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Geleitwort Wie viele Sprachen gibt es auf unserer Erde? Wie verschieden sind sie voneinander? Wie hängen sie miteinander zusammen, wie beeinflussen sie sich gegenseitig, wie sind sie miteinander verwandt ‐ und was heißt "verwandt" bei Sprachen überhaupt? Solche und ähnliche Fragen mögen sich viele im Laufe ihres Lebens gelegentlich gestellt haben, manche werden versucht haben, Literatur zu finden, die ihnen hier weiterhilft, oft jedoch vergeblich, besonders wenn sie auf dem deutschsprachigen Buchmarkt nach Antworten suchten. Unsere Schulen, das darf wohl gesagt werden, bereiten heute niemanden auf diese oder ähnliche Fragen zur Sprachenvielfalt auf unserem Planeten vor; zwar gelten praktische Fremdsprachenkenntnisse als sehr wichtig, die Betrachtung mehrerer oder gar vieler Sprachen als Gegenstand forschender Tätigkeit, die die eingangs gestellten Fragen einer Antwort (die, wie bei jeder Wissenschaft, natürlich immer vorläufigen Charakter haben muss) näher bringen könnte, begegnet, wenn überhaupt, nur sehr wenigen auch nur als Möglichkeit ‐ schon das Wissen um die gegenseitige Verwandtschaft der indogermanischen Sprachen, zu denen das Deutsche und alle üblichen Schulsprachen gehören, gilt heute als exotische Spezialkenntnis. Und selbst hochgebildete Menschen dürften nur in Ausnahmefällen etwas von Dravidischen, Paläoasiatischen, Altaischen, Nilosaharanischen oder gar von Hmong‐Mien‐ Sprachen gehört haben ‐ dennoch sind dies die Bausteine der menschlichen und kulturellen Diversität unserer Welt. Zwar gibt es, überall auf der Welt, Sprachwissenschaftler, die sich gerade die Beantwortung unserer Eingangsfragen zur Lebensaufgabe gemacht haben, aber ihre ernsthafte und schwierige Arbeit bleibt oft, naturgemäß, auf einige geographische Bereiche beschränkt, wo sie noch dazu fast unter Ausschluss der allgemeinen Öffentlichkeit stattfindet ‐ wenn man von gelegentlichen Sommerlochpressemeldungen absieht, in denen wieder einmal der Ursprung des Baskischen im Japanischen oder die Rekonstruktion der endgültigen Ursprache der Menschheit als finaler Durchbruch gemeldet wird. Allgemeinverständliche Einführungen in die Wissenschaft von der Diversität menschlicher Sprachen fehlen fast völlig, ein Werk wie das hier von Ernst Kausen vorgelegte ist daher nicht nur in deutscher Sprache einzigartig. Leser erfahren hier nicht nur, wie sich die Sprachen der Welt über unsere fünf Kontinente verteilen (und wie sie alle heißen), sie erfahren, wie, und vor allem warum Wissenschaftler sie in diese (und nicht etwa andere) Familien unterteilen. Dabei kann es nicht ausbleiben, dass auch umstrittene (und manchmal auch, gelinde gesagt, gewagte) Hypothesen zur Sprache kommen. Eine der großen Stärken dieses Werkes ist das souveräne Urteilsvermögen, mit dem Ernst Kausen es versteht, hier die Spreu vom Weizen zu trennen und seine Leser durch den Streit der Meinungen führt. Aber auch die andere große Frage, die nach den Möglichkeiten der Verschiedenheit menschlicher Sprachen, steht im Mittelpunkt dieser Bände. Eine Fülle konziser und äußerst klarer Sprachskizzen zeigt uns, wie Sprachen funktionieren können und welche Mittel sie einsetzen, um sich über die Welt zu verständigen. Wir erhalten klare Einblicke in Sprachen, die ganz ohne Morphologie auskommen, wie etwa das Vietnamesische, aber auch in Sprachen, deren Formenvielfalt Mitteleuropäern schier unglaublich vorkommen mögen, wie etwa das Kanuri in Nigeria oder das Sumerische (ja, selbstverständlich sind auch alle bekannten ausgestorbenen Sprachen hier berücksichtigt). Sicherlich verlangt die Lektüre gerade der Sprachskizzen dem Leser einiges an geistiger Mitarbeit ab ‐ aber bei welchem wissenschaftlichen Gegenstand wäre dies anders? Jeder, der diese Mühe ‐ bei der Ernst Kausen uns stets mit umfangreichen Erläuterungen und vorbildlichen allgemeinen Einführungskapiteln zur Seite steht ‐ auf sich nimmt, wird jedoch dafür mit Einblicken in eine Welt belohnt, die wohl niemand besser charakterisiert hat, als der früh verstorbene Baskologe Larry Trask: one of the most important and fascinating topics you could ever hope to encounter: human language. Ernst Kausen, dies wird auf jeder Seite dieser Bände deutlich, ist von dieser Faszination inspiriert. Wenn dazu, wie hier, der unbedingte Wille zur Wissenschaftlichkeit, vom vernünftigen Reden über die Dinge, tritt, der freischwebende Spekulation ebenso scheut wie eine übermäßige Sprache, dann ist das Ergebnis ein Handbuch, das seinesgleichen sucht und auf lange Sicht unersetzbar bleiben wird. Stefan Georg