. Die reichen
Beigaben zeigen ebenfalls eine kulturelle Affinität in den
Raum des Oberrheins, damit auch hier ins Elsass. Die Tatsache, dass in Sissach fast ausschliesslich Frauen bestattet
wurden, könnte darauf hinweisen, dass für die Männer
der Sippe eine andere Grablege (vielleicht im Raum Strassburg?) reserviert war.30
Dieser Blick über die Stadtmauern hinaus soll zeigen, dass
es in der Kleinregion «Mittleres Ergolztal» durchaus auch
andere Orte mit langer Tradition und mehr als lokaler
Bedeutung gegeben hat, die als Anknüpfungs- oder Kristallisationspunkt einer Stadtgründung hätten dienen können.
Weshalb also gerade Liestal?
Die Grafen von Frohburg haben erst nach 1223 in
der Gegend Fuss gefasst, nachdem sie das Erbe der damals
ausgestorbenen Grafen von Alt-Homberg angetreten hatten. Die Erhebung Liestals zur Stadt muss bald nach diesem Zeitpunkt erfolgt sein. Dabei haben sie wohl an ein
bereits bestehendes herrschaftliches Zentrum angeknüpft,
das sich durch einige Besonderheiten auszeichnet:
– Liestal ist der einzige der genannten Orte in Spornlage, was die Anlage einer Befestigung erleichtert haben
dürfte.
– Weniger als 1 Kilometer weiter östlich deutet der noch
heute geläufige Flurname «Altmarkt» auf einen ehemaligen offenen Markt hin, der mit der Stadtgründung
in die Stadt hereingeholt werden konnte, übrigens das
gleiche Vorgehen wie im ebenfalls von den Frohburgern
gegründeten Städtchens Waldenburg.
– Schliesslich dürfte auch die verkehrsgeografisch wichtige
Lage an der Gabelung der beiden Passübergänge über
den Oberen und den Unteren Hauenstein eine Rolle
gespielt haben.
Die als Abbildung 12 gezeigte Karte ist ein Zusammenzug31 verschiedener itinerarischer Quellen der Spätantike
und des frühen Mittelalters, schwergewichtig des Kosmographen von Ravenna. Wir gehen davon aus, dass das
dort an einem sonst nicht nachvollziehbaren Weg vom
Rheintal ins Mittelland genannte «Frincina» ein älterer
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Liestal – Annäherung an die Entstehung einer Kleinstadt
Name für Liestal ist, fliesst doch die in mittelalterlichen
Quellen fast gleich lautende «frenchina», der Fluss Frenke, an dieser Stelle in die Ergolz.
Der Obere Hauenstein war für die Frohburger von
grosser Bedeutung, hatten sie doch in der Nähe der Passhöhe um 1140 das Kloster Schöntal gegründet. Zur Zeit
der Liestaler Stadtgründung stand in dessen Nähe ein
möglicherweise von den Frohburgern betriebener früher
Hochofen, in dem Eisenerz nach dem indirekten Verfahren verhüttet wurde – damals ein technische Innovation
von grosser Tragweite.32
Zwischen der Passhöhe und Liestal gründeten sie an
einer unüberwindbaren Talenge zudem das 1244 erstmals
erwähnte Städtchen Waldenburg. Nicht weniger wichtig
war den Frohburgern wohl auch der Untere Hauenstein,
steht doch oberhalb der Passhöhe ihre Stammburg.
Liestal am nördlichen Ausgangspunkt dieser beiden
Routen war deshalb für die Frohburger ein wichtiger Stützpunkt.
Möglicherweise knüpften sie bei der Stadterhebung
an bestehende Strukturen an, die bereits auf die Grafen
von Alt-Homberg zurückgehen. Es fällt auf, dass die Siedlungsintensität in den benachbarten Dörfern Munzach
und Bettenach um 1200 massiv zurückgeht. Kurz darauf
sind beide Wüstungen, was nur zu erklären ist, wenn man
davon ausgeht, dass die Bewohner nach Liestal umgesiedelt sind.
Und hier ist nochmals auf das Schichtenprofil in
der Liestaler Pfarrscheune hinzuweisen: Das ältere, an den
senkrecht abgestochenen Kies anschliessende Schichtenpaket macht nicht den Eindruck eines natürlich abgelagerten
Hangschuttes, sondern sieht eher wie eine Hinterfüllung
aus. Da es nicht jene der heutigen Stadtmauer gewesen sein
kann, halten wir es für wahrscheinlich, dass schon früher,
wenn auch keine ausgewachsene Stadtmauer, so doch mindestens eine Böschungsmauer den Sporn gegen Aussen
gesichert hat. Die erwähnten Ofenkacheln aus dem 12. Jh.
würden jedenfalls zu einem frühen befestigten Platz mit
entsprechender Bewohnerschaft durchaus passen.
Ob wir mit dieser Vermutung auf dem richtigen
Weg sind, werden hoffentlich künftige Grabungen zeigen.
30
31
32
Marti 2000; Marti/Tauber 2006.
Aus Marti 2000.
Tauber 2007, 26ff.
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Liestal – Annäherung an die Entstehung einer Kleinstadt
213
Abb. 12 Versuch einer Rekonstruktion der spätantik-frümittelalterlichen Verkehrsgeografie mit den Verkehrsknotenpunkten und Kastellen und
soweit möglich mit ihren antiken Bezeichnungen (nachgewiesen: schwarz; vermutet: gerastert). Die Hauptrouten sind ausgezogen, Nebenrouten
gestrichelt; durchnumeriert sind die Passübergänge des Pierre Pertuis (1), des Oberen Hauensteins (2), des Unteren Hauensteins (3), der Staffelegg
(4) und des Bözbergs (5).
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214
Liestal – Annäherung an die Entstehung einer Kleinstadt
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205–235.
Abbildungsnachweis
Abb. 1–12 Kantonsarchäologie Baselland
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Die bernischen Dominikaner und die totgeborenen Kinder von Oberbüren
215
Kathrin Utz Tremp
Die bernischen Dominikaner und die
totgeborenen Kinder von Oberbüren
Beispiele für gelungene Zusammenarbeit zwischen Geschichte und Archäologie
Einleitung
«Der Ruf nach Inter-, Multi- und Transdisziplinarität ist
überall zu vernehmen; er scheint aber ungehört zu verhallen oder ist auf Lippenbekenntnisse beschränkt, und selten
kommt es zu erfolgreichen Kooperationen zwischen historischen und archäologischen Fachbereichen. Zu weit auseinander zu liegen scheinen Methoden, Fragestellungen und
Begrifflichkeit; zu wenig wird vielfach die eigene Position
reflektiert, noch viel weniger diejenige des andern». Dieser
Satz aus dem Call for Papers für diese Tagung hat auf mich
wie ein hingeworfener Fehdehandschuh gewirkt, denn
ich habe bereits mindestens zweimal sehr erfolgreich mit
Archäologen zusammen gearbeitet, einmal bei der Restaurierung der Berner Dominikanerkirche in den Jahren 1988–
1990 und einmal bei der Ausgrabung des Marienheiligtums
von Oberbüren (Kt. Bern) in den Jahren 1993–2003, das
erste Mal mit Georges Descoeudres, das zweite Mal mit
Daniel Gutscher und Peter Eggenberger (Publikation noch
ausstehend). Was hatten wir denn falsch gemacht, dass es
uns gelungen war, unsere auf verschiedenen Wegen gefundenen Ergebnisse so gut zur Übereinstimmung zu bringen?
Eine Erfolgsgeschichte ist freilich viel schwieriger zu schildern als eine Misserfolgsgeschichte, denn man kann nicht
nach Widerhaken suchen und diese dann zu erklären versuchen; ich will es dennoch versuchen, auf die Gefahr hin, für
unkritisch und naiv gehalten zu werden.
I. Die bernischen Dominikaner
Die Ergebnisse der Restaurierung und der bei diesem
Anlass vorgenommenen archäologischen Untersuchungen an der Dominikanerkirche (heute Französische
Kirche) in Bern wurden 1993 publiziert und bereits
damals im Vorwort gerühmt: «als geradezu exemplarische
Ergänzung von historischer und archäologischer Analyse, indem die topographischen Verhältnisse, wie sie sich
anhand der Schriftquellen darstellen, an den Ergebnissen
der Bauuntersuchung verifiziert werden konnten und in
einzelnen Teilen zu völlig neuen und überraschenden
Erkenntnissen geführt haben». Dieses Lob stammt selbstverständlich weder von Georges Descœudres noch von
mir, sondern von Hans Grütter, damals Kantonsarchäo-
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loge des Kantons Bern.1 Dabei hatten Georges Descoeudres und ich in den Jahren 1988–1990 keineswegs ständig miteinander gearbeitet oder die Köpfe zusammengesteckt; wir haben uns lediglich ein einziges Mal gesehen,
an einem Nachmittag, als Georges mir die Ausgrabungen
in der Berner Dominikanerkirche zeigte; den Rest haben
wir per Post – damals noch nicht per Mail – erledigt. Wir
standen auch nicht in ständigem Austausch, sondern
haben einfach am Schluss die Manuskripte ausgetauscht
und angepasst. Der springende Punkt lag anderswo, nämlich in den schriftlichen Quellen zum Berner Dominikanerkloster.
Das Berner Dominikanerkloster hat allerdings
nicht mehr schriftliche Quellen hervorgebracht als ein
anderes Dominikanerkloster auch, auch nicht weniger,2
aber doch ein ganz spezielles Stück: die Akten des Jetzerprozesses. Der Jetzerhandel war ein Skandal, den das
bernische Dominikanerkloster in den Jahren 1507–1508
verursachte und der 1508–1509 mit einem Inquisitionsprozess geahndet wurde, eben dem Jetzerprozess. Es ist
hier weder der Ort noch die Zeit, auf die sehr komplexe
Schuldfrage einzugehen, aber es sieht doch danach aus,
als hätten die Klostervorsteher, der Prior Johannes Vatter, der Lesemeister Stephan Boltzhurst, der Subprior
Franz Ueltschi und der Schaffner Heinrich Steinegger,
dem Konversbruder Hans Jetzer in den Jahren 1507–1508
falsche Heiligenerscheinungen vorgespielt (oder vorspielen lassen), die keinen andern Zweck hatten, als für die
Lehre von der Befleckten Empfängnis Mariens zu werben, welche die Dominikaner vertraten und welche sie
damals, am Ende des Mittelalters, in gehörigen Nachteil
gegenüber den Franziskanern brachte. 3 Ich hatte mich
1
2
3
4
Descœudres/Utz Tremp 1993, 11. Rezensionen (soweit zu meiner Kenntnis
gelangt) von Christian Hesse, in: Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde 55 (1993), 239–241, und von Martina Wehrli-Johns, in: Zeitschrift
für Schweizerische Kirchengeschichte 89 (1995), 160f.
Descœudres/Utz Tremp 1993, 122–142; siehe inzwischen auch Utz Tremp
1999, 285–324.
Utz Tremp 1999, 297–299, siehe auch Utz Tremp 1993.
Tremp-Utz 1988.
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Die bernischen Dominikaner und die totgeborenen Kinder von Oberbüren
Abb. 1 Rekonstruierter Grundriss des ehemaligen Dominikanerklosters von Bern nach Descœudres 1993. Grau: archäologischer Befund bzw. noch
im aufgehenden Mauerwerk enthalten.
damals schon einmal mit dem Jetzerhandel beschäftigt,4
und die Idee lag nahe, die topographischen Verhältnisse
in Kirche und Kloster aufgrund dieser Prozessakten zu
rekonstruieren, die seit 1904 gedruckt vorliegen.5 Was
immer sie zur Schuldfrage beitragen: für die topographischen Verhältnisse in Kirche und Kloster sollten sie
unparteiische Zeugen sein.
Ich habe also die Akten des Jetzerprozesses – rund
600 Seiten manchmal eng bedruckter lateinischer Text –
auf die topographischen Verhältnisse in Kloster und Kir-
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che hin verzettelt – wenn ich mich recht erinnere: noch
alles von Hand – und habe mehr oder weniger ausführliche Informationen zu verschiedenen Örtlichkeiten in
der Kirche und im Kloster gefunden.6 Ich werde mich hier
auf einige Lokalitäten in der Kirche beschränken, denn
die Klosteranlage war Ende des 19. Jahrhunderts abgeris-
5
6
7
Akten des Jetzerprozesses 1904.
Descœudres/Utz Tremp 1993, 143–160.
Descœudres/Utz Tremp 1993, 91ff.
14.11.2009 14:55:09 Uhr
Die bernischen Dominikaner und die totgeborenen Kinder von Oberbüren
sen worden, um dem Stadttheater Platz zu machen,7 und
es fehlten – und fehlen – deshalb die Argumente von Seiten der Archäologie.
Dagegen erwies sich eine gewisse Zone in der Kirche
sowohl als Brennpunkt der archäologischen Ausgrabungen
wie auch als Brennpunkt des Jetzerhandels, nämlich der
Bereich, wo Chor und Lettner aufeinandertreffen (Abb. 1).
Georges Descoeudres hatte schon damals, an jenem Nachmittag, als er mir die Ausgrabungen zeigte, den Eindruck
geäussert, dass es nördlich und südlich des Chors noch je
eine Kapelle gegeben habe und dass man von der nördlichen Kapelle auch auf den Lettner gelangen konnte.
Aufgrund der Akten des Jetzerprozesses ist es dann gelungen, diese Vermutung zu erhärten bzw. die beiden Räume
als Johannes- und Marienkapelle zu identifizieren, von
denen vor allem die Marienkapelle im Jetzerhandel eine
grosse Rolle spielte. Aber auch die Johanneskapelle ist in
diesem Zusammenhang recht gut belegt, denn sie war für
die Laienbrüder bestimmt, zu denen auch Hans Jetzer
gehörte. Bei einer Erscheinung einer gekrönten Maria auf
dem Lettner wird deutlich, dass von der Johanneskapelle
tatsächlich eine Treppe auf den Lettner hinaufführte. Vom
Lettner aus hatte man andererseits freie Einsicht sowohl in
die Marien- als auch in die Johanneskapelle.8
In der Marienkapelle stand damals eine Pietà, die
über und über mit Kleinodien behängt war und die bei
den Leuten in besonderer Verehrung stand. An einem
entscheidenden Punkt im Jetzerhandel fing diese Pietà an,
blutige Tränen zu vergiessen und sich bei ihrem Sohn zu
beklagen, dass man ihm das Privileg der unbefleckten Empfängnis wegnehme und ihr zuteile. Auf dieses «Wunder»
hin wurden vier Berner Ratsherren, darunter der Schultheiss Rudolf von Erlach und der Altschultheiss Wilhelm
von Diesbach, morgens um fünf aus dem Bett geholt und
auf den Lettner der Dominikanerkirche geführt, «weil man
von dort aus gegen Osten sowohl in die Marienkapelle
rechts als auch in die Johanneskapelle links des Chores
hinuntersehen konnte».9 Demnach ist die Marienkapelle
als eigentliches südliches Gegenstück zur Johanneskapelle
nördlich des Chores zu sehen. Die ältere Forschung hatte
sie freilich immer westlich des Lettners in der Aussenwand
des rechten Seitenschiffes situiert, aber dort stand sie ganz
offensichtlich nicht. Es ist indessen anzunehmen, dass
die Marienkapelle, gerade weil sich in ihr ein wichtiger
Teil der unrühmlichen Jetzergeschichte zugetragen hatte,
nach der Reformation rasch abgebrochen wurde, gewissermassen als Damnatio memoriae, und entsprechend schnell
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hat sich denn die Erinnerung an die genaue Situierung
der Kapelle auch verloren.10 Erst in der Abstimmung von
archäologischen und historischen Befunden ist es gelungen, die beiden Kapellen nördlich und südlich des Chors
wieder ihren ursprünglichen Bestimmungen zuzuführen,
und ganz kürzlich hat Charlotte Gutscher-Schmid freundlicherweise auch noch den äusserst gut überlieferten
Johannesalter der Berner Nelkenmeister, «das grösste und
vollständigste Altarwerk der bernischen Spätgotik», in die
von uns «entdeckte» Johanneskapelle der Berner Dominikanerkirche «gestellt».11
II. Die totgeborenen Kinder von Oberbüren
Auch für das vorreformatorische Marienheiligtum in Oberbüren, das in den Jahren 1993–2003 ausgegraben wurde,
fliessen sowohl die schriftlichen als auch die archäologischen Quellen reichlich, nur ist das für Oberbüren vielleicht (noch) weniger selbstverständlich als für das Berner
Dominikanerkloster. Beim Marienheiligtum in Oberbüren
handelte es sich um ein sog. «sanctuaire à répit», ein Begriff,
der sich fast nicht ins Deutsche übersetzen lässt, es sei denn
mit «Aufschubs-Heiligtum». «Aufschub» oder eben frz.
«répit», meint, dass hier ein Aufschub erwirkt wurde, und
zwar für totgeborene Kinder, die für einen Augenblick zum
Leben erweckt wurden, nicht, um weiterzuleben, sondern
um getauft zu werden und auf diese Weise in den Himmel
gelangen zu können. Die Alternative zu Taufe und Himmel war seit dem Hochmittelalter der sog. Limbus puerorum,
der im Hochmittelalter für die ungetauft verstorbnen Kinder geschaffen wurde, in Analogie zum Limbus patrum für
die Gerechten des Alten Testaments, die noch nicht hatten getauft werden können, weil es die Taufe zu ihrer Zeit
noch gar nicht gab. Der Limbus puerorum ist erst kürzlich
von Papst Benedikt XVI. abgeschafft worden, aber die im
Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit über ganz Europa verstreuten «sanctuaires à répit» beweisen eigentlich mit
der nötigen Deutlichkeit, dass er von den trauernden Müttern und Vätern für ihre totgeborenen Kinder lange nicht
akzeptiert und rezipiert worden war.12
Die «sanctuaires à répit» sind vor allem ein Phänomen der frühen Neuzeit, und das heisst auch der katholischen Reform, aber ihre Anfänge reichen ins Spätmittel-
8
9
10
11
12
Descœudres/Utz Tremp 1993, 154.
Descœudres/Utz Tremp 1993, 155.
Descœudres/Utz Tremp 1993, 59f., 137, 154f.
Gutscher-Schmid 2007, 69.
Hier und im folgenden nach Gélis 2006 und Utz Tremp Ms.
14.11.2009 14:55:09 Uhr
218
Die bernischen Dominikaner und die totgeborenen Kinder von Oberbüren
Abb. 2 Karte des Bistums Lausanne im Jahr 1228 mit den Dekanaten, Pfarrkirchen und und Klöstern. Hervorgehoben mit schwarzen Punkten die
«sanctuaires à répit», mit Stern die Lage von Oberbüren nach Utz Tremp.
alter zurück, als die ersten von ihnen in Frankreich auftauchten, und zwar alle östlich einer Linie, die sich von
der Seine bis zum Languedoc zieht, in grosser Dichte in
Lothringen, im Elsass, in der Freigrafschaft und vor allem
in Burgund, mit abnehmender Dichte in der Champagne,
im Bourbonnais, in der Auvergne und in der Provence.13 Zu
diesem «Gürtel» gehört auch die nachmalige Westschweiz,
und es ist deshalb nicht erstaunlich, dass es auch hier bereits
im Spätmittelalter «sanctuaires à répit» gegeben hat
– an der Kathedrale von Lausanne (??)
– an der Kollegiatkirche von Neuenburg
– bei den Augustinereremiten in Genf
– an der Pfarrkirche von Freiburg (??)
– an der Kapelle von Dürrenberg (Pfarrei Gurmels)
– an der Kapelle von Notre-Dame de Tours (Pfarrei Montagny) und
– an der St. Pankrazkapelle in Châtillens
Aus dieser Aufzählung geht hervor, dass die «sanctuaires à
répit» sich zunächst gewissermassen an den «Hauptorten»
der Diözesen Lausanne und Genf befanden und dann,
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aber noch im Spätmittelalter, aufs Land verlegt wurden.
Alle diese westschweizerischen «sanctuaires à répit» haben
sehr wenige schriftliche Quellen hervorgebracht und sind
auch noch nicht archäologisch erforscht worden, mit Ausnahme von Dürrenbühl, wo man bei archäologischen
Grabungen 1982–1985 im vorbarocken Kirchenschiff 117
Säuglingsskelette gefunden hat, die indessen nicht anthropologisch untersucht worden sind. Was die schriftlichen
Quellen betrifft, so sind die meisten dieser westschweizerischen «sanctuaires à répit» nur aus der Polemik durch die
Reformatoren bekannt, die den «Aufschubswundern» nur
mit dem allergrössten Unverständnis begegneten.
Ganz anders das Marienheiligtum von Oberbüren, für das wir für den Zeitraum von 1185 bis 1749/1765
rund 155 Quellenstücke gefunden und zusammengetragen
haben, oder für den engeren Zeitraum von 1470 bis 1550
147 Quellenstücke.14 Diese Quellenflut lässt sich eigentlich
13
14
Gélis 2006, 271f.
Utz Tremp Ms., Anhang: Quellen und Quellenregesten.
14.11.2009 14:55:10 Uhr
Die bernischen Dominikaner und die totgeborenen Kinder von Oberbüren
nur dadurch erklären, dass der Rat der Stadt Bern fast von
allem Anfang an lebhaften Anteil an dem Marienheiligtum
nahm und die weltliche Aufsicht darüber der Stadt Büren
und das Patronatsrecht der Benediktinerabtei St. Johannsen
bei Erlach zu entwinden versuchte (1482–1495), was doch
einige Tinte fliessen liess. Es ist anzunehmen, dass die Stadt
Bern ein eigenes «sanctuaire à répit» haben wollte, wie die
Städte Lausanne(?), Neuenburg und Freiburg(?) sie auch
hatten, wenn auch nicht innerhalb der eigenen Stadtmauern, so doch in einiger Nähe. Der bernische Rat förderte
das Heiligtum und die Wallfahrt dahin so ungestüm, dass
er bereits in den 1480er Jahren in Gegensatz zum Bischof
von Konstanz, Otto von Sonnenberg (oder von Waldburg)
(1474/1480–1491), geriet. Denn – und das war der Haken
an der ganzen Sache –: Oberbüren lag in der Diözese Konstanz und nicht, wie die Stadt Bern selber, in der Diözese
Lausanne (Abb. 2).
In der Diözese Konstanz gab es damals, im Unterschied
zur Diözese Lausanne, noch kein einziges «sanctuaire
à répit», und der Bischof von Konstanz nahm heftigen
Anstoss an den Dingen, die sich in Oberbüren zutrugen
und die vom bernischen Rat hemmungslos gefördert
wurden. Der Bischof versuchte zunächst, Ende 1485/
Anfang 1486, eine Untersuchung einzuleiten, wozu er als
Ordinarius absolut das Recht hatte, aber der bernische
Rat fiel ihm in den Arm und führte eine eigene Untersuchung durch, die natürlich – wen wunderts? – in seinem eigenen Sinn ausfiel. Dem Bischof blieb schliesslich
nichts anderes übrig, als sich im März oder April 1486 an
den Papst zu wenden und ihn in einer Supplik zu bitten,
die Missstände in Oberbüren abzustellen. Diese Supplik
ist überliefert, und kann wohl als das wichtigste Stück in
der schriftlichen Überlieferung zum Marienheiligtum in
Oberbüren überhaupt gelten.15
Der Bischof von Konstanz brachte dem Papst zur
Kenntnis, «dass sich in der Pfarrkirche der heiligen Jungfrau in der Stadt Büren, der Konstanzer Diözese, die unter
der weltlichen Herrschaft des Schultheissen, der Räte und
der Gemeinde von Bern steht, ein Bild der heiligen Jungfrau befindet, unter welchem die Christgläubigen beiderlei Geschlechts und besonders die Ungebildeten unter
dem Scheine der Frömmigkeit die Frühgeburten und die
verstorbenen Kinder, sogar bisweilen solche, welche noch
nicht ausgebildete Glieder haben, sondern nur Klumpen
bilden, sowohl aus der Konstanzer Diözese als auch aus
den umliegenden Bistümern in grosser Zahl bringen. Sie
glauben, diese Kinder und Frühgeburten, deren einige
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219
Abb. 3 Körperlängenverteilung der totgeborenen Kinder von Oberbüren. Unter den bisher ausgewerteten Kinderskeletten bilden die
Kinder mit einer Körperlänge zwischen 45 und 55 cm die Mehrheit.
Nur wenige hatten eine grössere Körperlänge (bis maximal 57 cm). Die
restlichen Kinder sind Frühgeburten.
Abb. 4 Skelettreste eines der kleinsten Frühgeborenen von Oberbüren
im Vergleich mit einem etwa 50 cm grossen Kind.
15
Bittschrift 1909.
14.11.2009 14:55:11 Uhr
220
offenbar noch kein Leben im Mutterleibe empfangen
haben, würden dort auf wunderbare Weise vom Tode
zum Leben erweckt, und zwar auf folgende Art: Gewisse
von den weltlichen Behörden dazu bestimmte Frauen
erwärmen die todten Kinder zwischen glühenden Kohlen
und ringsum hingestellten brennenden Kerzen und Lichtern. Dem warm gewordenen Kinde oder der Frühgeburt
wird eine ganz leichte Feder über die Lippen gelegt, und
wenn die Feder zufällig durch die Luft oder die Wärme
der Kohlen von den Lippen weg bewegt wird, so erklären die Weiber, die Kinder und Frühgeburten atmeten
und lebten, und sofort lassen sie dieselben taufen unter
Glockengeläute und Lobgesängen. Die Körper der angeblich lebendig gewordenen und sofort wieder verstorbenen Kinder lassen sie dann kirchlich beerdigen zum
Hohne des orthodoxen christlichen Glaubens und der
kirchlichen Sacramente. Und obgleich Euer Diener sich
bemüht, diesen Aberglauben, soviel es in seiner Macht
ist, auszureuten und solche Weiber, deren in der letzten
Zeit mehr als 2000 todte Kinder in jene Kapelle gebracht
haben, mit kirchlichen Strafen zu belegen, so verachten
doch Schultheiss, Räte und Gemeinde von Bern und
deren Verbündete diese Ermahnung und die Strafen und
lassen diesen Aberglauben geschehen und begünstigen
ihn sogar».
Wir können hier leider nicht mehr im Einzelnen
auf diesen Text eingehen, sondern lediglich hervorheben,
wie sehr er mit den archäologischen Funden übereinstimmt. Der Bischof spricht von «Frühgeburten und verstorbenen Kindern, sogar bisweilen solchen, welche noch
nicht ausgebildete Glieder haben, sondern nur Klumpen
bilden», und man hat denn auch in Oberbüren rund 250
Kinderskelette und -skelettchen gefunden, nicht nur von
Neugeborenen von 45–60 cm, sondern auch von Frühgeburten von 15–44 cm, die offenbar ebenfalls in den
Genuss der Taufe kommen sollten (Abb. 3 und 4)!
Man hat in Oberbüren aber nicht nur Kinderskelette
ausgegegraben, sondern eine ganze Wallfahrtsanlage mit
Wallfahrtsterrasse um die Kirche, die an die zeitgenössischen Plattformen der Kirchhöfe von Bern und Biel
erinnert (Abb. 5)!
Diese Wallfahrtsanlage entsprach wahrscheinlich etwa
dem Stand von 1518, als in Oberbüren zu zwei bestehenden Kaplaneien noch zwei weitere gegründet wurden und
für die insgesamt vier Inhaber vielleicht ein neues Kaplanenhaus gebaut wurde (Nr. 7). Obwohl das wundertätige
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Die bernischen Dominikaner und die totgeborenen Kinder von Oberbüren
Marienbild bereits 1528, kurz nach der Einführung der
Reformation in Bern, verbrannt worden war, wurde die
Anlage nachweisbar noch bis 1534 von Wallfahrern aus
katholisch gebliebenen Gebieten besucht, so dass der Rat
die Kirche und vor allem die Terrasse richtiggehend abtragen lassen musste. Das war nur möglich, weil Oberbüren
insofern bereits ein nachreformatorisches «sanctuaire à
répit» war, als es auf dem Land lag und man es, anders
als dies in der Stadt möglich gewesen wäre, vom Erdboden verschwinden lassen konnte. Dies hat weiter dazu
geführt, dass es nach rund 450 Jahren wieder ausgegraben
und die grossartige Anlage rekonstruiert werden konnte.
Die Grabungsbefunde bestätigen aufs Beste die schriftlichen Befunde, und Oberbüren darf sowohl aufgrund
der schriftlichen als auch der archäologischen Quellenlage als eines der am besten dokumentierten «sanctuaires à
répit» überhaupt gelten.16
Schluss
Was wir hier sowohl im Fall der Berner Dominikanerkirche als auch des «sanctuaire à répit» von Oberbüren
«gefeiert» haben, ist eine ausserordentlich gute Quellenlage sowohl auf Seiten der Geschichte als auch der Archäologie. Dies ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass
es sich in den beiden hier vorgestellten Fällen um recht
prominente Objekte handelt: die Dominikanerkirche in
Bern und das Wallfahrtsheiligtum in Oberbüren. Doch
muss sogleich eingeschränkt werden, dass gerade vom
letzten bis zu den Grabungen von 1993–2003 gar nichts
Sichtbares übriggeblieben war, nicht einmal, wie bei den
«sanctuaires à répit» der Westschweiz, eine Kirche, sei
es nun eine Kathedrale oder eine einfache Dorfkapelle.
Dagegen gab es etwas historische Literatur: zwei Aufsätze von Paul Hofer, einem Hobbyhistoriker von Anfang
des 20. Jahrhunderts, der dem Phänomen der «sanctuaires à répit» recht hilflos gegenüberstand,17 und einem
wichtigen Aufsatz von Oskar Vasella, der als katholischer Kirchenhistoriker hier erst das nötige Verständnis
geschaffen hat.18
Diese Arbeiten haben immerhin bewirkt, dass die
Verantwortlichen des Archäologischen Dienst des Kan-
16
17
18
Gelungen ist im Fall von Oberbüren auch die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit der Theologie, siehe Pahud de Mortanges Ms.
Hofer 1904 und 1908.
Vasella 1966. Die anthropologische «Wissenschaft» von den «sanctuaires à
répit» ist erst relativ jung; sie löste erst Anfang des 20. Jahrhunderts die Volkskunde ab, und zwar mit Saintyves 1911, zitiert bei Gélis 2006, 8 Anm. 1.
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Die bernischen Dominikaner und die totgeborenen Kinder von Oberbüren
221
Abb. 5 1 Toranlage; 2 Wallfahrtshof mit Umfriedung (19); 3 Feldaltar; 4 Opferstock oder Weihwasserbehälter; 5 Haus (Empfang?); 6 Wallfahrtskanzel verbunden über einen Steg mit dem 7 Kaplanenhaus (zwei Wohnungen je mit Korridor 8, Stube 9 und Kammer 10); 11 nicht bekannt (Treppenhaus?); 12 Beinhaus; 13 künstliche Terrasse um die Kirche herum; 15 Brunnenanlage; 16 Kirchweg; 17 Kirche mit 17.1 Eingangsturm, 17.2 Schiff,
17.3 Chor, 17.4 Altar, 17.5. älterem Glockenturm; 18 Sakristei (Ort zum Aufwärmen der Totgeborenen?); 19 Umfriedung; schwarze StecknadelSymbole: Bestattungsareale von Totgeburten.
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14.11.2009 14:55:12 Uhr
222
tons Bern, der 1993 in Oberbüren eine Notgrabung durchführen musste, nicht ganz unvorbereitet waren oder sich
zumindest rasch orientieren konnten, wenn auch niemand
auf eine Wallfahrtsstätte von solchen Ausmassen, wie sie
dann zutage kam, gefasst gewesen war. Ausserdem kannte
man – oder stiess doch über Vasella recht rasch auf – die
Bittschrift des Bischofs von Konstanz, die Heinrich Türler
1909 in deutscher Übersetzung herausgegeben hatte (ohne
sich allerdings auf die damals bereits erschienenen Aufsätze von Paul Hofer zu beziehen).19 Kurz: Es lag etwas in
der Luft, was man nicht so genau wusste, was man dann
aber rasch mit den reichen und vielfältigen Bodenfunden,
die man in Oberbüren machte, in Verbindung brachte. Auf
dieser Ausgangslage liessen sich dann auch die Funde an
schriftlichen Quellen wieder vermehren, bis zu den rund
150 Quellenstücken, von denen schon die Rede war.
Nun wäre es aber ein Irrtum, zu glauben, dass mit
der Zunahme der schriftlichen Quellen unsere Kenntnis
darüber, was in Oberbüren geschah oder gespielt wurde,
zugenommen hätte; es lässt sich vielmehr eine Tendenz zur
Verschleierung und Tabuisierung beobachten, die nach der
Auseinandersetzung zwischen dem Rat von Bern und dem
Bischof von Konstanz 1486 noch zunahm. Da ist zwar viel
von einer äusserst wundertätigen Mutter Gottes die Rede,
aber was genau diese bewirkte, wird hartnäckig verschwiegen.20 In dieser Situation wirkt die Bittschrift des Bischofs
von Konstanz wie ein Tabubruch oder ein Donnerschlag,
aber nur auf die nachgeborenen Historiker, denn es ist keineswegs klar, ob sie überhaupt je zur Ausfertigung und an
ihren Adressaten, den Papst, gelangte. Zur Zeit ihrer Entstehung war sie jedenfalls keineswegs allgemein bekannt, und
die nachgeborenen Historiker verstehen sie ja eigentlich
auch nur auf dem Hintergrund der archäologischen Funde
von Oberbüren; sonst würde man nämlich meinen, der
Bischof habe Gespenster gesehen! Dies erklärt sich nicht
zuletzt daraus, dass er – im Unterschied zu seinen Kollegen
in Lausanne und Genf – nicht wusste, was ein «sanctuaire
Die bernischen Dominikaner und die totgeborenen Kinder von Oberbüren
à répit» war, denn Oberbüren war ja das erste Heiligtum
dieser Art in seiner Diözese. Er war zwar zutiefst schockiert, versuchte aber doch, dem Phänomen einigermassen
gerecht zu werden oder es zumindest zu beschreiben, so
dass seine Bittschrift an den Papst doch ein ganz wichtiges
Dokument in der allgemeinen Geschichte der «sanctuaires à répit» überhaupt ist.21 Anders die reformatorischen
Polemiker der Westschweiz, die nur wenig später für die
westschweizerischen «Aufschubsheiligtümer» nur Unverständnis in der Form von Hohn und Spott übrig hatten.
Dagegen scheinen die Wallfahrer, welche die «sanctuaires à
répit» aufsuchten, sehr wohl gewusst zu haben, was sie dort
suchten und manchmal auch fanden, sonst wären sie wohl
nicht, wie vom Bischof von Konstanz im Fall von Oberbüren beklagt, in so grosser Zahl dahin geströmt.22 Sie haben
es indessen nicht aufgeschrieben, wohl aber ihre totgeborenen und vielleicht doch getauften Kinder dort zurückgelassen, so dass man die gefundenen Kinderskelette als Spuren
und Überreste der Wallfahrt interpretieren kann.
Der langen Rede kurzer Sinn: Die schriftlichen
und archäologischen Quellen müssen komplementär,
ineinander verzahnt gelesen und dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Man kann nicht für jede Einzelheit sowohl schriftliche als auch archäologische Quellen
haben wollen, um die einen durch die andern bestätigen
zu lassen; dafür fliessen sowohl die schriftlichen als auch
die archäologischen Quellen zu spärlich, selbst in einem so
reich dokumentierten Fall wie Oberbüren. So hat es keinen
Sinn, an den Bodenfunden von Oberbüren zu zweifeln,
nur weil die geringe Zahl von 250 bei den Grabungen von
1993–2003 gefundenen Kinderskeletten und -skelettchen
nicht der vom Bischof von Konstanz genannten Zahl von
2000 (bis 1486!) entspricht.23 Die «Alternative» zu Oberbüren sind die westschweizerischen «sanctuaires à répit»,
für die es, zumindest vorläufig, abgesehen von der reformatorischen Polemik kaum schriftliche und noch weniger
archäologische Quellen gibt.
19
20
21
22
23
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Bittschrift 1909.
Utz Tremp Ms., Anhang: Quellen und Quellenregesten.
Gélis 2006, passim.
Hofer 1908; Pahud de Mortanges Ms.
Gutscher/Utz Tremp/Ulrich-Bochsler 1999, 388.
14.11.2009 14:55:12 Uhr
Die bernischen Dominikaner und die totgeborenen Kinder von Oberbüren
223
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Abbildungsnachweis
1 Descœudres/Utz Tremp 1993, 102 Abb. 119
2 Historischer Atlas der Schweiz, 14, mit Ergänzungen von Kathrin Utz Tremp
(Ausführung von Andreas Zwahlen, Archäologischer Dienst des Kantons Bern).
3 Gutscher/Ulrich-Bochsler/Utz Tremp 1999, 390 Abb. 281
4 Gutscher/Ulrich-Bochsler/Utz Tremp 1999, Abb. 282
5 Gutscher/Ulrich-Bochsler/Utz Tremp, 383 Abb. 276
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Autorenverzeichnis
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Autorenverzeichnis
Armand Baeriswyl, Dr. phil., Archäologe des Mittelalters und
Historiker. Geb. 1962. 1983–1993 Studium der Geschichte,
Kunstgeschichte, Archäologie und Bauforschung des Mittelalters an der Universität Zürich. 2001 Promotion mit einer
interdisziplinären Arbeit über den mittelalterlichen Städtebau
am Beispiel von Zähringerstädten. 1988–1992 Projektleiter
beim Amt für Archäologie des Kantons Thurgau. 1994–2006
wissenschaftlicher Mitarbeiter und stellvertretender Abteilungsleiter beim Archäologischen Dienst des Kantons Bern.
Seit 2007 Leiter der Stadt-, Burgen- und Kirchenarchäologie im
Kanton Bern. Dozent für Archäologie des Mittelalters an den
Universitäten Basel, Bern und Heidelberg sowie an der Berner
Fachhochschule für Architektur, Holz und Bau in Burgdorf.
Vorstandsmitglied im Schweizerischen Arbeitskreis für Stadtgeschichte und im Schweizerischen Burgenverein.
Auswahlbibliografie: Stadt, Vorstadt und Stadterweiterung
im Mittelalter. Archäologische und historische Studien zum
Wachstum der drei Zähringerstädte Burgdorf, Bern und Freiburg im Breisgau (Schweizer Beiträge zur Kulturgeschichte
und Archäologie des Mittelalters 30), Basel 2003. – Innovation
und Mobilität im Spiegel der materiellen Kultur. Archäologische Funde und historische Fragestellung, in: Rainer Christoph Schwinges/Christian Hesse/Peter Moraw (Hg.), Europa
im Spätmittelalter. Politik – Gesellschaft – Kultur (Historische
Zeitschrift, Beiheft 40), München 2006, 511–537. – Die Topografie des städtischen Marktes im Mittelalter und der Frühen
Neuzeit am Beispiel süddeutscher und schweizerischer Städte, in: Markt und Handwerk. 9. Treffen des Arbeitskreises
zur archäologischen Erforschung des mittelalterlichen Handwerks. Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters 34 (2006),
231–248. – Zum Verhältnis von Stadt und Burg im Südwesten
des Alten Reiches. Überlegungen und Thesen an Beispielen aus
der Schweiz, in: Wartburg-Gesellschaft zur Erforschung von
Burgen und Schlössern (Hg.), Burg und Stadt (Forschungen
zu Burgen und Schlössern 11), München 2008, 21–36. – Sodbrunnen – Stadtbach – Gewerbekanal. Wasserversorgung und
-entsorgung in der Stadt des Mittelalters und der Frühen Neuzeit am Beispiel von Bern. In: Dorothee Rippmann, Wolfgang
Schmid und Katharina Simon-Murscheid (Hg.) … zum allgemeinen statt nutzen – Brunnen in der europäischen Stadtgeschichte, Trier 2008, 55–68.
Adresse: Archäologischer Dienst des Kantons Bern, Brünnenstrasse 66, Postfach 5233, CH-3001 Bern. armand.baeriswyl@
erz.be.ch.
Adriano Boschetti-Maradi, Dr. phil., Archäologe des Mittelalters. Geb. 1972. 1992–2000 Studium der Ur- und Frühgeschichte, Mittelalterlichen Archäologie und Mittelalterlichen
Geschichte an den Universitäten Bern und Zürich. 2004 Promotion an der Universität Zürich. 2000–2004 Projektleiter
beim Archäologischen Dienst des Kantons Bern. Seit 2004
Leiter des Fachbereichs Mittelalter- und Neuzeitarchäologie
am Amt für Denkmalpflege und Archäologie des Kantons Zug.
Buch SKAM 36.indd 225
Lehraufträge an den Universitäten Zürich und Bern. 2008 technical evaluation mission für ICOMOS International im Rahmen der UNESCO-Welterbe-Nominationen 2009.
Auswahlbibliografie: Das Städtchen Wiedlisbach. Bericht
über die archäologische Untersuchungen bis ins Jahr 2000
(Schriftenreihe der Erziehungsdirektion des Kantons Bern),
Bern 2004 (zus. m. Martin Portmann). – Die Zuger Stadterweiterung von 1478. Eine städtebauliche Leistung der Renaissance,
in: Georges-Bloch-Jahrbuch des Kunsthistorischen Instituts
der Universität Zürich 11/12 (2004/05), 60–75. – Eginoturm
und Wirtschaftsbauten im Oberen Garten, in: Hans Rudolf
Sennhauser (Hg.), Müstair Kloster St. Johann 3 (Veröffentlichungen des Instituts für Denkmalpflege an der ETH Zürich
16.3), Zürich 2005, 9–119. – Eine romanische Schlagglocke,
ebenda, 123–142. – Gefässkeramik und Hafnerei in der Frühen Neuzeit im Kanton Bern (Schriften des Bernischen Historischen Museums 8), Bern 2006. – Ein vorgefertigter Blockbau
der Zeit um 1500? Das bemalte Haus Hauptstrasse 6 in Menzingen ZG, in: Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und
Kunstgeschichte 63 (2006), 123–140 (zus. m. Heini Remy). –
Der Bohlen-Ständerbau von 1355 auf der Burg Zug, in: Mittelalter – Moyen Age – Medioevo – Temp medieval, Zeitschrift
des Schweizerischen Burgenvereins 11 (2006), 173–188 (zus. m.
Toni Hofmann). – Geschirr für Stadt und Land. Berner Töpferei seit dem 16. Jahrhundert, Bern 2007 (Glanzlichter aus dem
Bernischen Historischen Museum 19). – Bauforschung und
Archäologie in der Schweiz, in: Jahr¬buch der Archäologie
Schweiz 90 (2007), 103–115. – Der Ausbau der Zuger Stadtbefestigung unter habsburgischer Herrschaft, in: Tugium 23
(2007), 105–136 (zus. m. Toni Hofmann und Peter Holzer). –
Archäologie einer mehrfach restaurierten Burg. Zum Abschluss
der archäologischen Untersuchung und der Restaurierung der
Burgruine Hünenberg, in: Tugium 25 (2009), 163–184 (zus. m.
Gabriela Güntert, Lukas Högl und Gabi Meier).
Adresse: Kantonsarchäologie Zug, Hofstrasse 15, CH-6300 Zug.
adriano.boschetti@zg.ch.
Gilles Bourgarel, Eidg. dipl., archäologischer Grabungstechniker. Geb. 1958. 1978–1990 Studium der Prähistorischen Archäologie und der Kunstgeschichte in Genf und Lausanne. 1986
Diplom. Seit 1981 Beschäftigung beim Archäologischen Dienst
des Kantons Freiburg. Seit 1984 Grabungsleitungen, seit 1989
Leiter der Abteilung Mittelalter. Mitglied der Prüfungskommission Archäologischer Grabungstechniker mit eidg. Fachausweis.
Vorstandsmitglied in der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft
für Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit.
Auswahlbibliografie: Le Canton de Fribourg, in: B. Sigel (réd.),
Stadt- und Landmauern 2, Zürich 1996, 101–126. – La Maigrauge, un couvent de cisterciennes revisité par les archéologues, in: Cahiers d’archéologie fribourgeoise 2 (2000), 2–17. –
Estavayer-le-Lac, La maison des Sires d’Estavayer, impasse de la
Motte-Châtel 8, in: Bulletin Monumental 159 (2001), 175–179.
– Les coseigneurs d’Estavayer-le-Lac et leurs demeures au XVe
14.11.2009 14:55:12 Uhr
226
siècle. De la maison bourgeoise au château, in: A>Z. Balade
archéologique en terre fribourgeoise. Catalogue accompagnant
l’exposition, Fribourg 2005, 58–69 – L’ancien logis abbatial de
la Maigrauge. Un précieux témoin des origines du monastère,
in: Cahiers d’archéologie fribourgeoise 7 (2005), 164-179. –
Gruyères: du mythe à la réalité, in: La vallée de la Sarine au fil
du temps, in: AS 30 (2007), cahier 2, 61–70. – Fouilles archéologiques; La production – Les formes; Répertoire des formes,
in: M. Maggetti (dir.), La faïence de Fribourg (1753–1844),
Dijon 2007, 68-81, 126–157, 200–231.
Adresse: Service Archéologique de l’Etat de Fribourg, Planche
supérieure 13, CH-1700 Fribourg. bourgarelg@fr.ch.
Geoff Carver, M.A. Geb. 1962. 1983–2008 Studium der
Archäologie und GIS in Calgary (Kanada), Frankfurt/Oder und
Buffalo (USA). Seit 1985 Mitarbeiter, Grabungstechniker und
wissenschaftlicher Leiter bei verschiedenen archäologischen
Ausgrabungen in Kanada, Holland, Frankreich, England,
Deutschland und den USA. 2001–2004 Teaching Assistant an
den Departments of Anthropology and General Studies, State
University of New York at Buffalo. 2005–2009 Arbeit als CAD/
GIS technician. 2004–2005 Forschungsstipendium des Deutschen Akademischen Austausch-Diensts (DAAD). 2007 Stipendium für Computer Applications in Archaeology (CAA).
Auswahlbibliografie: Archaeological Fieldwork. In: Encyclopædia of Life Support Systems; EOLSS/UNESCO, Oxford 2004.
– Digital Digits: The Human Factor in Archaeological Documentation (Session proceedings from Kulturelles Erbe und
Neue Technologien/Cultural Heritage and New Technologies)
Vienna 2005. – Archaeological Information Systems (AIS):
Adapting GIS to archaeological contexts (Session proceedings
from Kulturelles Erbe und Neue Technologien/Cultural Heritage and New Technologies), Vienna 2007. – Much Ado about
Nothing: the Debate over Commercial Archaeology in Germany. In: Jeffrey A. Chartrand (Ed.), Contract Archaeology: its
Strengths, Weaknesses and Spread (Session Proceedings from
EAA99) Bournemouth (in Vorbereitung).
Adresse: Broicher Strasse 39 B, D-51429 Bensberg. gjcarver@tonline.de.
Georges Descœudres, Prof. Dr., Archäologe des Mittelalters und Kunsthistoriker. Geb. 1946. 1970–1981 Studium der
Geschichte, Kunstgeschichte und Kirchengeschichte sowie der
Klassischen, Frühchristlichen und Mittelalterlichen Archäologie an der Universität Zürich. 1981 Promotion mit einer interdisziplinären Arbeit im Bereich der Architektur- und Liturgiegeschichte. 1995 Habilitation an der Universität Basel. 1982–
1997 wissenschaftliche Mitarbeit beim Atelier d’archéologie
médiévale, Moudon, daneben Lehrtätigkeit am Departement
Architektur der ETH Zürich. 1996–1997 Professeur associé für
frühchristliche Archäologie an der Universität Fribourg. Seit
1997 Lehrstuhl für Kunstgeschichte und Archäologie des Mittelalters am Kunsthistorischen Institut der Universität Zürich.
Auswahlbibliografie: Von fahrenden Häusern und wandernden
Siedlungen, in: Georges-Bloch-Jahrbuch 9/10 (2002/03), 7–25.
– Choranlagen von Bettelordenskirchen. Tradition und Innovation, in: Anna Moraht-Fromm (Hg.), Kunst und Liturgie, Choranlagen des Spätmittelalters. Ihre Architektur, Ausstattung und
Nutzung, Ostfildern 2003, 11–30. – Die Richtstätte der Thebä-
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Autorenverzeichnis
ischen Legion als sekundärer Kultplatz, in: Mauritius und die
Thebäische Legion / Saint-Maurice et la Légion thébaine. Actes
du colloque 2003 (Paradosis 49), Fribourg 2005, 343–358. –
Herrenhäuser aus Holz. Eine mittelalterliche Wohnbaugruppe
in der Innerschweiz (Schweizer Beiträge zur Kulturgeschichte
und Archäologie des Mittelalters 34), Basel 2007.
Adresse: Kunsthistorisches Institut der Universität Zürich, Lehrstuhl für Kunstgeschichte des Mittelalters, frühchristliche und
mittelalterliche Archäologie, Rämistrasse 73, CH-8006 Zürich.
descoeu@khist.uzh.ch.
Lotti Frascoli, M.A., lic.phil., Archäologin. Geb. 1959. Bis
1983 Studium der Ur- und Frühgeschichte, Mittelaltergeschichte, Geophysik und Ethnologie an den Universitäten Oxford
(Wolfson College) und Zürich. 1983 Master of Philosophy,
1988 Lizentiat. 1988–2005 Projektleiterin Bereich Mittelalter
und Neuzeit bei der Kantonsarchäologie Zürich. Seit 1999 wissenschaftliche Mitarbeit beim Büro für Archäologie, Amt für
Siedlungsplanung und Städtebau der Stadt Zürich. Seit 2001
Lehrauftrag am Kunsthistorischen Institut, Universität Zürich.
Seit 2006 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Mittelalterarchäologie am Kunsthistorischen Institut der Universität
Zürich.
Auswahlbibliografie: Der Keltenwall von Rheinau, Kt. Zürich –
Die Grabung von 1989, in: Jahrbuch der Gesellschaft für Urund Frühgeschichte 74 (1991), 7–42. – Handwerker- und Kaufmannshaushalte im frühneuzeitlichen Winterthur (Monografie
der Kantonsarchäologie Zürich 29) Zürich, Egg 1997. – Keramikentwicklung im Gebiet der Stadt Winterthur vom 14.–20.
Jahrhundert: ein erster Überblick, in: Archäologie im Kanton
Zürich 2000–2001 (Berichte der Kantonsarchäologie Zürich
17), 127–218. – Brennofen Augustinergasse 46 in Zürich CH,
in: Andreas Heege (Hg.), Töpferöfen – Pottery Kilns – Fours de
Potiers. Die Erforschung frühmittelalterlicher bis neuzeitlicher
Töpferöfen (6.–20. Jh.) in Belgien, den Niederlanden, Deutschland, Österreich und der Schweiz (Basler Hefte zur Archäologie
4), Basel 2007, 279–289. – Und was macht der Süden? Glas- und
Keramikherstellung und -gebrauch zwischen dem 15. und Ende
19. Jahrhunderts in Winterthur, in: Archäologie der frühen
Neuzeit. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit 18 (2007), 117–122.
Adresse: Kunsthistorisches Institut der Universität Zürich, Lehrstuhl für Kunstgeschichte des Mittelalters, Archäologie der
frühchristlichen, hoch- und spätmittelalterlichen Zeit, Rämistrasse 73, CH- 8006 Zürich. frascoli@khist.uzh.ch.
Sören Frommer, Dr. phil., Archäologe des Mittelalters. Geb.
1970. 1996–2006 Studium der Ur- und Frühgeschichte und
Archäologie des Mittelalters in Tübingen. 2006 Promotion zur
Methodologie einer als Geschichtswissenschaft verstandenen
historischen Archäologie. Seit 2006 wissenschaftlicher Angestellter am Institut für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters in Tübingen. Wesentlich beteiligt an der
Planung und Durchführung der Fachtagung Das 15. und 16.
Jahrhundert: Archäologie einer Wendezeit an der Universität
Tübingen im Februar 2007.
Auswahlbibliografie: Die Glashütte Glaswasen im Schönbuch.
Produktionsprozesse, Infrastruktur und Arbeitsalltag eines
spätmittelalterlichen Betriebs (Tübinger Forschungen zur
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Autorenverzeichnis
historischen Archäologie 1 ), Büchenbach 2004 (zus. m. Aline
Kottmann). – Historische Archäologie. Versuch einer methodologischen Grundlegung der Archäologie als Geschichtswissenschaft (Tübinger Forschungen zur historischen Archäologie
2), Büchenbach 2007. – From Excavation to Publication, in:
James Graham-Campbell/Magdalena Valor (Hg.), The Archaeology of Medieval Europe I. Eighth to Twelfth Centuries AD,
Aarhus 2007, 40–41. – Überlieferungsdichte und Interpretation
im Kontext der Auswertung archäologischer Ausgrabungen, in:
Sören Frommer et al. (Hg.), Zwischen Tradition und Wandel.
Ergebnisse und Fragen einer Archäologie des 15. und 16. Jahrhunderts (Tübinger Forschungen zur historischen Archäologie
3), Büchenbach 2009.
Adresse: Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Institut für Urund Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters, Abteilung für Archäologie des Mittelalters, Schloss Hohentübingen,
72070 Tübingen. soeren.frommer@uni-tuebingen.de.
Roland Gerber, Dr. phil., Historiker. Geb. 1985–1993 Studium
der Geschichte und Architekturgeschichte an der Universität
Bern. 1999 Promotion mit einer Arbeit über die Berner Stadtgesellschaft im Spätmittelalter. 1992–1999 wissenschaftlicher
Mitarbeiter in den Nationalfondsprojekten Neubürger im
späten Mittelalter und Innovationsräume. Seit 2000 wissenschaftlicher Archivar im Staatsarchiv des Kantons Aargau.
Auswahlbibliografie: Öffentliches Bauen im mittelalterlichen
Bern. Verwaltungs- und finanzgeschichtliche Untersuchung
über das Bauherrenamt der Stadt Bern 1300 bis 1550 (Archiv
des Historischen Vereins des Kantons Bern 77), Bern 1994. –
Die Einbürgerungsfrequenzen der Städte Freiburg im Uechtland, Konstanz und Luzern im späten Mittelalter, in: Lenka
Bobkova/Michaela Neudertova (Hg.), Reisen im Leben der
Gesellschaft (Acta Universitatis Purkynianae, Studia Historica
II), Usti nad Labem 1997, 95–104. – Stadt und Vogtei Aarberg
unter bernischer Herrschaft 1358 bis 1528, in: Aarberg. Porträt einer Kleinstadt, Aarberg 1999, 115-145. – Gott ist Burger
zu Bern. Eine spätmittelalterliche Stadtgesellschaft zwischen
Herrschaftsbildung und sozialem Ausgleich (Forschungen zur
mittelalterlichen Geschichte 39), Weimar 2001. – Die Einbürgerungsfrequenzen spätmittelalterlicher Städte im regionalen
Vergleich, in: Rainer C. Schwinges (Hg.), Neubürger im späten
Mittelalter. Migration und Austausch in der Städtelandschaft
des alten Reiches (1250–1550) (Beiheft zur Zeitschrift für
Historische Forschung 30), Berlin 2002, 251–288.
Adresse: Staatsarchiv Aarau, Entfeldenstrasse 22, CH-5001 Aarau. roland.gerber@ag.ch.
François Guex, Dr. phil., Archäologe des Mittelalters. Geb.
1952. Bis 1981 Studium der Kunstgeschichte, mittelalterlichen
Geschichte und Kirchengeschichte an der Universität Zürich.
1984 Promotion mit einer Arbeit über das spätmittelalterliche
Bauwesen der Stadt Zürich. 1984–1988 Leiter der archäologischen
Untersuchungen im Kloster St. Johann Müstair. 1988–2001 Kantonsarchäologe des Kantons Freiburg. Seit 2002 wissenschaftlicher
Berater beim kantonalen Amt für Kulturgüter (=Denkmalpflege)
Freiburg. 1997–2008 Vizepräsident der Eidgenössischen Kommission für Denkmalpflege. 1996–2007 Mitglied des Schweiz.
Komitees für Kulturgüterschutz, 2001–2007 als Präsident.
Auswahlbibliografie: Bruchstein, Kalk und Subventionen. Das
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Zürcher Baumeisterbuch als Quelle zum Bauwesen des 16. Jahrhunderts, Zürich 1986 – Freiburgs Brücken und Strassen im 13.
Jahrhundert. In: Freiburger Geschichtsblätter 82 (2005), 7–18.
Beiträge zu den Artikeln Freiburg (Gemeinde) und Freiburg
(Kanton) im Historischen Lexikon der Schweiz HLS (2005) –
Die Anfänge der Stadt Freiburg: Antworten und Fragen. In:
Freiburger Geschichtsblätter 85 (2008), 7–31.
Adresse: Amt für Kulturgüter, Archivweg 4, CH-1700 Freiburg.
guexg@fr.ch.
Karsten Igel, Dr. phil., Historiker. Geb. 1970. 1996–2002 Studium der Mittelalterlichen Geschichte, Neueren und Neuesten
Geschichte sowie Politikwissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. 2002 Promotion mit einer Arbeit
über die Stadtgestalt und Sozialstruktur Greifswalds um 1400.
Lehrbeauftragter in der Abteilung für Westfälische Landesgeschichte an der Universität Münster, verschiedene Projekte als
freischaffender Historiker.
Auswahlbibliografie: Von der vorkommunalen zur kommunalen Stadt. Zur frühen Stadtentwicklung Osnabrücks vom 11.
bis zum 13. Jahrhundert. In: Osnabrücker Mitteilungen 109
(2004), 27–67. – Stadt-Raum und Sozialstruktur. Überlegungen
zu Quellen, Methoden und Problemen an den Beispielen
Greifswald und Osnabrück. In: Hansische Geschichtsblätter
122 (2004), 1–53. – ... und schal by der Lowen namen blyven.
Identität und Selbstdarstellung städtischer Führungsgruppen
im spätmittelalterlichen Hanseraum im Spiegel ihrer Häuser
und Höfe. In: Sünje Prühlen/Lucie Kuhse/Jürgen Sarnowsky
(Hg.): Der Blick auf sich und die Anderen. Selbst- und Fremdbild von Frauen und Männern in Mittelalter und frühen Neuzeit. Festschrift für Klaus Arnold (Nova Mediaevalia. Quellen
und Studien zum europäischen Mittelalter 2), Göttingen 2007,
315–348. – Zwischen Bürgerhaus und Frauenhaus. Stadtgestalt, Grundbesitz und Sozialstruktur im spätmittelalterlichen
Greifswald (Städteforschung A/71), Köln/Weimar/Wien 2009.
Adresse: Moltkestr. 18, D-49076 Osnabrück. karsten.igel@unimuenster.de.
Michaela Jansen, M.A., Archäologin. Geb. 1974. 1994–2001
Studium der Frühgeschichte, Alten Geschichte und Klassischen
Archäologie in Freiburg i. Br. und Rom. 2001 Magister in Freiburg zu einem merowingerzeitlichen Gräberfeld. Arbeit an
einer Dissertation über Stadtumgestaltung im Hochmittelalter.
Grabungsleitungen in Konstanz (Baden-Württemberg), Arnheider Kapelle (Hessen), Kloster Hornbach (Rheinland-Pfalz)
und Stade (Niedersachsen).
Auswahlbibliografie: Das merowingerzeitliche Gräberfeld im
Gewann Weckersgraben in Buggingen, Kreis Breisgau-Hochschwarzwald. In: Fundberichte aus Baden-Württemberg 27
(2003), 775-915. Die Umgestaltung von Marktorten zur Stadt.
Das Beispiel Esslingen. In: Die vermessene Stadt. Mittelalterliche Stadtplanung zwischen Mythos und Befund. Mitteilungsblatt der Deutschen Gesellschaft für Archäologie des Mittelalters und der frühen Neuzeit 15 (2004), 41–46. Die Arnheider
Kapelle St. Bartholomäus im Odenwald. In: Uta von Freeden/
Herwig Friesinger/Egon Wamers (Hg.): Glaube, Kult und Herrschaft. Phänomene des Religiösen im 1. Jahrtausend in Mittelund Nordeuropa (Kolloquien zur Vor- und Frühgeschichte 12)
(im Druck). Alte Stadt - Neue Stadt. Stadtbild und Stadtwer-
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dung. In: Uwe Gross/Aline Kottmann/Jonathan Scheschkewitz
(Hg.): Frühe Pfalzen – Frühe Städte. Beiträge eines Fachkolloquiums vom 28.-29. April 2009 in Ulm (Archäologische Informationen aus Baden-Württemberg) (im Druck).
Adresse: Gartenstr. 25, 78462 Konstanz. jansen.michaela@web.de.
Bertram Jenisch, Dr. phil., Archäologe. Geb. 1962. Studium
der Vor- und Frühgeschichte, Klassischen Archäologie, Geologie und Geschichtliche Landeskunde an den Universitäten
Heidelberg, Freiburg und Tübingen. 1994 Promotion mit
einer archäologischen Arbeit über die Entstehung der Stadt
Villingen. 1991 beim Landesdenkmalamt Baden-Württemberg
mit der Denkmalerfassung archäologischer Denkmale des Mittelalters und der Neuzeit betraut, ab 1998 Bearbeitung des
Archäologischen Stadtkatasters Baden-Württemberg. Seit 2008
Referent für Mittelalterarchäologie im Referat Denkmalpflege
beim Regierungsbezirk Freiburg.
Auswahlbibliografie: Die Entstehung der Stadt Villingen. Archäologische Zeugnisse und Quellenüberlieferung (Forschungen
und Berichte zur Archäologie des Mittelalters in Baden-Württemberg 22), Stuttgart 1999. – Schwarzwälder Waldglas. Glashütten, Rohmaterial und Produkte der Glasmacherei vom
12.–19. Jahrhundert. in: Alemannisches Jahrbuch (1997/98),
437–491 (zus. m. Hansjosef Maus). – Offenburg (Archäologischer Stadtkataster Baden-Württemberg 33), Esslingen 2007
(zus. m. Andre Gutmann).
Adresse: Regierungspräsidium Freiburg, Referat Denkmalpflege
– Fachbereich Archäologie, D-79083 Freiburg i. Br. bertram.
jenisch@rpf.bwl.de.
Gerson H. Jeute, Dr. phil., Archäologe. Geb. 1974. 1994–
2004 Studium der Ur- und Frühgeschichte, Mittelalterlichen
Geschichte und Klassischen Archäologie an der HumboldtUniversität zu Berlin. 2005 Promotion mit einer Untersuchung zu mittelalterlichem Handwerk und Gewerbe im westlichen Brandenburg. 1991–2000 Mitarbeiter auf verschiedenen
Grabungen, u.a. in Stadt und Land Brandenburg, Bulgarien,
Syrien, Sudan und Polen. 1997 und 1999 Projektinitiant und
Mitorganisator eines ethnoarchäologischen Surveys in Bulgarien. 2001–2006 Grabungsleitungen in verschiedenen mittelalterlichen Stadtkernen. 2006–2008 Limnologische und taucharchäologische Untersuchungen an der Saline von Salzbrunn.
2007–2009 Aufarbeitung der Grabung Neustädtischer Markt,
Brandenburg an der Havel. Seit 1999 Durchführung von
Lehrveranstaltungen am Lehrstuhl für Ur- und Frühgeschichte, Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 2009 Stipendiat am
Römisch-Germanischen Zentralmuseum (Projekt Reiterkrieger,
Burgenbauer).
Auswahlbibliografie: Ländliches Handwerk und Gewerbe im
Mittelalter: Untersuchungen zur nichtagrarischen Produktion
im westlichen Brandenburg (Studien zur Archäologie Europas
7), Bonn 2007. – Berufs- und produktspezifische Ortsnamen aus
archäologischer Sicht. Ein Werkstattbericht. In: Gerson H. Jeute, Jens Schneeweiß, Claudia Theune (Hg.), aedificatio terrae.
Beiträge zur Umwelt- und Siedlungsarchäologie Mitteleuropas.
FS Eike Gringmuth-Dallmer (Internationale Archäologie, Studia honoraria 26), Rahden/Westf. 2007, 191-199. – Ländliche
niederadlige Burgen in Brandenburg. Methoden ihrer Erfor-
Buch SKAM 36.indd 228
Autorenverzeichnis
schung am Beispiel der Motte von Mahlenzien, Archäologie mittelalterlicher Burgen. Mitteilungsblatt der Deutschen
Gesellschaft für Archäologie des Mittelalters und der frühen
Neuzeit 20 (2008), 135–144, (zus. m. Christian Matthes).
Adresse: Humboldt-Universität zu Berlin, Lehrstuhl für Urund Frühgeschichte, Hausvogteiplatz 5–7, D-10117 Berlin.
ghjeute@t-online.de.
Clemens Joos, M.A., Historiker. Geb. 1978. 1997–2003 Studium der Geschichte und Volkskunde in Freiburg i.Br. und Innsbruck. 2003 Magister. Seit 2000 wissenschaftlicher Mitarbeiter
am Historischen Seminar der Universität Freiburg i.Br. Arbeit
an einer Dissertation über die Chronik des Freiburger Münsterkaplans Johannes Sattler.
Auswahlbibliografie: Die Rose von Eberstein. Zur Ebersteiner
Wappensage, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins
152 (2004) 145–164 – Kurt Andermann/Clemens Joos (Hg:),
Grafen und Herren in Südwestdeutschland vom 12. bis ins
17. Jahrhundert (Kraichtaler Kolloquien 5), Epfendorf 2006 –
Gelehrt sind ihre Väter und fromm. Zur Geschichte der Freiburger Kartause, in: Klaus Winkler (Hg.), 1000 Jahre Wiehre.
Ein Almanach 1008–2008, Freiburg i. Br. 2007, 71–81.
Adresse: Universität Freiburg im Breisgau, Historisches Seminar, Abteilung Landesgeschichte, Werthmannstraße 8, D-79085
Freiburg i. Br. clemens.joos@geschichte.uni-freiburg.de.
Ulrich Klein: M.A. Bauforscher und Historiker. Geb. 1956.
1975–1982 Studium der Geschichte, Vor- und Frühgeschichte,
Kunstgeschichte, Europäischen Ethnologie und Politischen
Wissenschaft in Bochum und Marburg. 1982 Magister. 1982–
1987 wissenschaftlicher Angestellter der Philipps-Universität
Marburg. Seit 1979 Mitarbeiter der Marburger Arbeitsgruppe
für Bauforschung und Dokumentation, 1985 Mitbegründer
des nachfolgenden Freien Instituts für Bauforschung und
Dokumentation e.V. (IBD). Seit 1989 Lehrtätigkeit in der
Architektenfortbildung des Deutschen Zentrums für Handwerk
und Denkmalpflege (ZHD) Fulda. Seit 2003 Gesellschafter der
nachfolgenden Propstei Johannesberg GmbH und Fortsetzung der dortigen Lehrtätigkeit. 1996–2002 Lehrbeauftragter
im Fachgebiet Denkmalpflege der RWTH Aachen. Seit 1988
Schriftführer im Vorstand des internationalen Arbeitskreises für
Hausforschung e.V. (AHF), Mitherausgeber des Jahrbuchs für
Hausforschung und der Berichte zur Haus- und Bauforschung.
Auswahlbibliografie: Das Dachwerk über dem Mittelschiff der
Marburger Elisabethkirche, in: Zur Bauforschung über Spätmittelalter und frühe Neuzeit (Berichte zur Haus- und Bauforschung 1), Marburg 1991, 149–155 (zus. m. M. Langenbrinck)
– Bauaufnahme und Dokumentation (Reihe Altbaumodernisierung), Stuttgart, München 2001. – Synagogen und Mikwen.
Die archäologische Erforschung der mittelalterlichen jüdischen
Architektur, in: Menschen–Zeiten–Räume. Archäologie in
Deutschland. Stuttgart 2002, 380–382. – Spuren von Nutzungen – Nutzungsspuren, in: Arbeitskreis für Hausforschung
(Hrsg.), Spuren der Nutzung in historischen Bauten (Jahrbuch
für Hausforschung 54), Marburg 2007, 105–114.
Adresse: Freies Institut für Bauforschung und Dokumentation e.V.,
Barfüßerstr. 2a, D-35037 Marburg. ibd-marburg@t-online.de.
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Autorenverzeichnis
Frank Löbbecke, M.A., Archäologe und Kunsthistoriker.
Geb. 1966. 1987–1992 Studium der Ur- und Frühgeschichte,
Kunstgeschichte, Mittleren und Neuen Geschichte in Göttingen und Köln. 1992 Magister an der Universität Köln. Nach
einer Anstellung beim Stadtkonservator Köln seit 2002 als freier Archäologe und Bauhistoriker in Freiburg im Breisgau tätig.
Lehrauftrag an der Universität Freiburg.
Auswahlbibliografie: Eine Bequembliche Logierung. Das Freiburger Haus «Zum Herzog» in neun Jahrhunderten (Veröffentlichungen aus dem Archiv der Stadt Freiburg 32), Freiburg
i. Br. 2001 (zus. m. Ulrike B. Gollnick). Bauarchäologische
Untersuchungen und baugeschichtliche Auswertung während
der Sanierung. In: Vom Messbild zur Bauanalyse. 25 Jahre
Photogrammetrie in Baden-Württemberg (Arbeitsheft des
Landesdenkmalamtes Baden-Württemberg 9), Stuttgart 2001,
163–173. Das Haus Zum Roten Basler Stab (Salzstraße 20) in
Freiburg im Breisgau (Forschungen und Berichte der Archäologie des Mittelalters in Baden-Württemberg), Stuttgart 2002
(zus. m. L. Galioto/M. Untermann) – Städtischer Profanbau
des Hochmittelalters. Die Entwicklung des Wohnbaus in Freiburg im Breisgau im 12. und 13. Jahrhundert. In: ARS (Journal
of the Institute of Art History of Slovak Academy of Sciences)
37 (2004), Nr. 1–2, 3–18. Der Wiederaufbau der Klosterkirche
Hersfeld im 11. und 12. Jahrhundert. Aktuelle bauarchäologische Untersuchungen in der Ostapsis. In: Centre – Region
- Periphery. Medieval Europe Basel 2002 (3. Internationaler
Kongress der Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit,
Volume 3), Hertingen 2002, 321-326. El convento de San Francisco en Panamá Viejo. In: Canto Rodado. Revista especializada en temas de patrimonio (Publicación anual del Patronato
Panamá Viejo No. 2 – Año 2007), Panamá 2007, 101-124 (zus.
m. Eduardo Tejeira Davis).
Adresse: BauKern – Architektur und Geschichte, Tuslingerstr.
12, D-79102 Freiburg i. Br. Loebbecke@baukern.de
Christoph Philipp Matt, Lic. phil., Archäologe. Geb. 1953.
1973–1980 Studium der Ur- und Frühgeschichte, Schweizer
Geschichte und Volkskunde an der Universität Basel. 1980
Lizentiat. 1982 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Römermuseum in Augst BL. 1980/81 und seit 1983 Mitarbeiter der Archäologischen Bodenforschung des Kantons Basel-Stadt. Heute
Ressortleiter Innerstadt.
Auswahlbibliografie: Die mittelalterlichen Stadtbefestigungen
am Petersgraben und die Quartiere hinter der Stadtmauer, in:
Rolf D’Aujourd’hui (Hg.), Jahresbericht Archäologische Bodenforschung Basel-Stadt 1988, Basel 1990, 60–97. – Christoph
Matt, mit maneger burc vil schone – Turmbau zu Basel?, in:
Römerstadt Augusta Raurica (Hg.), Mille Fiori. Festschrift für
Ludwig Berger (Forschungen in Augst 25), Augst 1998, 303–
311. – Zur Parzellenstruktur der Stadt Basel vor 1300, in: Rolf
d’Aujourd’hui (Hg.), Jahresbericht der Archäologischen Bodenforschung des Kantons Basel-Stadt 1996, Basel 1998, 44–57. –
Basels Befestigungen, in: Mittelalter – Moyen Age – Medioevo
– Temp medieval, Zeitschrift des Schweizerischen Burgenvereins, 9 (2004), 40–51. – Zeugnisse jüdischen Lebens aus den
mittelalterlichen Städten Zürich und Basel In: Kunst + Architektur in der Schweiz 56 (2005), 14–20 (zus. m. Dölf Wild).
Adresse: Archäologische Bodenforschung des Kantons BaselStadt, Postfach, CH-4001 Basel. christoph.matt@bs.ch.
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Darja Miheli , Prof. Dr., Historikerin. Geb. 1950. 1968–1974
Studium der Geschichte an der Universität Ljubljana. 1983 Promotion mit einer Arbeit über die nichtagrarische Wirtschaft der
Stadt Piran 1280–1340. Seit 1974 Mitarbeiterin am Historischen
Institut (des Forschungszentrums) der Slowenischen Akademie
der Wissenschaften und Künste. Seit 1984 Vorlesungen zur
Geschichte des Mittelalters an der Abteilung für Geschichte
der Philosophischen Fakultät der Universität Ljubljana. 1985
Dozentin für die Geschichte der Slowenen bis Ende des 18.
Jahrhunderts, 1990 ausserordentliche Professorin, 1995 ordentliche Professorin. Seit 1994 Vertreterin Sloweniens in der Internationalen Kommission für Stadtgeschichte (Commission pour
l’histoire des villes), seit 2002 Ausschussmitglied. Vertreterin
Sloweniens im 1995 gegründeten Vollzugsausschuss der Internationalen Vereinigung für die Geschichte der Alpen (Comité
de l’Association internationale pour l’histoire des Alpes).
Auswahlbibliografie: Neagrarno gospodarstvo Pirana od 1280 do
1340 (La produzione non rurale di Pirano dal 1280 al 1340)
(Dela, Slovenska akademija znanosti in umetnosti, Razred za
zgodovinske in družbene vede [Opera, Academia scientiarum
et artium Slovenica], Classis I: Historia et sociologia, 27), Ljubljana, 1985. – Etni na podoba Karantanije in njenih prebivalcev
v spisih zgodovinopiscev od 15. do 18. stoletja [Das ethnische
Erscheinungsbild von Karantanien und seinen Einwohnern in
Werken der Geschichtsschreiber des 15. bis 18. Jahrhunderts],
in: Rajko Bratož (Hg.), Slovenija in sosednje dežele med antiko
in karolinško dobo, Za etki slovenske etnogeneze [Slowenien
und die Nachbarländer zwischen Antike und karolingischer
Epoche, Anfänge der slowenischen Ethnogenese] (Situla, 39),
(Razprave, 18), Ljubljana 2000, 839–961. – Piranska notarska
knjiga (1298–1317), etrti zvezek [The Notary Book from Piran
(1298–1317)], vol. 4. (Thesaurus memoriae, Fontes 4), Ljubljana 2006. – Ribi , kje zdaj tvoja barka plava? Piransko ribolovno obmo je skozi as [Fischerman, where does your boat sail
now? The Piran fisching zone over time] (Knjižnica Annales
47), Koper 2007.
Adresse: Zgodovinski inštitut Milka Kosa ZRC SAZU, Novi trg
2, p. p. 306, SI-1000 Ljubljana. mihelic@zrc-sazu.si.
Isabelle Schürch, Lic. phil., Historikerin. Geb. 1981. 2001–
2008 Studium der Geschichte, der Englischen Literatur und der
Sozialpsychologie an der Universität Bern. 2008 Lizentiat mit
einer Arbeit über die Finanzierung des Berner Münsters im 15.
Jahrhundert. Seit 2008: Assistentin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Seminar, Fachbereich Mittelalter,
der Universität Zürich.
Adresse: Historisches Seminar der Universität Zürich, Karl
Schmid-Strasse 4, CH-8006 Zürich. isabelle.schuerch@hist.
uzh.ch
Martina Stercken, Prof. Dr., Historikerin, Promotion an der
Universität Bonn (WS 1987/88); Habilitation an der Universität Zürich (WS 2002/03). Mitglied der Leitung des Nationalen
Forschungsschwerpunkts (NFS) «Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen. Historische Perspektiven» an der
Universität Zürich. Mitglied verschiedener stadtgeschichtlicher
Vereinigungen, u. a. der Commission Internationale pour
l’Histoire des Villes und des Schweizerischen Arbeitskreises für
Stadtgeschichte.
Auswahlbibliografie: Städte der Herrschaft. Kleinstadtgenese im
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230
habsburgischen Herrschaftsraum des 13. und 14. Jahrhunderts
(Städteforschung A 68), Köln/Wien 2006 – Gebaute Ordnung.
Stadtvorstellungen und Planung im Mittelalter, in: B. Fritzsche,
H.-J. Gilomen u. M. Stercken (Hgg.), Stadtplanung – Planstädte), Zürich 2006, S. 15-23 – Inszenierung bürgerlichen Selbstverständnisses und städtischer Herrschaft, in: Stadtbilder der Neuzeit, hrsg. v. B. Roeck (Stadt in der Geschichte 32), Sigmaringen
2006, S. 105-122 – Herrschaftsinstrument, Statussymbol und
Legitimation. Gebrauchsformen habsburgischer Privilegien im
13. und 14. Jahrhundert, in: Hans-Joachim Schmidt (Hg.), Stadtgründung und Stadtplanung. Mythos und Realität, Fribourg
2009, S. 243-265. vgl.http://www.hist.uzh.ch/lehre/mittelalter/
stercken.html.
Adresse: Universität Zürich, Historisches Seminar, Nationaler
Forschungsschwerpunkt (NFS). Medienwandel-MedienwechselMedienwissen, Historische Perspektiven, Rämistr. 69, CH-8006
Zürich. stercken@hist.uzh.ch.
Katalin Szende, Katalin Szende, PhD, Historikerin. Geb. 1965.
1983–1989 Studium der Geschichte, Archäologie und klassische
Philologie an der Eötvös Loránd-Universität in Budapest. 2000
Promotion ebenda mit einer Untersuchung zu spätmittelalterlichen Bürgertestamenten aus Ungarn, 1989–1998 Mitarbeiter des Stadtmuseums Sopron (Westungarn), 1998–1999 des
Ungarischen Staatsarchivs, 1999 bis heute Associate Professor
am Lehrstuhl für Mediävistik der Central European University,
Budapest. Seit 2002 Vertreterin Ungarns in der Internationalen
Kommission für Stadtgeschichte, seit 2006 Ausschussmitglied,
Herausgeberin der in Vorbereitung stehenden ungarischen Städteatlanten.
Auswahlbibliografie: Medieval Archaeology and Urban History
in some European Countries. In: Urban History. The Norwegian Tradition in a European Context, ed. Steinar Supphellen (Trondheim Studies in History No. 25), Trondheim 1998,
111–132. – Otthon a városban. társadalom és anyagi kultúra
a középkori Sopronban, Pozsonyban és Eperjesen. [Zu Hause
in der Stadt. Gesellschaft und materielle Kultur im spätmittelalterlichen Ödenburg, Pressburg und Eperjes] (Társadalom- és
Müvelödéstörténeti Tanulmányok 32) Budapest: MTA Történettudományi Intézete, 2004. – Hospitals in Medieval and Early
Modern Hungary. In: Martin Scheutz/Andrea Sommerlechner/
Herwig Weigl/Alfred Stefan Weiß (Hg.), Europäisches Spitalwesen. Institutionelle Fürsorge in Mittelalter und Früher Neuzeit.
Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsband 51. Wien/München 2008, 409–454.
(zus. m. Judit Majorossy) – Integration through Language. The
Multilingual Character of Late Medieval Hungarian Towns. In:
Derek Keene/Balázs Nagy/Katalin Szende (Hg.), Segregation –
Integration – Assimilation. Religious and Ethnic Groups in the
Medieval Towns of Central and Eastern Europe. Farnham 2009,
205–234.
Adresse: Central European University, Department of Medieval
Studies, Nádor u. 9, H-1051 Budapest. szendek@ceu.hu.
Autorenverzeichnis
1969–1978 Studium der Allgemeinen Geschichte, Schweizergeschichte, Ur- und Frühgeschichte und Volkskunde an der
Universität Basel. 1979 Promotion mit einer archäologischen
Arbeit über Herd und Ofen im Mittelalter. Seit 1971 Arbeit am
Kantonsmuseum und bei der Kantonsarchäologie Baselland.
1979–1995 Co-Leitung des Amtes für Museen und Archäologie
BL. 1995–2009 Leiter der Hauptabteilung Archäologie und Kantonsmuseum des Amtes für Kultur, gleichzeitig Kantonsarchäologe.
Auswahlbibliografie: Aspekte zu Möglichkeiten und Grenzen
einer Archäologie des Mittelalters. In: Jürg Tauber (Hg.), Methoden und Perspektiven der Archäologie des Mittelalters (Archäologie und Museum 20), Liestal 1991, 7–30. – Archäologie und
Geschichte. Zur Frage der Rolle von Königtum und Hochadel in
der mittelalterlichen Siedlungsgeschichte der Nordwestschweiz.
In: Michael Schmaedecke (Bearb.), Ländliche Siedlungen zwischen Spätantike und Mittelalter (Archäologie und Museum 33),
Liestal 1995, 57–67. – Archäologische Funde und ihre Interpretation. In: Realienforschung und historische Quellen. Ein Symposium im Staatlichen Museum für Naturkunde und Vorgeschichte Oldenburg vom 30. Juni bis zum 1. Juli 1995. Festschrift für
Helmut Ottenjahn (Archäologische Mitteilungen aus Nordwestdeutschland, Beiheft 15), Oldenburg 1996, 171–188. – Beharrung und Wandel im Siedlungsbild der Nordwestschweiz von
der Spätantike bis zur Frühen Neuzeit. In: Siedlungsforschung.
Archäologie – Geschichte – Geographie 17 (1999), 161–180. –
Im Zeichen der Kirche. Das frühe Bistum Basel. Archäologie und
Geschichte. In: Jean-Claude Rebetez (Hg.), Pro Deo. Das Bistum
Basel vom 4. bis ins 16. jahrhundert, Delsberg 2006, 29–87 (zus.
m. Reto Marti).
Adresse: Hauptabteilung Archäologie und Museum, Amtshausgasse 7, CH-4410 Liestal. juerg.tauber@magnet.ch.
Kathrin Utz Tremp, PD Dr. phil., Historikerin. Geb. 1950.
1969–1976 Studium der Mittelalterlichen Geschichte an den
Universitäten Bern, München, Lausanne und Freiburg. 1982
Promotion in Freiburg mit einer Arbeit über das Kollegiatstift
St. Vinzenz in Bern. 1991–1995 Oberassistentin am historischen
Institut der Universität Lausanne. Seit 2000 Privatdozentin in
Lausanne. Seit 1999 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Staatsarchiv Freiburg.
Auswahlbibliografie: Das Kollegiatstift St. Vinzenz in Bern. Von
der Gründung 1484/85 bis zur Aufhebung 1528 (Archiv des
historischen Vereins des Kantons Bern 67), Bern 1985. – Quellen
zur Geschichte der Waldenser von Freiburg im Üchtland (Monumenta Germaniae Historica, Quellen zur Geistesgeschichte des
Mittelalters 18). – Inquisition et sorcellerie en Suisse romande.
Le registre Ac 29 des Archives cantonales vaudoises (Cahiers
lausannois d’histoire médiévale 41), Lausanne 2007 (zus. m.
Martine Ostorero). – Von der Häresie zur Hexerei. Wirkliche
und imaginäre Sekten im Spätmittelalter (Monumenta Germaniae Historica, Schriften), Hannover 2008.
Adresse: rue Joseph-Reichlen 8, 1700 Fribourg. utztrempk@fr.ch.
Jürg Tauber, Dr. phil., Historiker und Archäologe. Geb. 1949.
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Schweizer Beiträge zur Kulturgeschichte und Archäologie des Mittelalters (SBKAM)
Band 1, 1974
Werner Meyer, Alt-Wartburg im Kanton Aargau.
Band 2, 1975 (vergriffen)
Jürg Ewald (u. a.), Die Burgruine Scheidegg bei Gelterkinden.
Band 3, 1976 (vergriffen)
Werner Meyer (u. a.), Das Castel Grande in Bellinzona.
Band 4, 1977 (vergriffen)
Maria-Letizia Boscardin, Werner Meyer, Burgenforschung
in Graubünden, Die Grottenburg Fracstein und ihre Ritzzeichnungen. Die Ausgrabungen der Burg Schiedberg.
Band 11, 1984
Werner Meyer (u. a.), Die bösen Türnli. Archäologische
Beiträge zur Burgenforschung in der Urschweiz.
Band 12, 1986 (vergriffen)
Lukas Högl (u. a.), Burgen im Fels. Eine Untersuchung
der mittelalterlichen Höhlen-, Grotten- und Balmburgen
in der Schweiz.
Band 13, 1987
Dorothee Rippmann (u. a.), Basel Barfüsserkirche. Grabungen 1975–1977.
Band 14/15, 1988
Peter Degen (u. a.), Die Grottenburg Riedfluh Eptingen BL.
Band 5, 1978 (vergriffen)
Burgen aus Holz und Stein, Burgenkundliches Kolloquium Basel 1977 – 50 Jahre Schweizerischer Burgenverein.
Beiträge von Walter Janssen, Werner Meyer, Olaf Olsen,
Jacques Renaud, Hugo Schneider, Karl W. Struwe.
Band 16, 1989 (vergriffen)
Werner Meyer (u. a.), Die Frohburg. Ausgrabungen 1973–
1977.
Band 6, 1979 (vergriffen)
Hugo Schneider, Die Burgruine Alt-Regensberg im Kanton Zürich.
Band 17, 1991
Pfostenbau und Grubenhaus – Zwei frühe Burgplätze in
der Schweiz. Hugo Schneider, Stammheimerberg ZH.
Bericht über die Forschungen 1974–1977. Werner Meyer,
Salbüel LU. Bericht über die Forschungen von 1982.
Band 7, 1980 (vergriffen)
Jürg Tauber, Herd und Ofen im Mittelalter. Untersuchungen zur Kulturgeschichte am archäologischen Material
vornehmlich der Nordwestschweiz (9.–14. Jahrhundert).
Band 8, 1981 (vergriffen)
Die Grafen von Kyburg. Tagung 1980 in Winterthur.
Band 9/10, 1982
Jürg Schneider (u. a.), Der Münsterhof in Zürich. Bericht
über die vom städtischen Büro für Archäologie durchgeführten Stadtkernforschungen 1977/78.
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Band 18/19, 1992
Jürg Manser (u. a.), Richtstätte und Wasenplatz in
Emmenbrücke (16.–19. Jahrhundert). Archäologische
und historische Untersuchungen zur Geschichte von
Strafrechtspflege und Tierhaltung in Luzern.
Band 20/21, 1993/94
Georges Descœudres (u. a.), Sterben in Schwyz. Berharrung und Wandel im Totenbrauchtum einer ländlichen Siedlung vom Spätmittelalter bis in die Neuzeit.
Geschichte – Archäologie – Anthropologie.
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Band 22, 1995
Daniel Reicke, «von starken und grossen flüejen». Eine
Untersuchung zu Megalith- und Buckelquader-Mauerwerk an Burgtürmen im Gebiet zwischen Alpen und
Rhein.
Band 23/24, 1996/97
Werner Meyer (u. a.), Heidenhüttli. 25 Jahre archäologische
Wüstungsforschung im schweizerischen Alpenraum.
Band 25, l998
Christian Bader, Burgruine Wulp bei Küsnacht ZH.
Band 26, 1999
Bernd Zimmermann, Mittelalterliche Geschossspitzen.
Typologie – Chronologie – Metallurgie.
Band 27, 2000
Thomas Bitterli/Daniel Grütter, Burg Alt-Wädenswil.
Vom Freiherrenturm zur Ordensburg.
Band 28, 2001
Burg Zug. Archäologie – Baugeschichte – Restaurierung.
Band 29, 2002
Wider das «finstere Mittelalter» – Festschrift Werner
Meyer zum 65. Geburtstag.
Band 30, 2003
Armand Baeriswyl, Stadt, Vorstadt und Stadterweiterung
im Mittelalter. Archäologische und historische Studien
zum Wachstum der drei Zähringerstädte Burgdorf, Bern
und Freiburg im Breisgau.
Buch SKAM 36.indd 232
Band 31, 2004
Gesicherte Ruine oder ruinierte Burg? Erhalten – Instandstellen – Nutzen.
Band 32, 2005
Jakob Obrecht/Christoph Reding/Achilles Weishaupt,
Burgen in Appenzell. Ein historischer Überblick und
Berichte zu den archäologischen Ausgrabungen auf
Schönenbühl und Clanx.
Band 33, 2006
Reto Dubler/Christine Keller/Markus Stromer/Renata
Windler, Vom Dübelstein zur Waldmannsburg. Adelssitz, Gedächtnisort und Forschungsprojekt.
Band 34, 2007
Georges Descœudres, Herrenhäuser aus Holz. Eine mittelalterliche Wohnbaugruppe in der Innerschweiz.
Band 35, 2008
Thomas Reitmaier, Vorindustrielle Lastsegelschiffe in der
Schweiz.
Band 36, 2009
Armand Baeriswyl/Georges Descœudres/Martina Stercken/Dölf Wild (Hg.), Die mittelalterliche Stadt erforschen – Archäologie und Geschichte im Dialog. Beiträge
der Tagung «Geschichte und Archäologie: Disziplinäre
Interferenzen» vom 7. bis 9. Februar 2008 in Zürich.
14.11.2009 14:55:13 Uhr